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Die Gleichheit

der bürgerlichen Presse, seine Begnadigung zu fordern. In der ,, Humanité" hat Jaurès eine schamlose Infamie der Armeeleitung enthüllt. Ein Infanteriehauptmann Gerard, der seinen Dienst stets gut verrichtete, aber sozialistische Gesinnung verriet und deshalb von einem Kameraden angeflegelt wurde, sollte als geistestrank im Irrenhaus eingesperrt werden. Die Regierung sucht die Maßregel wahrheitswidrig als durchaus einwandfrei hinzustellen, die bürger­liche Presse sucht den Fall vorläufig zu vertuschen.

In Griechenland gab es eine unblutige Revolte einiger Truppenteile, die von ihren Offizieren geführt wurden. Ste brachte den Sturz des Ministeriums und das Ausscheiden der Prinzen aus ihren bevorzugten Stellungen in der Armee. Das neue Ministerium hat das Programm der Aufständischen angenommen, das Er­sparungen in der inneren Verwaltung will, damit Heer und Flotte beffer ausgebaut werden können. Die Bewegung entzündete sich an der Kretafrage, die schwächliche" Haltung der Regierung rief den Bern der Patrioten" wach. Im Hintergrund der Ereignisse steht also das Streben nach Ausdehnung des Staates, nach An­gliederung der in der Türkei wohnenden Griechen. Daneben spielt aber die Empörung über die Lotter- und Günstlingswirtschaft der Hofclique und der Parteiführer mit. Das Bürgertum sympathisiert mit der Bewegung, von der es eine Reform der verderbten Ver­waltung und der Parteiverhältnisse erhofft. Die sozialistische Be­wegung steckt in Griechenland noch in den allerersten Anfängen, da das Lohnproletariat erst in der Entstehung begriffen ist. H. B.

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Gewerkschaftliche Rundschau.

Eine so starke wirtschaftliche Depression, wie sie das Jahr 1908 brachte, erschwert natürlich die Kämpfe der Gewerkschaften für Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Schon als im Jahre 1907 die Krise einsetzte, trat eine Abnahme in der Zahl der Lohnbewegungen ein. Es begreift sich, daß der Rückgang im Jahre 1908 ein noch weit erheblicherer war. Die dem gewerk­schaftlichen Kampfe ungünstigen Verhältnisse, welche die Krise zeitigt, entscheidet nicht bloß über die Zahl der Bewegungen, sondern auch über ihre Art. Während die Kämpfe sich stark verminderten, mittels deren die Ausgebeuteten eine Verbesserung ihrer Lage erzwingen wollten, nahm die Zahl der Bewegungen zu, die der Abwehr einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen dienten. Mit anderen Worten: der wirtschaftliche Niedergang drängte die organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen aus der Offensive, dem Angriff, in die Defensive, die Verteidigung. Die Ziffern der Statistik lassen das deutlich erkennen. 1908 wurden 5837 2ohnbewegungen überhaupt verzeichnet gegen 8053 im Jahre 1907. Diese Bewegungen erstreckten sich auf 15758 Orte und 49117 Betriebe mit 742704 Ar­beitern und Arbeiterinnen. Ohne Arbeitseinstellung wurden 63,7 Prozent der Bewegungen für 449434 Personen durchgeführt, davon waren 88,9 Prozent erfolgreich. Etwas über die Hälfte, nämlich 51,8 Prozent der gesamten Bewegungen, brachten den Ar­beitern Erfolg, 24,4 Prozent endeten mit teilweisem Erfolg und 20,3 Prozent blieben erfolglos. 92091 männliche und 10513 weib­liche Arbeitskräfte, die sich auf 55 Verbände verteilten, waren an Lohnkämpfen beteiligt. Die Gesamtausgabe der Verbände für die Unterstützung der Lohnbewegungen betrug 4624325 M.( 1907 12364082 Mt.). Die Zahl der Angriffstreits hat sich gegen das Jahr 1907 um 36,3 Prozent und die Zahl der daran beteiligten Proletarier um 21 Prozent verringert. Die Zahl der Abwehr­streits ist dagegen um 106 Prozent gestiegen und die Zahl der baran beteiligten Personen um 174,7 Prozent. Die Aussper­rungen haben bedeutend mehr Arbeiter und Arbeiterinnen be= troffen als im Vorjahr. Sie erstreckten sich auf rund 104700 Per fonen gegen 60500 im Jahre 1907.

Die Resultate aller Bewegungen zusammen sind Arbeitszeit­verkürzung für 59324 Personen in der Höhe von 183751 Stunden pro Woche und Lohnerhöhungen für 236 641 Personen im Ge­samtbetrag von 365923 Mt. pro Woche; außerdem wurden noch für 175 687 Personen sonstige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erzielt. 1860 torporative Arbeitsverträge wurden für 282958 Personen abgeschlossen.

Bezeichnend ist, daß eine Anzahl Abwehrbewegungen sich gegen eine Berlängerung der Arbeitszeit richten mußte, die von ben Unternehmern geplant wurde. Und das in dieser Zeit geradezu erschreckender Arbeitslosigkeit! Die vorliegende Statistik ist ein be redtes Zeugnis dafür, daß die Gewerkschaften imftande waren, sogar in der Beit starten wirtschaftlichen Niedergangs nicht nur Lohnverschlechterungen erfolgreich abzuwehren, sondern obendrein nicht zu unterschäßende Verbesserungen der Lohn- und Arbeits­bedingungen zu erringen. Selbstredend könnten die Verbände in

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jeder Hinsicht noch weit größere Erfolge erzielen, wenn nicht so viele Arbeiter und Arbeiterinnen noch immer völlig ihre Klassens interessen verkennen und indifferent den Gewerkschaften fernbleiben würden. Diese Stumpfsinnigen und Gleichgültigen leisten den Unter nehmern unbewußt Vorspanndienste und ermöglichen es ihnen, die schlimmsten Ausbeutungs- und Scharfmacherpraktiken durchzusetzen.

