226 Die Gleichheit Nr.lS der Sklaven! Doch ist sie nur der jährliche Appell an die stets wachsendeil unzähligen Scharen, Gewehr bei Fuß und mit trockenem Pulver um die Fahne der Rebellion zu stehen. Das fröhliche Lenzvergnügen der von der Last der Arbeit und des Elends Gebeugten! Und doch ist es nur ein jährlich erneuter heiliger Rütlischwur der Millionen Kämpfer: Wir werden nicht rasten und nicht ruhen, bis von der Zwingburg der Ausbeutung und der Knechtschaft nicht ein Stein auf dem anderen geblieben ist! Achtstundentag— Völkerfrieden— Völkerverbrüderung— ebensoviel Todesurteile über die Gesellschaft, deren Fundament — die schrankenlose Ausbeutung, deren Element— der Länder- ranb und Mord, deren Atem— der Völkerhaß ist. Dieser Gesellschaft den Kampf aufs Messer, den Krieg ohne Gnade jährlich laut und vernehmlich auf dem ganzen Erden- rund aus Millionen Kehlen zu verkünden— dazu ist das jähr- liche Maifest da. Und weil es ein Fest der Proletarier aller Länder, weil es ein gemeinsamer Schwur der Ausgebeuteten aller Zungen ist, so ist die Maifeier eine heilige Bürgschaft, daß nicht mehr wie ehedem einzelne proletarische Heere in heldenmütigem Ringen um die gemeinsame Sache des Sozialis- mus in ihrer Verlassenheit verbluten werden, wie die Junikämpfer in Paris , wie die Helden der Kommune, wie die glor- rcichm Streiter in Petersburg , Warschau und Moskau . Die Maifeier als Weltfeier der Arbeit ist die jährliche Er« Neuerung des Andenkens an die revolutionären Kämpfe des modernen Proletariats in allen Ländern, die Übernahme der großen Tradition des bald ein Jahrhundert langen Ringens, und die Verkündung, daß einmal die Stunde schlagen muß, wo nicht mehr eine einzelne nationale Proletarierschar, wo das Proletariat aller Länder wie ein einig Volk gemeinsam zum letzten Kampfe und zur Zertrümmerung des verhaßten Joches sich erheben wird. Dies zeige auch die diesjährige zwanzigste Maifeier der Arbeit. ' Wie haben sich doch in diesen zwei Jahrzehnten unsere Scharen vermehrt, unsere Reihen geschlossen, unsere Organi- salionen gestärkt, unsere Kriegskassen gefüllt, unsere Aufklärungs- mittel verbessert! Nun zeuge eine gewaltige Maifeier, eine imposante Arbeitsuche von der Macht des sozialistischen Ge- dankens, von dem Groll der unzähligen Opfer der Krise, von den Früchten der Mühen und der Kämpfe ganzer Generationen! Es gilt zu bekräftigen, daß die jahrzehntelange friedliche und zähe Tagesarbeit der Aufklärung und der Organisation, der politischen Partei und der Gewerkschaften, nicht zur Fesse« lung der inneren Macht des Proletariats, sondern zu ihrer Entfaltung führt, nicht zum Verzicht aus die proletarische Re- volution, sondern zu ihrer Vorbereitung, nicht zum Kompromiß der Arbeit mit der bestehenden Ordnung, sondern zur Sicherung ihres endgültigen Sieges über diese Ordnung. Machtvoll ziehe herauf über dem Erdenrund der friedliche Weltfeiertag der Arbeit— der Verkünder ihrer künstigen Welt- kämpfe und ihres künftigen Sieges über eine ganze Welt. Die Internationalität des Maifestes. Der Landesgrenzen nicht achtend, hinweg über Gebirge und Meere reicht sich am Maienfeste der Arbeit das klassenbewußte Proletariat aller Länder im Geiste die Hand. Die Lohnsklaven halten Heerschau und geloben aufs neue, ihre ganze Persön« lichkeit einzusetzen, um den materiellen und geistigen Aufstieg der Arbeiterklasie zu fördern und sie dadurch zu befähigen, ihre endgültige Befreiung aus Kapitals Banden selbst voll- ziehen zu können. Die„rote Internationale�, die am Weltfest der Arbeit ihren Bund so besiegelt, ist eine notwendige Folge der„goldenen Internationale", des weltumspannenden Kapitalismus . ES liegt in dessen Wesen, daß er international ist, internatumal sein muß. Die moderne, entwickelte Großindustrie setzt eine weit- gehende Arbeitsteilung innerhalb deS einzelnen Gewerbes, eine weitgehende Arbeitsteilung unter den Völlern voraus, und der Kapitalismus begünstigt, fördert und entwickelt diese Arbeits- teilung. Wie die Arbeiter einer Fabrik aufeinander augewiesen sind und Hand in Hand