Nr. 10

Die Gleichheit

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Fürsorge für Mutter und Kind.

Von der Sänglingsfürsorge. In den Süddeutschen Monats­beften schrieb unlängst Rudolf Hecker: Mit dem Wert, den wir bem Säuglingsleben beimessen, steigt auch die Wertschäzung des Menschen überhaupt. Es find doch merkwürdige Gegenfäße: auf ber einen Seite wird der Kindesmord, der Versuch dazu, ebenso mie die Unterdrückung des keimenden Lebens vom Staate als schweres Verbrechen geahndet; auf der anderen Seite sieht aber dieser Staat rubig zu, wie täglich Hetatomben seiner Kinder in fahrlässiger Weise dahin geopfert werden. Die Fahrlässigkeit liegt nicht etwa allein bei den Eltern, fie liegt vielmehr beim Staat, der solches geschehen läßt und dabei wissen muß und kann, wie es zu ändern wäre." Das stimmt und ist nicht neu. Die Preffe der Satten bemüht sich trozdem, den Nachweis zu erbringen, daß der Staat sich doch nicht so müßig verhalte, wie die bösen Kritiker behaupten. Der Staat sei bemüht", nach Kräften zu helfen! In Deutschland   tue er das durch Erlasse"," Berords nungen" usw. Sehen wir zu, wie es damit in Wirklichkeit steht.

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Die Zeitschrift für Soziale Medizin" bringt in ihrem neuesten Hefte einen lesenswerten Auffah: Aus der Säuglingsfürsorge­bewegung". Unter ,, I. Gefeßgebung" finden wir nur zwei Bundes staaten verzeichnet- Bayern   und Württemberg  -, welche in ihren Landtagen sich mit dieser wichtigen Frage beschäftigt haben. In demselben Hefte der genannten Zeitschrift erklärt der Dresdener  Arzt Dr. Rösle: Wir finden die geringste Säuglingssterblichkeit in bem nordwestlichen Gürtel von Europa  , der sich von Finnland   bis Frankreich   und der Schweiz   um Deutschland   herum erstreckt. In Deutschland   selbst treffen wir noch immer die Haupt­herde der Säuglingssterblichkeit in Sachsen   und Süddeutsch land." Die sächsischen Reaktionäre haben keine Zeit, sich mit solchen Nebenfragen" zu beschäftigen, fie müssen auf die politische Knebes lung der Massen mittels eines standalösen Wahlrechts bedacht sein. Die Bayern   zeigten wenigstens den guten Willen! Der Lands tag," heißt es im Bericht, hat für Zwecke der Säuglingsfürsorge 50 000 Mt. für jedes Jahr der 29. Finanzperiode bewilligt, um Ges meinden und Vereinen Unterstützungen zu gewähren." Von Württem­ berg   wird gemeldet: Ein Gesetzentwurf betreffend die Kost- und Pflegefinder ist während der Sommerfeffion 1908 von der Ersten und Zweiten Kammer beraten und in der Fassung der Kommission mit Berücksichtigung verschiedener Anträge angenommen worden." Der preußische Staat hilft sich mit Verordnungen", um den Landtag nicht zu belästigen". Es wird deshalb die langatmige, schwer verständliche Verordnung des Berliner Polizeipräsidenten vom 10. Juni 1907 über das Haltekinderwesen" abgedruckt. Was will die Polizei? Wer Kinder unter sechs Jahren in Rost und Pflege nehmen will, muß dies der Polizei melden! Melden, melden", tönt es aus jedem Paragraph. Das ist alles! Eifriger" war der Minister des Innern, welcher- wie die Gleichheit" be­reits berichtet hat die Berliner   Vorortgemeinden durch den Regierungspräsidenten auffordern ließ: auf die Errichtung von Stillstuben in den weibliche Arbeiter beschäftigenden in­dustriellen Unternehmen hinzuwirken"! Donnerwetter! Was werden sich die Unternehmer jetzt beeilen!

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Auch der Minister, welcher die nahe verwandten" geistlichen und Medizinalangelegenheiten" mit viel Ungeschick zu fördern sucht, hat fich zu einem langen und langweiligen Erlaß an die Regierungs­präsidenten aufgeschwungen. Es wird darin an frühere Erlasse feines Amtsvorgängers erinnert, die natürlich kein Mensch beachtet hat, und dann das Zusammenarbeiten" aller Behörden mit den Bereinen oder Organisationen der Volkswohlfahrt gefordert. Die Merkblätter über die sachgemäße Ernährung und Pflege der Säug linge sollen weiter durch die Standesbeamten, Vereine usw. verteilt werden, Arzte, Hebammen usw. sind angehalten, mündliche Belehrung zu geben. Für die ländlichen Kreise empfehle sich ber im Kreise Westerburg beschrittene Weg: den Hebammenstand an der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit unmittelbar zu be teiligen. Dort werde für jede Gemeinde alljährlich eine Nach weisung der sämtlichen neugeborenen Kinder aufgestellt, die außer den Personalien noch angibt: die Ernährungsweise der Kinder, die Dauer der natürlichen oder die der gemischten Ernährung, den Zeitpunkt der Entwöhnung sowie die Todesfälle unter Bezeichnung der Zeit und Ursachen. Die Heb­ammen haben die Listen zu führen und am Jahresschluß dem Landrat vorzulegen. Die Listen werden da geprüft, ergänzt und dann an die Hebammen behufs Eintragung der Sterbefälle bis zur Vollendung des zweiten Jahres der Kinder zurückgegeben. Gine Reichsstatistik dieser Art wäre natürlich recht wertvoll. Sehr interessant ist die folgende Feststellung des Ministers: Bezüglich der Ernäh

