Nr. 16

Die Gleichheit

Aber für die mehr als 100 Heimarbeiterinnen, die im Kreise Dieburg allein, wenn auch nicht während des ganzen Jahres, so doch für einen großen Teil desselben mit dem Beschneiden von Tiersellstücken beschäftigt find, fehlt auch der geringe Schutz, den die ärztliche Kontrolle immerhin bietet. Da diese Heim arbeiterinnen, wie fast alle Heimarbeiter, der Krankenversiches rung nicht unterstehen, so müssen sich naturgemäß die schäd­lichen Wirkungen bei ihnen noch mehr bemerkbar machen, weil sie nicht so früh erkannt werden und zur Heilung nicht soviel geschehen kann, wie das bei der versicherten Fabrifarbeiterin möglich ist. Während diese ärztliche Behandlung und Medi­famente unentgeltlich von der Krankenkasse geliefert bekommt und im Krankengelde einen, wenn auch unzulänglichen Ersatz für den ausfallenden Verdienst hat, verliert die Heimarbeiterin nicht nur jedes bare Einkommen, wenn sie wegen Krankheit die Beschäftigung aufgibt, sondern muß noch die Ausgaben für Arzt und Heilmittel aufbringen. Da sie häufig dazu außer­stande und auf ihren Verdienst angewiesen ist, wird sie so lange arbeiten, als sie es nur irgendwie erzwingen kann; auch vers mag fie für Heilung nur unzureichende Aufwendungen zu machen und muß möglichst früh, gewöhnlich viel zu früh, wieder zur gesundheitsgefährlichen Arbeit greifen. Die Folgen sind dauern des Siechtum und früher Tod. Aber nicht nur die Heim arbeiterin selbst, die die gebeizten Fellstücke bearbeitet, ist den Gesundheitsschädigungen ausgesetzt, die besonders mit dieser Arbeit verbunden sind, vielmehr auch ihre Angehörigen. Einen eigenen Arbeitsraum befizen die Arbeiterinnen nicht, Küche oder Wohnzimmer dienen als solcher. Da die Art der Arbeit es gestattet, daß sie jeden Augenblick aus der Hand gelegt werden kann, wenn etwas anderes zu besorgen ist, so werden mit Haarschneiden die kleinen Pausen ausgefüllt, die sich für die Hausfrau bei der Besorgung der Hausarbeit, besonders aber beim Bereiten des Essens ergeben. Es ist nur zu leicht verständlich, daß die gehezte und hastende Heimarbeiterin, die ihre Erwerbsarbeit unterbricht, um sich an den Kochherd zu begeben, nicht immer, wie es nötig wäre, ihre Hände vorher gründlich reinigt, geschweige denn ihre beschmutzten Kleider, oder diese gar wechselt. Die ganze Wohnung der Heimarbeiterin wird mit Schmutz und dem scharfen Geruch der Beize erfüllt. Und in dieser Atmosphäre wachsen Kinder auf und sollen gedeihen, sollen gesund bleiben!

Wie alle Berufe, in denen Frauen, und dazu noch heim­arbeitende Frauen stark vertreten sind, weist auch die Fell zurichterei und Haarschneiderei sehr niedrige Löhne auf. Ihr Betrag ist sehr verschieden, wird aber immer ganz einseitig vom Fabrikanten festgesetzt. Die Arbeiterinnen stehen diesem, da sie gänzlich ohne Zusammenhang sind, völlig machtlos gegenüber. Für das Pfund geschnittener Haare werden 40 Pf. bis 1 Mt. bezahlt, je nachdem Schwänze oder Abfallstücke zu beschneiden sind. Das Reinigen der Felle wird mit 50 Pf. bis 1,10 Mt. für 100 Felle, das Aufschneiden der Felle mit 60 bis 70 Pf. für 100 Felle bezahlt. Der durchschnittliche Stundenlohn berechnet sich für Männer bei der Fellzurichterei auf 25 bis 80 Pf., für Frauen beim Haarschneiden auf 8 bis 10 Pf.

Bei einem Besuch erklärte mir einmal eine Arbeiterin auf die Frage nach dem Verdienst: Die Arbeit kommt gleich nach dem Bettel", womit sie sagen wollte, daß man, bevor man zum Bettel greife, es noch einmal mit der Haarschneiderei versuche, um sich durchzuschlagen.