arbeiten, so auch die Völker, die gegen- seitig voneinander Nahrungsmittel, Rohstoffe, sonstige Produk- tionsmittel und fertige Produkte, ja oft genug sogar lebendige Arbeitskräfte eintauschen. Die modernen Verkehrsmittel in ihrer gigantischen Gestalt sind in ihrer Herstellung sowie in ihrer Anwendung nur noch denkbar und möglich, wenn die Landes- grenzen der Nationen nicht hindernd im Wege stehen. Man denke nur an den Telegraph, an das Telephon, an die Eisen- bahnen und Dampftchiffe, sowie an die in der jüngsten Zeit so glänzende Erfolge zeitigende Luftschiffahrt. Die riesenhaft ent- falteten Produktivkräfte drängen nach Betätigung und weiterer Entfaltung, und das Profitbedürfnis der Besitzenden hat nimmer nationale Skrupel gekannt, wenn es galt, das Kapital gewinn- heckend anzulegen. Überall aber, wo das Kapital Wurzel schlägt, wo seine Wirtschaftsweise sich entfaltet, da erzeugt es auch seinen Gegen- satz, seinen Totengräber: das Proletariat. Denn„Profit er- zeugen", das ist der Polarstern , der der kapitalistischen Pro- duktionsweise und ihrer Entwicklung voranleuchtet, Profit er- zeugen ist das Lebenselement des Kapitalismus . Um Prosit, steigenden Profit erzielen zu können, wird die wertschaffende menschliche Arbeitskraft ausgebeutet bis zum äußersten. Marx sagt im„Kapital", daß alle Schranken, die der Ar- beitszeit errichtet waren, durch Natur, Sitte, Alter, Geschlecht, durch Tag und Nacht hinweggeräumt wurden vom Kapital, um aus der Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft größeren Mehrwert und damit steigenden Profit zu erzielen. War es nicht mehr möglich, die Arbeit extensiver zu gestalten, so ward sie intensiver durch Anwendung der die Menschen treibenden Maschinen, durch ein raffiniertes Entlohnungssystem, durch Schaffung von„Wohlfahrtseinrichtungen" und anderes. Zur Tagarbeit kam die Nacht- und Sonntagsarbeit. Zur Arbeit und Ausbeutung der Männer trat in immer steigendem Maße die der Frauen und— Kinder. Das Kapital beherrscht wie die Produktionsmittel so auch die Gesetzgebung. Siehe Zuchthausvorlage und neuerdings die Geheimkonferenz der Großindustrie":!: und Ministerstürzer. Es bemächttgt sich der organisierten Machtmittel des Staates zur Niederhaltung der Lohnsklaven: siehe Polizei und Militär. Ganz zu schweigen von den Kapitalsinteressen, die entscheiden über Krieg und Frieden zwischen den einzelnen Völkern, die, obgleich sie aufeinander angewiesen sind, sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstehen, weil— das Interesse der ausbeuten- den Minderheit es so erheischt. Mit einem Wort, das Kapital ist die gewaltige, für man- chen unsichtbare Gewalt, welche die Geschicke der Menschen be- herrscht, welche vor allem das Lebensschicksal des Proletariers regelt, wenn— er untätig, fatalistisch von dieser Macht sich beherrschen und knechten läßt. Die Erkenntnis seiner Klassenlage, die Erkenntnis der treibenden Kräfte in der kapitalistischen Ordnung hat jedoch bekanntlich längst das Proletariat zur Rebellion, zum Kampfe gegen diese Macht aufgestachelt, die das Menschentum der Arbeiterklasse zertritt. Und da überall dieselben Wirkungen erzeugt werden, wo immer der Kapitalis- mus herrscht, so fft die internationale Solidarität des Prole- tariats gegeben. Ob in Deutschland oder Frankreich , ob in Rußland oder England, ob diesseits oder jenseits der Ozeane: allüberall hat das Proletariat das gleiche Interesse: die kapitalistische Ord- nung zu bekämpfen und zu besiegen. Denn allüberall ist es die kapitalistische Ordnung, die die ungeheuren Produktivkräfte entfaltet, aber nicht Freiheit und Wohlstand für die Massen spendet, sondern sie knechtet, sie ausbeutet, nicht ihre Talente entwickelt, sondern sie knickt und vernichtet, nicht Lebensfreude und Lebensgenuß ihnen bringt, sondern Sorge, Entbehrungen und Elend. Allüberall, wo der Kapitalismus seine Rolle als Aus- beuter spielt, erhebt deshalb am Maifest das Proletariat seine
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20 (26.4.1909) 15
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