Nr. 20
Die Gleichheit
Mitglieder gewonnen hatte. Leider hat nicht die Hälfte davon treu zur Organisation gehalten. Die Erfolge, welche unsere Partei beim ersten Anlauf zur Erweckung der Proletarierinnen gehabt hatte, haben die Schwarzen aufmerksam gemacht und zu einer eifrigen Gegenagitation veranlaßt, die ihre Wirkung nicht verfehlte. So kam es, daß in Heusenstamm statt der erwarteten Hunderte ganze 13 Personen die Versammlung besuchten, in Isenburg 31 ( zu einer zweiten Versammlung in diesem Orte war die doppelte Anzahl erschienen), in Ober- Roden und Nieder- Roden 60 bis 80 Personen und in Bürgel 35. Die genannten Ortschaften sind sämtlich große Dörfer mit Arbeiterbevölkerung. Der Besuch der Versammlungen hatte auch darunter zu leiden, daß diese in eine Zeit fielen, in der der Bischof von Ort zu Ort zog, die Firmung statt fand und allerwärts Missionspredigten abgehalten wurden. In Ober- Roden und Nieder- Roden bildeten die Einwohner bei der Ankunft der Referentin auf dem Wege vom Bahnhof zum Versammlungslokal Spalier. Hier und da tönte ihr von den aus den Fenstern blickenden Frauen ein Schimpfwort entgegen. Vier Kapläne verschiedener Dörfer veranstalteten zur Zeit der Versamm lung in Nieder- Roden einen Jugendabend, zu dem auch die Eltern eingeladen worden waren. Die vier Pfäfflein erreichten, was sie gewollt: dem Versammlungsbesuch Abbruch zu tun. In anderen Orten dagegen haben unsere Versammlungen der Frühmesse oder dem Vor- und Nachmittagsgottesdienst Besucher und Besucherinnen entzogen. Manch, christlicher" Wunsch mag darob zum Himmel gestiegen sein! Welche Bedeutung die Schwarzen den sozialdemofratischen Bestrebungen zur Sammlung der Frauen beilegen, erhellt daraus, daß allgemein erzählt wurde, die Geistlichen hätten diesen angedroht, ihnen die Beichte nicht abzunehmen, wenn sie die Versammlungen besuchen würden. Wenn das geschieht, so fahren wir nach Frankfurt ," sagten einige Arbeiterfrauen in NiederRoden zu der Unterzeichneten. Es wurde auch behauptet, die milden Nachfolger Christi hätten den Auftrag erteilt, die Namen der sozialdemokratischen Versammlungsbesucher zu notieren. Das würde den frommen Gottesstreitern ähnlich sehen, die da lehren, daß geschrieben stehet:" Ihr sollt nicht sagen Racha! Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr." Hier und dort nahm wohl einer der Herren die Gelegenheit wahr, eins der„ roten Weiber" anzusehen, vor denen sie den Gläubigen in den Kirchen graulich machen. In Egelsbach fand die Versammlung im Rathaussaal statt, und das Referat wurde vom grünen Tisch aus gehalten, ohne daß es dem Ort erging wie Sodom und Gomorra. In Worms und Bensheim waren die Versammlungen besser besucht als früher und von einem zukunftsfrohen Geist getragen. 120 bis 130 neue Mitglieder wurden der Parteiorganisation durch die entfaltete Agitation zugeführt, die auch den Leserkreis der Parteipresse erweiterte. Die Aufgabe der hessischen Genossen und Genossinnen ist es, durch unermüdliche Kleinarbeit dafür zu sorgen, daß die neugewonnenen Parteimitglieder treu zur Fahne halten, und daß die abtrünnig gewordenen Proletarier sich wieder um sie sammeln. Nicht müde und mutlos darf die schmutzige Kampfes weise unserer Gegner sie machen, sondern sie muß sie aufstacheln zu weiterer zäher Arbeit für das, was sie als recht erkannt haben. Dann wird der Sieg auch in den Zentrumsdomänen unser werden.
Marie Wadwig.
Am 9. Juni tagte in Oelsnit i. V. im Hotel„ Norddeutscher Hof" eine öffentliche Frauenversammlung. Schuld daran, daß ihr Besuch nicht besser war, trägt die Heimarbeit, die in Delsnig die Frauen von solchen wichtigen Zusammenfünften abhält. Genosse Vogel referierte über das Thema:„ Welchen Wert hat die Bildung für die Arbeiterin?" Er erläuterte die Notwendigkeit der politischen Organisation der Proletarierinnen, die unter der Lage ihrer Klasse am meisten zu leiden und deshalb die Pflicht haben, sich aufzuklären und Seite an Seite mit den Männern eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder zu erkämpfen. Zur Diskussion meldete sich niemand. Es wurde der Wunsch ausgesprochen, daß derartige Vorträge oder Vorlesungen öfter abgehalten werden möchten. Die Verwaltung versprach, ihm nachzutommen. Hoffen wir, daß die Gedankenſaat, die in Oelsnitz erst seit furzem unter den Frauen ausgestreut wird, reiche, gute Früchte seitigt.
Politische Rundschau.