Die gewerkschaftliche Organisation fehlt unter den Arbeite rinnen der beiden Erwerbszweige so gut wie ganz. Die ver heirateten Frauen, aber auch die ledigen, sind schwer für die Gewerkschaft zu gewinnen. Sie betrachten die Erwerbsarbeit nur als etwas vorübergehendes; die einen glauben nur so lange arbeiten zu müssen, als der Notstand herrscht, der sie zur Erwerbsarbeit getrieben hat, und die anderen meinen, mit der Heirat auch aus der Erwerbsarbeit ausscheiden zu können. Manchmal geschieht das ja auch für kürzere oder auch längere Beit, aber oft genug muß die Frau später doch wieder in die Fabrit gehen oder als Heimarbeiterin schaffen. Die Fellzurichte rinnen und Haarschneiderinnen hätten deshalb große Ursache,

245

für Verbesserung ihrer Löhne und anderen Arbeitsverhältnisse zu sorgen. Daneben muß für sie die Hilfe der Gesetzgebung angerufen werden. Sie muß für einen ausreichenden Schutz der Fabrikarbeiterinnen gegen Gesundheitsschädigungen und eine umfassende Arbeiterversicherung sorgen. Zu erwägen ist, ob nicht ein Teil der Arbeiten, besonders das Beizen der Felle und die Hantierung mit den gebeizten Fellen wegen der großen Gefahren für den weiblichen Organismus für Frauen gänzlich zu verbieten sei. Was die Heimarbeit in den beiden Erwerbs. zweigen anbetrifft, so halten wir ihr völliges Verbot für durch­aus gerechtfertigt. In der Fellzurichterei und Haarschneiderei handelt es sich um Arbeiten, die absolut nicht im Hause ver richtet werden dürften. Die Gesundheitsgefahren der Heimarbeit in der Fellzurichterei und in der Haarschneiderei sind nicht nur für die Heimarbeiterinnen und ihre Angehörigen erheblich, son­dern auch für die Nachbarn, die zuweilen in ganz empfindlicher Weise durch den Geruch, der Fellzurichtereien entströmt, und durch den Haarstaub, den sie verbreiten, belästigt werden. Auch die Entwicklung der Kinder wird durch diese Art der Heim­arbeit ungünstig beeinflußt, ganz abgesehen von der Vernach lässigung ihrer Erziehung, die nur zu leicht eine Folge jeder fiberlastung der Mutter ist. Die Kinder leiden nicht nur unter dem Staub und Schmuh genau so oder noch mehr als die Erwachsenen, sondern sie werden durch den fortwährenden An­blick schmutziger Räume und Kleider an diesen so gewöhnt, daß sie ihn als etwas Unvermeidliches betrachten. Das alles sollte die Kommission in Erwägung ziehen, welche die Novelle zur Gewerbeordnung berät und auch an einen Versuch geht, die Arbeitsbedingungen der Heimarbeiter zu regeln. Nicht Vor­schriften, die die Heimarbeit gestatten wollen, wenn ein be­sonderer Arbeitsraum vorhanden ist, können in der Fellzurichterei und Haarschneiderei helfen. Sie lassen nicht nur die Möglich­keit, sondern bei der Beschränktheit der Wohnungen die Gewiß­heit fortbestehen, daß die Arbeitsräume auch zu Wohnzwecken benutzt werden. Und der badische Fabrifinspektor Bittmann hat recht, wenn er in einem Artikel in der Zukunft" die Ver­bannung der Arbeit für Haarschneidereien aus den Wohnstätten verlangt. Neben dem gesetzlichen Schutz muß natürlich die Selbst­hilfe eingreifen, die im Zusammenschluß der Arbeiter und Ar­beiterinnen zu machtvollen Organisationen liegt.

Johannes Heiden.

Schützt die Mütter!

Schutz und Fürsorge für die Schwangeren und Wöchnerinnen: Verbot der Erwerbsarbeit für sie, Errichtung von Schwangeren-, Wöchnerinnen- und Säuglingsheimen, das halten mehr oder minder wohlmeinende bürgerliche Reformler für alleinfelig. machende Mittel, die furchtbar um sich greifende Säuglings. sterblichkeit und Degeneration bei den werktätigen Massen zu bekämpfen. So dringend wir dieser Art des Schutzes und der Fürsorge bedürfen, so groß der Nutzen ist, den sie zu stiften vermag, reicht sie doch zum Schutze für Mutter und Kind bei weitem nicht aus. Sie geht dem Baum des übels nicht an die Wurzel, sondern beschneidet ihn nur oben. Wenn das Gesetz der schwangeren Proletarierin für einige Wochen das Joch der kapitalistischen Ausbeutung abnimmt, wenn das Wöchnerinnen heim ihr Zuflucht und Pflege bietet, so ist ihr Körper meist durch die früheren Lebensbedingungen derart geschädigt, daß die Anforderungen der Mutterschaft die Lebenskraft dauernd schwächen und die Fähigkeit mindern, gesunde Kinder zu ge­bären. Wie könnte die Frau in gesunder, voller Kraft Mutter werden, die in frühester Kindheit durch Heimarbeit aus, gebeutet wurde, die in der Reisezeit den Erwachsenen gleich zu fronden gezwungen war, die jahraus jahrein einen langen Arbeitstag hat, der ihre Kräfte übersteigt und die gesundheits­schädigenden Bedingungen ihrer Berufstätigkeit steigert. Weit greifender Schutz der kindlichen und der weiblichen Arbeitskraft gegen die fapitalistische Ausbeutung ist die Grundlage aller Mutterschafts- und Säuglingsfürsorge. Fassen wir zunächst den Schuß der Mütter ins Auge, so erschemit die Maiforderung des