314 Die Gleichheit Nr. 20 Lieder erklingen. Trotz der schweren Fabrikarbeit, in der der größte Teil der gegenwärtigen Generation der„Rühler* frondet, hat sich das Völkchen eine Lebenslust und einen Frohsinn bewahrt, die mit den Alltagssorgen im größten Kontrast stehen. Anheimelnd klingen die Melodien, aber— der Text! Als ich im letzten Winter ein- mal nach der Ruhl fuhr, befanden sich im gleichen Abteil von Wutha ab eine Anzahl junger Rühler Mädchen. Drei Berliner Wintersportfexe suchten mit den Mädchen anzubändeln. Die Mäd- chen lachten und scherzten und begannen im Rühler Dialekt zu singen: Kommt hrar, kommt hear, eu liewen Keng, Hütt soa's in allen Eackcn kleng; MSi machen uns önn rcachten Spaoß, Aenn Spreenger laoss' me los. Komm Dörtchen, Maolchcn, komm Lisett, Daoß jeder Hans Hütt sengt si Grät, Wellmine, Kaothrin, kommt eu Keng, Mäi wann Hütt seng unn spreng. Die Sportfexe horchten verwundert auf. Nun erklang es weiter: In Himmel es»et Hab so schön, Un alles gillt die höchsten Tön; Aenn allen Spreenger taanzt me hie, Dao lacht önn'S Herz in Li. Da flüsterten die Herrlein sich zu:„Das klingt ja gerade ivie dänisch!" Tatsächlich muß man aufpassen wie ein Heftelmacher — so heißt es zu Lande—, wenn nian den Dialekt der Rühler verstehen will. Schon in den dicht bei Ruhla gelegenen Orten, die gar manches von der Ruhl haben, ist der Dialekt ein voll- ständig anderer. Dabei arbeiten viele hundert Männer und Frauen der umliegenden Orte jahrein jahraus in der Ruhl. Die Pfeifen- fabrikalion, Meerschau mschnitzerei, Etuis- und neuer- dings die Uhren fabrikalion beschäftigen mehrere tausend Menschen. In der im Orte befindlichen größten Uhrenfabrik werden gegen 500 Arbeiterinnen beschäftigt, von denen der dritte Teil unter 16 Jahre alt ist. So manches junge Mädchen hat dort schon ein Fingerglied eingebüßt. Stundenweit kommen die Arbeite- rinnen am Morgen her. Meist ein einfaches Tuch über den Kopf geschlagen, und fast jede in dem alten Thüringer Kindermantel, der gewöhnlich von dunkler Farbe ist. Die alten soliden Falten- röcke sind selten durch neumodische Kleider verdrängt. Eine Schraubenfabrik mit elektrischem Betrieb verwendet ebenfalls eine größere Anzahl Arbeiterinnen. Dies« polieren, stanzen, kurz, sie werden zu allen Arbeiten herangezogen, die anderwärts von männlichen Arbeitskräften verrichtet werden. Bon einer anderen Fabrik, wo elektrische Bedarfsartikel fabriziert werden, gilt das gleiche. Die Arbeitszeit ist eine zehn- bis elsstündige, zu der sich noch für einen großen Teil der Arbeiterinnen, die aus- wärts wohnen, morgens und abends ein Weg von ein bis zwei Stunden fügt. Und damit nicht genug. Die Arbeiterinnen fronen dann noch zu Hause mehrere Stunden im Dienste der Heimarbeit. Die weibliche Arbeitskraft wird in der Ruhl der niännlichen stark vorgezogen. Das hat seinen Grund in den niedrigen Löhnen für Frauenarbeit. Die Mädchen werden pro Woche mit 8 bis 10, seltener schon mit 1 1 und 1 2 M k. abgespeist. Die Behandlung ist bis auf seltene Ausnahmen nicht gerade schlecht. Es erklärt sich das dadurch, daß bei gutem Geschäftsgang die weiblichen Arbeits- kräfte nicht allzu reichlich vorhanden sind, und daß trotz ihrer sehr großen Gutmütigkeit die Waldmädchen sich Grobheiten nicht ge- fallen lassen. Leider muß konstatiert werden, daß von einer Or- ganisation unter diesem Teile des weiblichen Proletariats bisher noch keine Rede war. Die Frauen und Mädchen legen eine ge- radezu beispiellose Gleichgültigkeit den politischen und Wirtschaft- lichen Fragen gegenüber an den Tag. Während der männliche Teil der Arbeiterschaft in der Ruhl politisch und gewerkschaftlich leidlich gut organisiert ist, mangelt es den Arbeiterinnen noch sehr stark an der Erkenntnis, daß sie sich gleichfalls der Gewerkschaft und der Sozialdemokratie anschließen müssen. Wie nötig täte nicht gerade ihnen Wissen und Macht, Aufklärung und Zusammenschluß. Machen sich doch die Spuren der Degeneration, eine unverkennbare Folgt der Fabrikarbeit, mehr und mehr bemerkbar. Immer größer wird die Zahl der Arbeiterinnen, auf deren Wangen die blühen- den Rosen der Jugend verbleichen, immer größer die Zahl derer, an deren tiefliegenden, matten Augen man erkennt, daß sie zum weiblichen Fabrilproletariat gehören. Noch vor ein paar Jahr- zehnten waren die Mädchen aus der Ruhl und den umliegenden Ortschaften durch ihr kräftiges, vor Gesundheit strotzendes Aus- sehen, gepaart mit Lebenslust und Freude, ohne weiteres erkenn- bar. Nur die Lebenslust und Freud« ist den Arbeiterinnen zum großen Teile noch erhalten geblieben. Noch ein paar Jahrzehnte weiterer kapitalistischer Entwicklung und Auspowerung der Habe- nichtse und— auch die letzten Spuren der Eigenart der Proletarie- rinnen