170 Die Gleichheit Nr. 11 beiden ältesten Geschwistern zweckloZ dünkte. Zwei der jüngeren Geschwister waren bei Verwandten und zwei im Waisenhaus unter- gebracht worden. Meine Schwester und ich suchten uns wieder Stellung. Das Hausgerät wurde verkauft. Wir hatten kerne Heimat mehr. Tlts ich wieder unter Fremden und für Fremde arbeitete. wurde ich mit einer mutterlosen Waise bekannt, die mit mir im gleichen Hause diente. Unser gleiches Schicksal führte schnell unsere Herzen zusammen. Heule, nach bald zwei Jahren, ist mir diese Schicksalsgenossin Freundin, Vater und Mutter, kurz alles geworden. Ihr verdanke ich auch, daß ich seit fast anderthalb Jahren Mitglied des Hamburger Dienslbotenvereins bin, von dessen Existenz ich bis dahin keine Ahnung hatte. Das Band der Liebe und der gleichen Interessen, das Zusammengehörigkeitsgesühl, das uns Mitglieder zusammenhält— der Verein zählt deren bereits mehrere Tausend, läßt mich oft beschämt an die verstrichene Zeit zurückdenken, als mir mein Leben zwecklos vorkam, als ich mich für überflüssig hielt, weil ich allein dastand und nicht einmal meinen kleinen Geschwistern Helferin und Erzieherin sein konnte. Voll eifriger Lernbegierde habe ich ausgiebig die unseren Vereinsmitgliedern zu freier Benutzung offenstehende Bibliothek des Gewerkschastskartells benutzt. Je mehr ich mich in die Lehren unserer Weltanschauung, des Sozialismus, vertiefe, um so glühender wird in mir der Wunsch, in erster Linie meinen armen gedrückten Mitschwestern zu helfen. Seit kurzem bin ich auch Mitglied der sozialdemokratischen Partei geworden. Leider muß ich das alles vor meiner Dame verheimlichen. Wenn diese von meinen Ansichten und Bestrebungen etwas wüßte, so würde sie sich, streng lirchengläubig wie sie ist, ehrlich um mich, das verlorene Schäflein, härmen. Da ich aber sehr großes Ver- trauen und viel Freiheit bei ihr genieße, fällt es mir nicht schwer, zu tun, was ich für Pflicht halte. Meine größte Freude finde ich darin, unserem Verein neue Mitglieder zu gewinnen. Ich sehe ein Ziel vor mir, dem ich begeistert diene. Darum sage ich trotz aller Trauer und Bitternisse:„Das Leben ist doch schön!" Ein Hamburger Dienstmädchen. Aus der Bewegung. Von der Agitation, liber das Thema:„MX) Millionen neue Steuern" referierte in der letzten Hälfte des Dezember die Unter- zeichnete in Versammlungen zu Teuchern (Altenburg ) und Hartha (Sachsen ), die von den Parteiorganisationen einberufen worden und trotz des nahen Weihnachtsfestes außerordentlich gut besucht waren. Das gilt namentlich von der in Teuchern , wo Bergarbeiter als Versammlungsbesucher in Frage kamen. Ein Zechenbesitzer halte am Tage der Versammlung eine Christbescherung veranstaltet, zu der die Birgarbeiterfamilien eingeladen worden waren. Anscheinend sind sich die Arbeiter und Arbeilerinnen, die der Einladung folgte», noch nicht darüber klar, daß eine solche Weihnachtsbescherung nichts weiter ist als ein Almosen, das ihnen von ihrem Ausbeuter gegeben, von ihnen selbst aber bezahlt wird. Die Versammelten gedachten der 367 in Radbod getöteten Brüder und traten in großer Zahl der Organisation bei, um mit ihrer Hilfe zu erkämpfen, was schon die Toten gefordert haben. Die Versamm- lung in Hartha galt hauptsächlich den Tabakarbeitern, von denen aber leider nur wenige erschienen. Das ist um so bedauer- licher, als die Heimarbeit als Frauen- und Kinderarbeit in der Tabakindustrie am Orte in voller Blüte stehen, über„Die Wirt- schaftskrisen und ihre Folgen" referierte die Unterzeichnete in einer Versammlung für den Fabrikarbeiterverband zu Riesa . an der erfreulicherweise viele Arbeiterinnen der Zündhölzer- fabrik teilnahmen, und in einer Versammlung für den Textil« arbeiterverband in Weigsdorf-Kunerswalde, deren Besuch zu wünschen übrig ließ. Die Krise zeitigt in diesen Orten wie allerwärts ihre Folgen: Arbeitszeitverkürzung und Lohnabzüge sind an der Tagesordnung. Im Januar d. I. fanden für die Fabrik- arbeit er in Gauernitz und Köditz (Koswig) Versammlungen statt, für die Textilarbeiter in Opp ach und für die Blumen- arbeiter in Dresden und Mügeln . Außergewöhnlich gut besucht war ein« Versammlung in Bitterfeld , die das Ge« werkschafts kartell einberufen hatte. Nach der Versammlung in Oppach , die trotz eines Schneesturmes überfüllt war, versuchte ein Reichsverbändler, Herr Sch., die Debatte in der Gaststube fort- zusetzen und die anwesenden Textilarbeiter wie die Referenlin zu provozieren. Als ihm das nicht gelang, wandte er sich in fast flegelhafter Weis« an den Gemeindevorstand und verlangte von ihm, daß er ihm über Sachen Rede und Antwort stehen solle, deren Erörterung in die Amtsstube gehört. Wiederholt wurde er vom Wirt aufgefordert, sich ruhig zu verhalten oder daS Lokal zu verlassen. Was wäre einem Arbeiter geschehen, der das nicht in der