Nr. 13Die Gleichheit203Gewerkschaftliche Rundschau«Im vergangenen Jahre hat der wirtschaftliche Niedergang un-zweifelhaft dem Unternehmertum eine günstigere Position im wirt-schaftlichen Kampfe geschaffen als den Arbeitern. Besonders tratdas in jenen Industrien zutage, wo tarifliche Festlegungen der Ar-beitsbedingungen nicht ein Bollwerk boten wider den Ansturm derKapitalisten, welche die Situation zur gesteigerten Ausbeutung.ihrer Hände" nutzen wollten. Die allgemeinen Verhältnisse würdenes erklären, wenn im letzten Jahre die Streiks der Arbeiter ge-ringeren Erfolg gehabt hätten als die Aussperrungen der Unter-nehmer, und wenn die Kämpfe an Zahl hinter denen in den Vor-jähren zurückgeblieben wären. Trotzdem dürfen wir bezweifeln, oball das zutrifft, was die amtliche Statistik in einer vor-läufigen Zusammenstellung schon jetzt über Streiks undAussperrungen in Deutschland für das Jahr 1903 mitzuteilen weiß.Es ist ja eine bekannte und erwiesene Tatsache, daß zwischen der amt-lichen Streikstatistik und derjenigen, welche die freien Gewerkschaftenausnehmen, stets große Differenzen bestehen. Zu den Eigentüm-lichkeiten der ersteren gehört, daß sie die Tätigkeit und die Erfolgeder Gewerkschaften in kleinerem Lichte zeigt. Wir tun also der vor-liegenden Veröffentlichung gewiß nicht unrecht, wenn wir annehmen,daß sie nicht besser ist als ihre Vorgängerinnen. Sogar die ein-gefleischt bürgerliche„Soziale Praxis' sagte von ihr:„Beachtetwerden muß jedoch, daß die Zahlen der amtlichen Streikstatistik nursehr bedingt zu verwerten sind." Mit aller Reserve teilen wir da-her das vorläufige amtliche Ergebnis mit. Danach wären imJahre 1903 insgesamt 1307 Streiks geführt worden, an denen 4317Betriebe mit 197 000 Arbeitern und Arbeiterinnen beteiligt waren.Die Höchstzahl der gleichzeitig Streikenden betrug 63000. Bei 210Ausständen war voller und bei 416 teilweiser Erfolg zu verzeichnen,682 gingen verloren. Es fanden 131 Aussperrungen statt, von denen114 vollen, 66 teilweisen und 11 keinen Erfolg brachten. Gegen dasJahr 1907 hätten laut der amtlichen Aufstellung die Kämpfe nachZahl und Ausdehnung um die Hälfte abgenommen. Erst die ge-werkschastliche Statistik wird uns zuverlässige Zahlen bringen, dieeinen zutreffenden Vergleich ermöglichen. Die vorliegenden amtlichenZiffern haben nur den Wert einer interessanten Vormeldung.Eine Machtstärkung der Unternehmerverbände berichtet derenPublikationsorgan. Die Hauptstelle deutscher Arbeit-geberverbände und der Verein deutscher Arbeit-geberverbände haben einen Kartellvertrag abge-schlössen. Zweck des Vertrags ist erhöhter Schutz der Arbeits-willigen, strengere Durchführung der StreiMausel, gegenseitige Hilfebei Streiks und Boykotts und Förderung der Arbeitgebernachweise.Die Frage der beiderseitigen Streikversicherungseinrichtungen sollnoch durch besondere Organe der Vertragschließenden geregeltwerden. Nicht vergessen wurde natürlich bei Abschluß des Kartell-Vertrags eine Bestimmung, nach der streikende und ausgesperrteArbeiter als Freiwild zu betrachten sind. Sie sollen während derDauer eines Kampfes in den Betrieben der organisierten und kar-tellierten Unternehmer keine Beschäftigung finden. Ohne Einflußauf diese Bestimmung bleibt die Berechtigung eines Ausstandes,die