392

Die Gleichheit

den, deren Zinserträgnisse mit weiteren festen Zuschüssen des Reiches über 100 Millionen Mark pro Jahr betragen würden und für die Hinterbliebenenversicherung benützt werden könnten, Das arbeitende Volt hat sein Versprechen und daher sicher auch ein Recht, sich darauf zu berufen. Es zahlt in erster Linie die Millionen an indirekten Steuern, welche die Überschüsse zur Versicherung abwerfen sollten. An dem Reichsdalles hat es wahrlich keine Schuld, denn die Aufwendungen für Arbeiter­interessen sind sehr gering: für Invalidenrenten zum Beispiel nur 50 Millionen Mark pro Jahr. Die indirekte Steuerlaft beträgt aber sogar ohne die Steigerung durch die Finanz­reform" über 20 Mt. pro Kopf gegen 7 Mt. im Jahre 1878. Die großen Zahlen, die gelegentlich genannt werden, dürfen uns nicht verblüffen. Man betont 100 Millionen Mark Zuschuß für die Hinterbliebenenversicherung. Man vers gißt aber, hinzuzufügen, daß wir in Deutschland   über 60 Mil lionen Einwohner haben, die Hunderte von Millionen an in­bireften Steuern aufbringen. Das zu übersehen führte ebenso zu einem falschen Schluß, als wenn man bei einer Krankenkasse nur die Gesamtsumme der Ausgaben in Betracht ziehen wollte und nicht auch die Mitgliederzahl, so daß eine Berechnung pro Kopf möglich ist. Soll die Hinterbliebenenversicherung praktisch etwas bedeuten und nicht nur ein armseliger Zuschuß zu der Armenunterstügung sein, so muß auch Vater Staat tiefer in die Tasche greifen, die ja jetzt erst wieder mit neuen 500 Millionen Mark von den Steuerzahlern gefüllt werden wird.

-

Durch eine wirksame Hinterbliebenenversicherung würden auch die Gemeinden fünftig sehr entlastet. Sie könnten dann, wie sie das heute schon hier und da tun, größere Zuschüsse zu ben Arbeitslosenversicherungen usw. gewähren, ebenso auch zur Hinterbliebenenversicherung selbst je nach ihrer Leistungsfähigs feit größere Summen beitragen.

So wie der Entwurf ist, darf das Gesetz nicht zustande kommen. Es wäre ein Schlag ins Wasser, wenn man aus Sparsamkeit und mit Bruch eines Versprechens an das ar­beitende Volk jetzt nur invaliden Witwen die Rente zahlen würde. Man weiß ja, daß dann 90 Prozent aller Witwen fterben würden, ehe sie in den Genuß der Rente kämen. Welcher

Sturm der Entrüstung würde losbrechen, wenn zum Beiſpiel der Staat aus Sparsamkeit fünftig nur den invaliden Witwen seiner Beamten, Lehrer usw. Renten und noch obendrein in der färglichen Höhe der Hinterbliebenenversicherung zahlen wollte. Massenversammlungen der Beamten würden mit Recht abgehalten werden. Das arbeitende Volk hat aber noch mehr Anspruch auf entsprechende Rente der Hinterbliebenen, weil im Todesfalle seine Witwen und Kinder viel ärmer sind als die vieler Staatsbeamten, die auch im Krankheitsfalle oft weit besser baran waren.

Wer das Wohl des arbeitenden Volfes im Auge hat, kann den Entwurf in seiner heutigen Fassung nicht annehmen und muß mit uns eintreten für Verbesserungen. Die Versicherungs­gesetzgebung soll für das Volk sein, sie muß daher so gestaltet werden, daß dieses mit der Zeit seine Beiträge gern zahlt und mehr Interesse an den Versicherungseinrichtungen zeigt. Heute jammern schon Greise und Invaliden, fünftig jammern auch die Witwen und Waisen über Hungerrenten. Das muß anders werden, wenn die Versicherungsgesetzgebung ihren Zweck ers reichen soll. Wer an die Zukunft seiner Familie denkt, wird mit uns im Kampfe für Verbesserung dieser Vorlage stehen.

Die Landarbeiterin

und die Sozialdemokratie.

Das wirtschaftliche und soziale Elend, das dem Proletariat niederdrückend wie ein Mühlstein am Halse hängt, übt auf die einzelnen nicht überall und jederzeit die gleiche Wirkung aus. Die Stellung im Wirtschaftsleben, örtliche und sonstige Gewohn heiten spielen dabei meist eine entscheidende Rolle.

