406Die GleichheitNr. 26Die meiste Zeit wird von meiner Arbeit verschlungen. Verstehemich recht. Nicht daß ich damit unzufrieden wäre, ich habe imGegenteil die Arbeit sehr schätzen gelernt. Nur möchte ich etwaSmehr Zeit für mich haben. Gar zu gern möchte ich lernen, mitmehr Freude zu leben, und ich denke, daß ich dies nur durch geistigeArbeit erreichen kann. Dazu brauche ich etwas Anleitung, undnicht wahr. Du willst mir helfen.Ich glaube, es ist ein Erbfehler, daß ich manche? so schwernehme. Täglich muß ich deshalb mit mir schelten, aber täglichbringen mir Augen und Ohren Kunde von Dingen, von Ereig-nissen, die mir das Leben von der Schattenseite zeigen.Wohl steht eS bei mir fest, daß es jetzt in der Welt ganz andershergeht als wie früher, aber besser, daran möchte ich zweifeln.Das Leben der Menschen hängt heute, so scheint mir, ganz vonden Maschinen ab. Alles ist maschinenmäßig geregelt. Gereichtuns das zum Heil oder Unheil? Gehen wir einer schönen Zukunftentgegen, wer und was verbürgt uns sie? Mein innigster Wunschist es, daß ich mich geistig entwickle, um Antwort auf alle Fragenzu finden, die mich quälen. Nur nicht dumm bleiben!Du müßlest mich so weit kennen, daß ich Dich wegen Deinersozialistischen Ansichten keinen Narren heiße. Im Gegenteil, ichrechne es Dir sehr hoch an, daß Du auS eigener Kraft Deine Kennt«niffe um vieles bereichert hast.Doch nun habe ich wahrlich genug über mich„genöhlt", wie eshierzulande heißt. Sehr egoistisch von mir, nur von mir zu sprechen.Doch Du verstehst, wie es gemeint ist, sonst würde ich mich hüten,Dir so zu schreiben. Bald sollst Du Vernünftigeres von mir hören.Hoffentlich geht eS Euch allen gut. Schreib mir doch bitte, bald.Ich hätte trotz aller Arbeit doch schon eher geschrieben, aber es hält soschwer, wenn man innerlich stark bewegt ist, was man denkt, schreibendin Worte zu fassen. Schließlich wird nur Wirrwarr daraus.Sei nebst allen herzlich gegrüßt von Deiner Schwester.Liebe Schwester!Über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut, zeigte er mirdoch, daß Du aus dem Sumpfe kleinbürgerlichen Denkens heraus-strebst. Mit Recht klagst Du, daß Deine Arbeitsgenossinnen mitunheimlicher Ausdauer tagaus tagein dieselben einfältigen Dingebehandeln. Verwunderlich ist das aber nicht, waS sollen sie auchin den Kreis ihrer Reden ziehen? Ein altes Sprichwort sagt:„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." Di« herrschendenGesellschaftsklassen sorgen durch die Volksschule schon dafür, daßdas arbeitende Volk in Unkenntnis, in Vorurteil und Gedanken«losigkcit bleibt, damit es mit seiner mehr als jämmerlichen Existenzini stumpfen Hinbrüten„zufrieden" ist. Gab denn die VolksschuleDir und mir. Deinen Mitarbeiterinnen, ja der ganzen arbeitendenBevölkerung mehr Wissen und wirkliche Bildung, als zur Berufs-tätigkeit unbedingt erforderlich ist? Ja nicht einmal für eine solchebereitet sie genügend vor. Die Arbeiterklasse schafft mit ihremMühen die Grundlage der heutigen Kultur und erhält die Klasseder Kapitalisten. Sie ist heute die wichtigste Klasse der Bevölke-rung. Aber ihr mehr Wissen zu geben, davor hütet sich die Herr-schende Gesellschaft wie vor dem Feuer. Die Existenz dieser Gesell-schaft ist in Frage gestellt, sobald sie beginnt, den Arbeitern dasWissen in vollem Umfange zugänglich zu machen. Das soll einVorrecht der Besitzenden und Herrschenden bleiben. Dieses Vor-recht hilft mit dazu, den kapitalistischen Klassen den Alleinbesitz anGrund, Boden und allen Produktionsmitteln zu sichern.Du wirst mich in Gedanken fragen, was das Wort Produktions-mittel bedeutet. Man versteht darunter alle Rohstoffe, Maschinen,Werkzeuge, Gebäude usw., die der Erzeugung aller der Gebrauchs-gegenstände oder Güter dienen, die die Menschen bedürfen. DasWort Produktion heißt Erzeugung und wird heute im Wirtschasts-leben im Sinne von Gütererzeugung gebraucht.Du siehst schon, daß die Sachlage einer Schlange gleicht, diesich in den Schwanz beißt. Die besitzenden und herrschenden Klassenhaben Reichtum, Macht, und darum haben sie auch Wissen, undweil sie Wissen haben, darum haben sie auch Macht. Diesenverhängnisvollen Kreis müssen die arbeitenden Massen sprengen.Sie müssen den Herrschenden den Alleinbesitz an Wissen streitigmachen— denn:„Wissen ist Macht!" Aber sie dürfen nicht ver-gessen, daß erst die Macht ihnen unbeschränktes Wissen gibt. Erstwenn sie die Macht des Reichtums, fremde Arbeit auszubeuten,sich nutzbar zu machen, zerschmettert haben, können sie ihren Bil-dungsdurst stillen. Solche Macht erlangen