nicht nachgeprüft werden soll, wenn sie bereits„ordnungsgemäßgeprüft" worden ist. Was diese„ordnungsgemäße" Prüfung be-deutet, können sich die Arbeiter und Arbeiterinne» an den Fingernabzählen. Auch dieser neueste Coup der Scharfmacher wird, wieschon mancher andere, ein Schlag ins Wasser bleiben. Die wirt-schaftliche Krise währt nicht ewig. Und wenn sie nicht mehr dieSegel des Unternehmertrutzes bläht, werden auch die stolzen Herrenmit sich reden lassen. Tie Lust am Herr-im-Hause-spielen hält nichtstand, wenn fetter Profit winkt. Und die Arbeiter und Arbeite-rinnen, die sich immer fester zusammenschließen, ihre Organisationenimmer besser ausbauen, werden über all die„geprüften" und„ge-regelten" Fragen ein gewichtiges Wort mitsprechen. Mag dieEcharsmacherei vorübergehend Siege erringen, ihre Hauptwirkungbleibt doch, die Ausgebeuteten fester und fester zu vereinigen unddadurch nicht bloß ihre Überwindung herbeizuführe», sondern denSturz der Ausbeutungsgescllschaft vorzubereiten.Aus dem Textilgewerbe sind einige Erfolge der Arbeiterund Arbeiterinnen zu berichten. In Konstanz wurde eine beab-sichtigte Lohnreduktion durch Ankündigung eines Streiks zurück-geschlagen. Die sächsis ch-th üringisch en Webereien gebeneinen neuen Lohntarif bekannt, nach dem ab 2. April einige Lohn-erhöhungen in Kraft treten. Der Kampf im Eulengebirgedauert fort und zeigt musterhafte Solidarität der Arbeiterschaft.In einer Baumwollspinnerei im Algäu wird dagegen leidereine Bewegung auf Gewährung der 10'/, stündigen Arbeitszeit undeine» fünfprozentigcn Lohnzulage durch das verräterische Verhalteneiniger Arbeitswilligen in Frage gestellt.In der Holzindustrie ist das siegreiche Vordringen desTarifvertrags bisher im Rheinland und in Westfalen aufSchwierigkeiten gestoßen. Bekanntlich haben in jener Gegend auchdie Buchdrucker am längsten auf die Einführung ihres Tarifeswarten müssen. Die rheinisch-westfälischen Holzindustriellen wollenden Abschluß von Tarifverträgen auf eine eigentümliche Art her-beiführen. Eine Versammlung dieser Herren in Bochum beschloßwie folgt: Wenn die Arbeiter nicht einwilligen, daß die gegen-wärtig geltenden Lohnsätze tariflich festgelegt werden, so soll eineLohnkürzung stattfinden; hält die Weigerung an, so tritt nachVerlauf von 14 Tagen eine weitere Lohnkürzung ein. Man istversucht, zu fragen:„Sonst nichts, ihr Herren?" Ein schäbigerErpressertrick— um uns milde auszudrücken— ist es, wenn dieUnternehmer in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs den Aus-gebeuteten niedrige Löhne aufzwingen, die tariflich gebunden auchfür die Zeit besserer Geschäftskonjunktur bestehen bleiben sollen.Ob indessen die Bäume der rheinisch-westfälischen Holzindustriellenin den Himmel wachsen, bleibt abzuwarten. Der Holzarbeiterver-band sorgt durch seine rührige Betätigung dafür, daß der Unter-nehmermacht Grenzen gezogen werden. So hat er für die Zeitvom 13. bis 29. März eine Agitation in ganz Deutschland vor-bereitet. In ungefähr 700 Versammlungen wird in dieser Zeit da?Thema behandelt:„Wer schützt die Interessen der Holzarbeiter."Zu einer größeren Tarifberatung respektive Schieds-gerichtssitzung treten die Beauftragten der Arbeiter und Ar-beitgeber des Schneiderverbandes Ende dieses Monats inFrankfurt