Trunkenheit, sondern in der Erregung getan hätte! In sehr gut besuchten Versammlungen zu Radeberg und Meißen , die von den Parteiorganisationen einberufen worden und sehr gut besucht waren, lautete das Thema:„Was bringt uns die Zu- kunft?" Die Versammlungen hatten sämtlich agitatorischen Wert und werden ihre Wirkung nicht verfehlen. Marie Wackwitz . Im Auftrag der Bezirksleitung für den Nicderrhein sprach die Unterzeichnete kürzlich in folgenden Orten: E s s e n- W e st, S ch o n n e- deck, Mülheim (Ruhr ), Bruckhausen, Herdecke , Gevels- berg, Ohligs , Elberfeld , Mangenberg, Vohwinkel , Hochheide, Krefeld , Benrath , Düsseldorf , Barmen. Sämtliche Versammlungen waren gut, viele sogar glänzend be- sucht und brachten allerorts einen guten Zuwachs an Mitgliedern. In Hochheide zum Beispiel wurden S2, in Bruckhausen einige 60 Personen gewonnen, so daß die Tour den Parteiorgani- sationen einige hundert neuer Mitglieder brachte, darunter recht viele Frauen. Bei der rührigen Agitation, die von der Bezirks- leilung der Partei am Niederrhein unausgesetzt betrieben wird, kann es nicht fehlen, daß es dort mit der Frauen- sowie mit der Gesamtbewegung rüstig vorwärts geht. I,. Z, Auf Veranlassung der Leitung des Wahlkreises Wanzleben referierte die Unterzeichnete in öffentlichen Frauenversammlungen zu Groß-Ottersleben, Klein-Ottersleben, Lensdorf, Dies- darf und Hohendodeleben über das Thema:„Arbeiterfrauen und Sozialdemokratie". Der Besuch der Versammlungen war zufriedenstellend, in Hohendodeleben war er besonders gut. 80 Frauen zeigten durch ihren Beitritt zu der Parteiorganisation, daß sie nicht länger dem politischen Leben fernstehen wollen. Hoffent- lieh gelingt es der fleißigen Agitation der Genossen und Genossinnen, an diesen Orten der Partei mehr und mehr Mitglieder zuzuführen. Minna Bollmann . Im Wahlkreis Hanau -Bockenheim Gelnhausen-Orb setzt nun- mehr die Frauenbewegung auch mit gutem Erfolg ei». Bereits im vorigen Jahre schloffen sich in einigen Orten desselben eine Anzahl Genossinnen der Parteiorganisation an. So in Hanau , wo der sozialdemokratische Verein am Jahresschluß 1908 rund 1S0 Frauen als Mitglieder zählte. In Bockenheim traten der poli- tischen Organisation am l. Januar ds. Js. 35 Frauen bei, welche bis dahin dem Frankfurter Frauen- und Mädchenbildungsverein angehört hatten. Um die sozialistischen Ideen in weitere Frauen- kreise zu tragen, hatte der Kreiswahlverein Genossin Wey!» Berlin für eine zehntägige Agitationstour gewonnen. Genossin Weyl referierte Ende Januar in zwölf öffentlichen Frauenversamin- lungen über das Thema:„Die Frau im politischen Kampfe". Die Versammlungen erfreuten sich durchweg eines guten Besuchs, und die vortrefflichen Ausführungen der Reserentin fanden überall eine» guten Anklang. Das praktische Resultat der Agitation bestand darin, daß 310 Frauen als Mitglieder für die Parteiorganisation gewonnen wurden. Die Aufnahmen verteilen sich auf folgende Orte: Bischofs heim 31, Bockenheim 47, Dörnigheim 38. Eckenheim II, Fechenheim 15, Ginnheim 8, Großau- heim 23, Hanau 28, Kesselstadt IL, Langendiebach 42, Mittel- und Wachenbuchen 23. Rückingen 31. Inden Versammlungen traten außerdem auch Männer dem Wahlverein bei, und die Arbeiterpresse fand neue Abonnenten. Der Grund- beitrug beträgt für die Frauen pro Woche 5 Pf.(in Hanau werden pro Woche 6 Pf., in Bockenheim pro Monat 30 Pf. erhoben), die„Gleichheit" ist obligatorisch eingeführt und wird den Frauen gratis zugestellt. Es gehören nunmehr in 16 Orten unseres Wahlkreises insgesamt 542 Frauen der politischen Organisation an. Für den Kreis kommen— von einigen Ausnahmen abgesehen— durchweg ländliche Ortschaften in Betracht. Das wird die Ge- nossinnen und Genossen nicht hindern, unermüdlich weiterzuarbeiten, um in nächster Zukunft neue Fortschritte zu erzielen. R. D. Am 27. Januar fand in Breslau eine gut besuchte öffent- liche Frauenversammlung statt, in der Genosse Beyer- Leipzig über das Thema sprach:„Die Frau im wirtschaftlichen und politischen Leben". Der Referent erörterte unter anderem auch im Verlauf seiner Ausführungen, wie sich die verschiedenen poli- tischen Parteien zu den Forderungen der Frauen verhalten. Dabei zeigte sich klar, daß nur die Sozialdemokratie, die Todfeindin der bestehenden Gesellschaftsordnung, für die Forderungen der Prole- tarierinnen kämpft. Daß die anwesenden Frauen mit dem Vortrag einverstanden waren, bewies der am Schlüsse gespendet» Beifall. Leider können sich die Breslauer Frauen fast nie dazu entschließen, in eine Diskussion über einen Vortrag einzutreten. Auch diesmal wieder war das der Fall. Genossin Rauschen- fels gab bekannt, daß von jetzt ab regelmäßig jeden Monat ein»
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20 (1.3.1909) 11
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