Wo nicht Geist und Körper zermürbende Ausbeutung, auf die Erzielung von sklavischer Unterwürfigkeit gerichtete Er

Nr. 25

ziehung und Alkoholismus   jede Denkfähigkeit erstickt und die Widerstandskraft gebrochen haben, da werden die mißlichen sozialen Verhältnisse bei den Bedrückten das Bestreben aus­lösen, sich ihnen zu entziehen. Der Industriearbeiter hat längst erkannt, daß der Kapitalismus   seine gierigen Fänge über die ganze Welt ausstreckt, daß er sich durch Aufenthaltswechsel seiner Ausbeutung nicht entziehen kann. Er ist daher zu der Erkenntnis gekommen, daß er nur durch den solidarischen Zu­sammenschluß mit seinen Klassengenossen und vereintem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung dieſe mildern und eines Tages ganz beseitigen fann. Anders das Landproletariat, ins besondere das ostelbische.

Diesem zeigt sich ein Weg, den unerträglich gewordenen Verhältnissen zu entgehen. Die oftelbischen Landproletarier können sich aus der junkerlichen Sklaverei in die industrielle Fron hinüberretten. Das haben sie in den letzten Jahrzehnten auch in so erheblichem Umfang getan, daß sich das ostelbische Agrariertum vor ein sehr schwieriges Problem gestellt sieht. Der Arbeitermangel auf dem Lande bedroht es in seinem Profit.

Das einzige Mittel zur Abstellung oder Milderung dieser Kalamität, die Schaffung erträglicher Verhältnisse für die Aus­gebeuteten, widerspricht zu sehr der junkerlichen Wirtschafts­und Denkweise, als daß es verwirklicht werden könnte. Die Junter schreien daher nach gesetzlicher Beschränkung der Frei­zügigkeit und lassen den Arbeitern Heimatsliebe predigen, nach­dem sie ihnen die Heimat verleidet haben. Welche Wirkung solche Predigt hat, erhellt aus dem Briefe eines ostpreußischen Landarbeiters, den der Landbote" seinerzeit veröffentlicht hat. Dort heißt es:

,, Meine Herren! Hier in.... wird in Kirche nicht Wort Gottes gepredigt, sondern daß wir nicht sollen ziehen in die Welt und in große Städte. Auch unsere Kinder sollen nicht ziehen nach Berlin  , sondern bleiben in Ostpreußen   auf dem Lande. Weiter wird uns gepredigt, was wir für Bilder in der Stube haben sollen. Kaiser­und Patenbilder, aber feine gottlose Bilder sollen wir haben. Das predigt der Seelsorger uns immer.... Aber solche Predigten halten feinem ab, seine Heimat zu verlassen. Hier sind zu schlechte Zu­stände, um die der Pfarrer sich aber nicht fümmert."

ßischen Junker, die Ostpreußische Zeitung", die die Bestrafung Und in einer Polemik gegen das Hauptorgan der oftpreu­

des Kontraktbruchs gefordert hatte, sah sich das Stöckersche ,, Reich" genötigt, folgendes zu schreiben:

,, Die Sache hat auch ihre Kehrseite. Raum in einem anderen Teile des Reiches wird man so viele ganz unzureichende Arbeiter­wohnungen finden als in Ostpreußen  . Es gibt tatsächlich Güter und Dörfer, in denen für das Vieh viel besser vorgesorgt ist als für die Menschen; das Vieh wohnt in gut gemauerten Häusern, die Menschen in elenden, stallartigen Baracken."

Am Schlusse erklärte das fromme Blatt:

" Im ganzen und großen liegt ein erheblicher Teil der Schuld der unerfreulichen Zustände daran, daß sich die Besitzer nicht in die höheren Kulturansprüche der Arbeiter finden können. Es wür­den sicher nicht so viele davonlaufen, wenn die Verhält­nisse nicht oft wirklich zum Davonlaufen" wären."

Derartige Wahrheiten, die sogar in konservativen Kreisen ausgesprochen werden müssen, prallen wirkungslos an den harten Schädeln der ostelbischen Granden ab. Sie denken nicht daran, das Los ihrer Arbeiter und Arbeiterinnen erträglicher zu gestalten. Nach wie vor kehren sie den Herrenmenschen heraus und lassen es den Ausgebeuteten fühlen, daß sie minderen Rechts find. Mit buntem Firlefanz versuchen sie ihn über seine elende Lage hinwegzutäuschen und an die Gutskette zu legen. Wie niedrig fie dabei die Urteilsfähigkeit ihrer männlichen und weib­lichen Lohnsflaven einschätzen, beweist folgende von der Land­wirtschaftskammer für die Provinz Posen   in ihrem Amtsblatt veröffentlichte Arbeiterprämiierungsordnung, die so bezeichnend ist, daß ich ihren Inhalt hier kurz wiedergeben möchte:

,, Arbeitgeber, die ihrem Gesinde, Arbeitern usw. Auszeichnungen zukommen lassen wollen, haben derartige Anträge dem zuständigen landwirtschaftlichen Verein oder dem Königlichen Landratsamt ein zureichen, die ihrerseits die Anträge mit einem Begleitschreiben an die Landwirtschaftskammer zur endgültigen Entscheidung weitergeben.