M. V.
Am Freitag den 25. Juni hat der Reichstag in namentlicher Abstimmung mit 194 gegen 186 Stimmen die Erbschaftssteuer abgelehnt. Damit war die Entscheidung gefallen die Junker und das Zentrum haben der Regierung ihren Finanzreformentwurf zerrissen vor die Füße geworfen. Vergebens hat Bülow die Junker
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durch Nachgiebigkeit versöhnlich zu stimmen gefucht; vergeblich hat er ihnen zuliebe die ohnehin schon trüppelhafte Nachlaßsteuer zur Erbanfallsteuer verstümmelt, die nur 55 Millionen bringen sollte. Die Herren Großgrundbesitzer wollen überhaupt nicht zahlen und vor allem nicht in der Besteuerung der Erbschaften dem Staate die Mittel geben, hinter ihre gewohnheits- und gewerbsmäßige Einkommensteuerhinterziehung zu kommen. Die Rede ohne Kraft und Saft, mit der der Kanzler die Junitagung des Reichstags eröffnete, half nichts. Ganz wirkungslos verpuffte es, daß Bülow nochmals die Finanzreform ohne Erbschaftssteuer als unannehmbar erklärte und seinen Rücktritt im Falle der Ablehnung als Möglichkeit hinstellte. Den Junkern liegt selbst an diesem hochagrarischen Kanzler sehr wenig. Sie sind sicher, daß doch wieder einer kommen muß, der nach ihrer Pfeife tanzt. Das einzige, was ihnen unbequem gewesen wäre, würde die Reichstagsauflösung sein. Daß aber Bülow die nicht wagen wird, das haben die agrarischen Schnapphähne und ihre Zentrumstroßbuben aus seiner Rede vom 16. Juni mit ziemlicher Gewißheit entnehmen können. Übrigens könnten sie es schließlich auch auf die Auflösung ankommen lassen. Sie haben das beruhigende Bewußtsein, daß eine Regierung, die Wahlen gegen die Konservativen macht, einfach keinen Gehorsam bei der preußischen Bureaukratie finden würde, die ja in ihren höheren Schichten ausschließlich aus Junkern besteht. Und solange die Großgrundbesitzer die preußische Verwaltung und dank dem Dreiklassenwahlrecht den preußischen Landtag und die preußische Regierung in der Hand haben, so lange fühlen sie sich sicher und können sie selbst den Verlust einiger Reichstagsmandate verschmerzen. Die der rein ländlichen Wahlkreise sind ihnen ja ohnehin sicher, solange die Masse der Landarbeiter und Kleinbauern noch nicht zur Erkenntnis ihrer wirklichen Interessen gereift sind.
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So haben die preußischen Junker die Trümpfe in der Hand. Mit Antisemiten und Polen zusammen liefert ihnen das Zentrum eine Mehrheit. Denn in dieser Partei haben die katholischen Junker die Führung, und die Arbeitervertreter" müssen die arbeiterfeind lichsten Beschlüsse gehorsam schlucken. Diese reaktionäre Mehrheit hat sich rücksichtslos daran gemacht, den in der vorigen Nummer geschilderten Steuerplan der Junker und der Kirche aus der Rumpfkommission durchzupeitschen. Konservative und Zentrum haben die Geschäftsordnung des Reichstags brutal unter die Füße getrampelt und so den größten Teil dieser Steuern in zweiter Lesung durchgebracht. Ebenso radikal haben sie die Erbschaftssteuer abgelehnt- fie ließen nichts von ihr übrig, so daß sie nicht einmal in die dritte Lesung kommt.
Es war die denkbar schärfste Herausforderung an die Regierung. Eine Regierung, die auf ihre politische Würde hält, die Wert darauf legt, daß ihren Worten Gewicht und Bedeutung beigemessen wird, hätte gar nicht anders antworten können als mit der sofortigen Auflösung des Reichstags. Aber natürlich erfolgte diese Antwort nicht. Und schon jetzt ist klar, daß Bülow weder auflösen noch gehen wird. Zwar hat er den Kaiser um seine sofortige Demission gebeten, aber dessen Wunsch entsprechend bleibt er im Amte. Der Vortrag über die Lage vor dem Kaiser in Kiel ist getreu dem Programm ausgefallen, das seine journalistischen Bedienten im„ Lofalanzeiger" verkündet hatten. Eine beschönigende Formel soll das klägliche Ver halten decken: der große selbstlose Bülow bringt durch sein Kleben am Kanzlerposten ein patriotisches Opfer, damit die Reichsfinanzreform zustande kommt. Er wird dafür sorgen, daß von den Steuerplänen des konservativ- klerikalen Blocks diejenigen, die der Börse und der Großindustrie weh tun, nach Möglichkeit gemildert werden.
Die neuen Verbrauchssteuern, die die Massen belasten, heißt die Regierung ohne weiteres gut! Nach dem erhabenen Grundsatz: Wenn nicht, denn nicht! wird Bülow die Reichsfinanzreform ohne Erbschaftssteuer machen. Die Genarrten dabei sind die National liberalen und Freifinnigen, die jetzt der zerkrachten Blockherrlichkeit nachtrauern und die Reichstagsauflösung fordern. Sie haben im Reichstag erklärt, daß nach der Ablehnung der Erbschaftssteuer die indirekten Steuern für sie unannehmbar geworden seien und daß sie also die ganze Finanzreform ablehnen wollen. Aber damit werden sie den Triumph der Junker und des Zentrums nicht verhindern. Zwar soll Bülow auch einmal unter der Hand erklärt haben, er werde die Reichsfinanzreform nicht gegen die Liberalen machen. Allein es wird diesem Politiker des Fortwurstelns um jeden Preis wahrlich nicht viel verschlagen, wenn er neben seinen feierlichen offiziellen Erklärungen auch noch diese nichtoffizielle Lügen strafen muß. Mehr als er durch seine Unterwerfung unter den Willen der Junker an Ansehen verliert, kann er ja ohnehin nicht verlieren.
Übrigens ist es noch durchaus nicht ausgemacht, daß es den Liberalen mit ihren Rufen nach der Auflösung so sehr ernst ist.