a. M. zusammen, um in erster Linie die noch schweben-den örtlichen Differenzen zu regeln. Zu dem Zwecke sollten dieörtlichen Tarifabmachungen bis spätestens 12. März beendet sein.Verhandlungen darüber sind gegenwärtig noch in zirka 26 Städtenim Gange. Die Konferenz hat reichlich Arbeit vor sich und dürftedaher mehrere Tage dauern.Der Streik der Kohlenlader in Kiel dauert fort. Verhand-lungen, die aufgenommen wurden, scheiterten, sollen aber wiederangebahnt werden. Die Streikbrecherzufuhr scheint gering zu sein,und das Löschen der Dampfer geht daher nur sehr flau vor sich;90 Arbeitswillige, die auch in ihrer freien Zeit an Bord bleiben,mühen sich im Schweiße ihres Angesichts, das Kapital zu retten.Der Kampf der Bühnenangestellten nimmt einen erfreu-lichen, lebhaften Fortgang, und ihre Organisation macht gute Fort-schritte. Vielerorts finden Protestversammlungen statt, in denensich besonders die Schauspieler dagegen wehren, daß der Bühnen-verein(Arbeitgeberverein) ihre Organisation, die Bühnengenossen-schaft, als Vertreterin der Bühnenangehörigen nicht anerkennenund ihre Pensionsanstalt schwächen will. Eine solche Versamm-lung, die in Berlin stattfand, beansprucht besonderes Interesse.Die kämpfenden Bühnenangestellten hatten zu ihr Reichstags-abgeordnete aller Parteien eingeladen, jedoch nur Vertreter desZentrums und der Sozialdemokratie waren dem Rufe gefolgt. ZweiMitglieder der Freisinnigen Vereinigung ließen sich wegen ihresFernbleibens entschuldigen, und ein freisinniger Volksparteiler schickteden Versammelten ein Sympathieschreiben. Das Verhalten derbürgerlich Liberalen ist besonders beachtenswert, weil diese Herrensich bekanntlich bei jeder Gelegenheit mit hohlem Pathos als dieberufenen Vertreter der„Bildung" und als Schützer der Kunst auf-spielen. Wo blieb insbesondere Herr Müller-Meiningen, der inseinen Schützenfestreden so tut, als ob er den Schutz und die Frei-heit der Kunst in Erbpacht genommen habe? Wahrscheinlich mußteer gerade helfen die Nachlaßsteuer begraben und die Tabaksteuerretten, oder schwitzte er über einem neuen Kommentar zum Verratdes Freisinns beim Vereinsgesetz? Der Bühnenverein spinnt beider Affäre keine Seide. Sogar mehrere Stadtverwaltungen habenes abgelehnt, das Rezept des Herrn Generalintendanten in ihrenStadttheatern zur Anwendung zu bringen. Die Scharfmacher ver-teidigen sich in einem Flugblatt und suchen die Aufhebung desSchiedsgerichts zu rechtfertigen, jedoch mit wenig Glück: das Rechtder ausgewucherten und unterdrückten Schauspieler und Schau-spielerinnen ist zu offensichtlich. Hoffentlich hat die Bewegung zu-nächst den Erfolg, daß der Reichstag auf eine Änderung der Ge-setzgebung dringt, welche den Bühnenangestellten wenigstens denSchutz sichert, den die gewerblichen Arbeiter haben.Die Lithographen und Steindrucker mußten sich im Jnter-esse ihres Berufes gegen die geplante Reklamest�uer wenden.Zahlreiche Protestversammlungen beschäftigten sich bannt und nahmenResolutionen gegen das Steuerprojekt an. Angesichts der Be-strebungen zur Aufilärung und Organisierung der proletarischenJugend verdient die Lehrlingsabteilung des Lithographen-Verbandes Beachtung. Sie wurde am 1. März 1903 gegründet undzählt 3397 Mitglieder. 223 junge Leute traten infolge der Be-B