in der Ruhl werden verschwunden sein. Je gleichgültiger die Arbeiterinnen der Organisation gegenüberstehen, je rascher wer- den schon in der frühesten Jugend Not und Sorgen an Stelle von Lebenslust und Frohsinn treten. Möge der Gedanke der Organi- sation unter den Arbeiterinnen der Ruhl und Umgegend recht bald festen Fuß fassen. B. Aus der Bewegung. Hermann Goldsteiu f. Am 14. Juni haben wir einen unserer Besten und Treuesten verloren. Hermann Goldstein ist im Kranken- haus zu Dresden schwerem Leiden erlegen. Jahrzehntelang ist er dem deutschen Proletariat, insbesondere aber dem sächsischen, voran- geschritten, ein Kämpfer und Führer von hoher Art. Begabung und Charakterstärke hatten ihn in die vordersten Reihen geschoben, und hier stellte er seinen Mann, und stellte ihn ganz, je heißer der Kampf um des Proletariats Freiheit tobte, je schwerere Anforde- rungen er geltend machte. Er wurde am 2S. Januar 1852 zu Möckern bei Leipzig als blutarmer Leute Kind geboren. Aus eigener Kraft hat er sich aus dem tiefen Elend des Hütejungen, des kindlichen Tabakrippers in der Fabrik zu einer hohen persönlichen Entwicklung emporgearbeitet, die ihm mit einer wissenschaftlich festgeschlossenen Weltanschauung die Fähigkeit gab, seinem sozialistischen Ideal auf den verantwortungsreichsten Posten zu dienen. Aus eigener Kraft, aber doch nur dank der Erleuchtung, der Willensantriebe, der weit- ausschauenden Ziele, kurz der geistig- sittlichen Werte, welche der proletarische Klassenkampf gibt. Goldstein hat seiner Sache Gabe um Gabe reichlich gelohnt. Sein Leben war das des Proletariers, der, zu geistiger Freiheit gelangt, seine Klassengenossen zum Besitz und Genuß schönen Menschentums führen will. Die Sorge um die eigene Existenz stand daher in diesem Leben an letzter Stelle, es gehörte ganz der Arbeit, dem Kampfe für die sozialistische Idee. Bis die Partei seine Kräfte voll in Anspruch nahm, hat Goldstein sich zuerst als kaufmännisch Angestellter, später als Antiquar recht und schlecht durchgeschlagen, ohne je seiner Überzeugung etwas zu vergeben, stets bereit, für sie zu wirken und zu opfern. Der weit- aus größte Teil seiner verdienstvollen Parteitätigkeit in Dresden siel in die Zeit des Sozialistengesetzes, und Goldstein erfuhr dessen Rücken und Tücken am eigenen Leibe. Im Zeichen des Kampfes gegen die politische Entrechtung des sächsischen Proletariats vor allem ist sein Wirken in Zwickau gestanden, wo er als Redakteur des Parteiorgans, als Reichstags- und Landtagsabgeordneter den Ausgebeuteten das sozialistische Banner vorantrug. Dank der Wahl- rechtsschmach zuletzt der einzige Vertreter der klassenbewußten säch- sischen Proletarier im Landtag hat er allein die Arbeitslast, die Schwere des parlamentarischen Kampfes für das Recht der Massen getragen. Diese ehrenvolle Bürde hat seine starke Kraft vor der Zeit gebrochen. Der sozialistischen Frauenbewegung ist Goldstein von Anfang an ein aufrichtiger Freund und Förderer gewesen. Die richtige Wertung, die er ihr angedeihen ließ, wuchs aus der- selben Wurzel wie seine Stellungnahme zu den Fragen der inneren Parteientwicklung. Das aber war eine wohlbegründete, klare, grund- sätzliche Erkenntnis, die ihn die Tagesarbeit und die Tagespolitik unerschütterlich und unbeirrt durch des Augenblickes Gunst und Ungunst auf das sozialistische Endziel richten ließ. Diese Erkennt- »is hat ihn zusammen mit der Festigkeit und Kraft seiner Uber- zeugung und der Lauterkeit seines Charakters zu dem gemacht, was er ward, zu dem befähigt, was er leistete. Und das wird un- vergessen sein! Von der Agitation. Das Landesparteisekretariat für das Großherzogtum Hessen hatte für die Zeit vom 1. bis 25. Mai in folgenden Orten Versammlungen einberufen, die besonders der Aufklärung der Frauen dienen sollten: Klein-Krotzenburg , Groß-Zimmern , Egelsbach , Langen , Sprendlingen , Neu-Isenburg . Bürgel , Ob er-R od en. Kl ein-Au heim, Heusenstamm , Offenbach , Müh lheim. Nied er-Roden, Urberach , Weißkirchen , Bieber, Gießen , Bensheim und Worms . Die Unterzeichnete hatte die Aufgabe, in diesen Versammlungen über das Thema zu referieren:„Die Frau im politischen Leben". Sie betrat Hessen mit der frohen Erwartung, dort einen zahlreichen und festen Stamm organisierter Proletarierinnen zu finden. Hatte sich doch die in den letzten Jahren betriebene Agitation seitens mehrerer Genossinnen als unmittelbar erfolgreich erwiesen. Der Jahresbericht der hessischen Parteileitung hatte mit Stolz hervorgehoben, daß die fünfwöchige Aufklärungsarbeit von Genossin Fahrenwald allein schon der Sozialdemokratie 800 weibliche
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20 (5.7.1909) 20
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