aber die Armen, diesich von den Besitzern d»r Produktionsmittel ausbeuten lassenmüssen, durch den Zusammenschluß, die Organisation. Die Or-ganisation derer, die in fremden Diensten arbeiten, ganz gleich, ob»ut Hand oder Hirn, kämpft dafür, daß die Ausbeutung des Men-schen durch den Menschen beseitigt wird. Sie bedarf klar blicken-der, fest wollender und opferfreudiger Glieder. Wenn Du erst einenbesseren Einblick in mancherlei Fragen gewonnen hast, die ich heutenur flüchtig berühre, so mußt auch Du Dich den Kämpfern undKämpferinnen für dieses Ziel zugesellen.Damit Du das aber aufgeklärt, aus voller Überzeugung tunkannst, so vertiefe Dich in das Studium der GesellschaftSwissen«schaften, die sich mit den Verhältnissen und Zuständen innerhalbder menschlichen Gesellschaft beschäftigen. In jeder Arbeiterbibliothekerhältst Du Schriften, die in diese? Gebiet gehören. Einzelne hierzu nennen, würde zu weit führen, vielleicht beginnst Du mit demLesen der beiden Broschüren von Lassalle,„Arbeiterprogramm",„Ka-pital und Arbeit", und nimm nach dem Schriftchen„Ziele und Wege"das„Erfurter Programm" von KarlKautsky durch. HastDuDich nochmehr in die Arbeiterfrage vertieft, so mußt Du später unbedingt das„Kommunistische Manifest" von Marx-Engels lesen. Auch daZStudium geschichtlicher Werk« ist notwendig. Ich würde Dir zu-nächst folgende Bücher empfehlen:„Die französisch« Revolution"von Peter Kropotkin,„Die deutsche Revolution von 1848" vonW. Bios und die„Geschichte der Kommune" von Lissagaray. Dahast Du natürlich mehr als ein Jahr zu tun, bis Du Dich„durch-studiert" hast.Über die Natur mußt Du Dir ebenfalls Klarheit verschaffen.Erst wenn Du mit dem Cchöpfungsmärchen der Bibel und denstarren Glaubenssätzen der Kirche gebrochen hast, wirst Du in denStand gesetzt, die Welt unbefangen zu betrachten. Du mußt Dichmit dem Gedanken vertraut machen, daß alles natürliche Sein dieFrucht einer Kette von Entwicklungen ist und bestimmten innerenGesetzen gehorcht. Verschaffe Dir zuerst das Buch„Moses oderDarwin" aus der Sammlung„Aus Natur und Wissenschast" vonProfessor Arnold Dodel.(Internationale Bibliothek. Verlag vonI. H. W. Dietz Nachf., Stuttgart.) Auch an den anderen Bändendieser Sammlung wirft Du viel Freude haben. Sie geben Dirreiche Belehrung und Anregung zum selbständigen Denken undschärfen Deinen Blick für das Schöne und Groß« in der Natur.Als Ergänzung zu diesen Büchern ließ die beiden Bändchen vonOr. W. Meyer„Weltschöpsung" und„Weltuntergang".(VerlagKosmos, Stuttgart.) Bist Du aber erst vorgeschrittener, so arbeitegründlich das Buch durch„Der Darwinismus und die Problem»deS Lebens" von Dr. Konrad Günther.(Volksausgabe, VerlagFehsenfeld, Freiburg i. Br.)Die Züricher Novellen von Gottfried Keller wie die Erzählungenvon Theodor Storm und die Gedichte von Ada Regri, die ich Dirschickte, haben Dich gewiß ganz gefangen genommen. Vergiß miraber darüb»r unsere Klassiker nicht. Unter den Büchern, die Duvon mir erhalten hast, möchte ich noch ein bescheidenes WerkchenDeiner besonderen Aufmerksamkeit empfehlen. Es hat den Titel:„Sonntage eines großstädtischen Arbeiters" von Kurt Grottewitz.(Verlag Vorwärts, Berlin.) Lies es, und Du wirst die Schön«Helten der Natur auf Deinen Wanderungen doppelt empfinden.Daß Du neben all den Broschüren und Büchern regelmäßig„Di»Gleichheit" lesen sollst, Halbmonatsschrift für die Interessen derArbeiterinnen, versteht sich. Sobald Du sehend geworden bist, wirstDu keine trübseligen Stunden mehr haben. Das Zauberwort:„Er-kenntnis" ist der Schlüssel zur Freude. Du wirst das Scheinparadiesder Unwissenheit mit dem Paradies des Wissens vertauschen.Es grüßt dich von HerzenDein Bruder Fr. Pritschow.Bilder von der schweizerischenHeimarbeitausstellung.Die„Gleichheit" hat in Nr. 21 schon einen Aufsatz überdie Verbreitung der Heimarbeit in der Schweiz und über dieVorarbeiten der Heimarbeitausstellung gebracht, die just zur �Zeit des größten Fremdenverkehrs in einem Schulhaus Zürichsvon: großen Elend der Heiniarbeiter und-arbeiterinnen desschönen Landes predigen sollte.Von den in der Heimarbeit beschäftigten Personen, derenZahl auf 130000 bis 150000 geschätzt wird, sind ungefährDreiviertel Frauen und Kinder. Stark verbreitet ist die Heim-arbeit in der Textilindustrie und in der Uhrenfabrikation, zweiIndustrien, mit denen die Schweiz auf dem Weltmarkt einenhervorragenden Platz einnimmt. Auch in anderen Industrien,besonders in der Konsektion, Holzschnitzerei, Strohindustrie sindjedoch viele Heimarbeiter beschäftigt. Gesetzlicher Schutz existiert