rung der Kinder, besonders auf dem Lande, ist neuerdings von vers schiedenen Seiten darauf aufmerksam gemacht, daß sich mit der Zunahme der Molkereien ein Rückgang in der Ernährung und in der körperlichen Entwicklung der ländlichen Bevölkerung anbahne, da durch den Verkauf der verfügbaren Vollmilch das Milchbedürfnis des eigenen Haushaltes nicht mehr ausreichend berücksichtigt und der Genuß gehaltsarmer Magermilch oder minderwertiger Surrogate ge fördert werde." Daß in Zusammenhang mit dieser Erscheinung die Wehrkraft des Bolles" abnimmt, wie die Erfahrungen der Schweiz  zeigen, wird besonders betont. Es sollen deshalb Erfahrungen ge­sammelt werden, ob tatsächlich eine Herabseßung der förperlichen Entwicklung der Landbevölkerung beobachtet worden ist und ob dieselbe mit der etwaigen Abnahme der Milch- und Butternahrung in Verbindung gebracht werden kann". Wer soll diese Erfahrungen sammeln? Außer den Kreisärzten, Hebammen, Bürgermeistern auch die Geistlichen!

Es wird diesen Helfern" ans Herz gelegt, der Geburts- und Wochenbetthygiene, der Wiedereinführung des Stillgeschäftes und dem Schuße der stillenden Mutter die größte Aufmerksamkeit zu schenken, weil die Sterblichkeit der Säuglinge in den ersten Wochen und Monaten des Lebens, und hier wieder besonders bei den künstlich ernährten Kindern am größten ist". Und diesen armen Würmern verteuert man auch noch die Milch! Ist es nicht eine Heuchelei, wenn man weiter liest: Von besonderer Bedeutung für Geburt, Wochenbett und günstige Gestaltung des Stillgeschäftes ist es, daß die Mutter sich schon vor der Entbindung von den körperlichen Anstrengungen des Erwerbslebens in angemessenen Zeitabständen fernhält und nach der Entbindung die für die Wöchnerinnen und Stillmütter nötige Schonung erfährt. Es ist deshalb anzustreben, daß in den industriellen Anlagen, die Frauen beschäftigen, Ein. richtungen getroffen werden, den Müttern durch eine aus reichende Ruhezeit und Unterstügung vor der Entbindung, durch Verlängerung der Schonzeit nach der Niederkunft, durch Einrich tungen von Stillzimmern und ähnlichen Veranstaltungen eine noch über den geseglichen Schuß hinausgehende Fürsorge zu ges währen." Damit gibt der Minister zu, daß der gefeßliche Schuh" nicht ausreichend ist! Von den Besizern industrieller Anlagen er wartet er offenbar, daß sie auf einmal human geworden seien und freiwillig noch mehr gewähren würden als das, was sie bis jetzt noch gar nicht beachtet haben! Das ist ja zum Heulen schön".

Weil der Staat nicht helfen will und nur papierene Verordnungen erlassen kann, so soll die Kommune heljen, denn der Minister empfiehlt Fürsorgestellen und Schaffung tommunaler Milchämter!

Doch halt! Wir dürfen dem Vater Staat nicht unrecht tun. E3 ist noch eine Verfügung" des Kriegsministers da, nach welcher ,, den in den Militärwerkstätten in Spandau   beschäftigten Arbeite rinnen, die stillende Mütter sind, mittags Urlaub bis zu drei Stunden ohne Lohnabzug gewährt wird, um sich zu ihren im Säuglingsheim in Pflege befindlichen Kindern begeben zu können!" Das ist aber auch alles! Es werden dann die kommunalen Maß­nahmen einzeln aufgezählt. Mutterberatungs-, Säuglingsfürsorge­stellen und Stillunterstügungen wurden eingerichtet respektive ge währt in Aachen  , Berlin  , Braunschweig  , Charlottenburg  , Dresden  , Erfurt  , Frankfurt   a. M., Freiburg  , Görlig, Gronau  , Kalt, Kiel  , Köln   a. Rh., Landshut  , München   usw. Wie diese Einrichtungen funktionieren und benutzt werden, darüber werden uns wohl die Genossinnen dieser Orte bald näheren Ausschluß geben. Jedenfalls bleibt es dabei, daß der Staat selbst für Säuglingsfürsorge wenig oder gar nichts übrig hat. Verfügungen und Erlasse sind sehr billig! E. G.

Sozialistische Frauenbewegung im Ausland.

I. K. Die Jahreskonferenz der englischen Liga für Frauen arbeit. Die englische Liga für Frauenarbeit( Woman's Labour League), die 1906 von Genossinnen gegründet worden ist, hat fürz­lich gleichsam als Einleitung zu dem Parteitag der englischen Arbeiterpartei ihre Jahreskonferenz in Portsmouth   abgehalten. Mehr als vierzig Ortsgruppen waren durch Delegierte vertreten, und die Tagung bedeutet in jeder Beziehung einen großen Forts schritt über die des letzten Jahres. In der Eröffnungsfizung wurde von der Vorsitzenden, Genossin Bondfield, wie einigen Delegierten stark die vorliegende Notwendigkeit betont, für bessere Arbeits­bedingungen der erwerbstätigen Frauen und staatliche Mutterschafts. fürsorge zu fämpfen. Erster Verhandlungsgegenstand war die Frage der Arbeitslosigkeit. Der Vorstand der Liga hatte eine Protest­resolution vorgelegt, welche dagegen protestierte, daß das Ministerium für Angelegenheiten der Lokalverwaltung( Local Government Board) sich hartnäckig weigert, die Entwicklung der Werkstätten für arbeits­