In der Holzindustrie ist ein größerer Lohnkampf im Gange. In Mannheim und Ludwigshafen drängten die Arbeiter auf den Abschluß eines Tarifvertrags. Die Unternehmer aber wollten die von den Arbeitern gestellten Bedingungen nicht anerkennen und schleppten die Verhandlungen hin. Darauf traten 800 Holzarbeiter und 200 Glafer in den Ausstand. Die Unternehmer planen nun eine große Aussperrung, die sich über ganz Südwestdeutschland er­strecken und in Frankfurt a. M. ihren Anfang nehmen soll.

Der Bauarbeiterstreik in Saarbrücken endete nach fünfzehn­wöchigem Kampfe leider mit einer Niederlage der Arbeiter. Schwarze Listen, strupellose Polizeihilfe für Unternehmer und Streikbrecher und gemeinste Lügen der Kapitalistenpresse haben die Streifenden niedergerungen. Die Unternehmer selbst empfinden den Ausgang des Kampfes als einen Pyrrhussieg und stellen für die Zukunft Ver­handlungen in Aussicht.

Von kleineren Plänkeleien abgesehen, ist es gegenwärtig auf dem wirtschaftlichen Kampfplatz ziemlich still. Erwähnung verdient, daß der Brauereiarbeiterverband eine größere Anzahl lokaler Tarife abschließen konnte. Besonders erfreulich ist dabei die Tat­sache, daß für mehr als 30 000 Berufsangehörige Ferien tariflich festgelegt wurden. Eine Brauerei in Hannover zahlt ihren Ar­beitern außer dem Lohn in der Zeit der Ferien auch noch pro Woche 15 Mt. Extravergütung. Die Brauereien mögen es wohl jetzt in einer Zeit, die recht kritisch für sie ist, nicht noch auf Diffe­renzen mit ihren Arbeitern ankommen lassen.

Im Tabakgewerbe werden täglich weitere Arbeiterentlassungen gemeldet. Der berühmte Viermillionenfonds scheint dagegen nur aus unereichbarer Ferne den Arbeitern gezeigt zu werden, die durch die geniale Steuerpolitik so schwer geschädigt wurden. So viel ist schon sicher, daß die Steuerbewilligungsmaschine so schnell wie mit dem Hegeneinmaleins gearbeitet hat, während die Anträge auf Reichsunterstützung mit aller Umständlichkeit und Langsamkeit er­ledigt wurden, deren eine einsichtslose Bureaukratie fähig ist. In der Tagespresse sind dafür drastische Beispiele veröffentlicht worden. Nicht einmal die Behörden wußten, wer von ihnen für die Empfang­nahme der Unterstützungsanträge zuständig ist. Die Antragsteller wurde von Pontius zu Pilatus geschickt, und unter diesem an= mutigen Spiel verstrich längst die gesetzliche Frist, in der sie schon im Besitz der Unterstützung sein sollten.

Welche Wirkung die neue Tabatsteuer auch auf die Neben­berufe der Tabakindustrie ausüben fann, wird der Holzarbeiter­verband für seine Berufsangehörigen feststellen, die in Zigarren­tistenfabriken beschäftigt sind. Er will dadurch auch für diese Geschädigten die Unterstützung aus Reichsmitteln erwirken.

Die christlichen Gewerkschaften müssen unterdessen aus­effen, was ihre Führer im Reichstag eingebrockt haben. Die christ­lichen Arbeiter verspüren nun am eigenen Leibe die Schwere und Niedertracht des Interessenverrats, dessen sich die leitenden Herren als politische Kulis bürgerlicher Parteien schuldig gemacht haben. Und sie ziehen natürlich genug die Konsequenzen ihrer Erkenntnis. Aus den christlichen Gewertschaften treten Mitglieder demonstrativ unter Hinweis auf den verübten Arbeiterverrat aus. Dem An­schein nach beginnt dem Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften darob endlich das schwarze Gewissen zu schlagen. Es wehtlagt über die Möglichkeit, daß die Ausführungsbestimmungen über den Vier­millionenfonds von den unteren Verwaltungsbehörden nicht im Sinne des Gesezes ausgelegt werden könnten, ja daß sogar die eine Bestimmung eine Handhabe für Lohnreduktion zu geben ver­möchte. Ein solcher Versuch zu solchem Mißbrauch liegt tatsächlich vor. Eine Zigarrenfirma, deren Personal streifte, verlangte von einer Behörde, daß diese ihre Arbeiter ausweisen sollte, die um die Reichsunterstützung eingekommen seien. Die Behörde sagte diese Art Streitbrechervermittlung zu, verweigerte sie aber später. Jeden­falls hatte sich die vorgesetzte Instanz ins Mittel gelegt, die durch die Proteste der Arbeiter auf den Standal aufmerksam gemacht worden war.

Der Maurerverband und der Bauhilfsarbeiterverband veröffentlichen gemäß den Beschlüssen ihrer letzten Verbandstage ein Statut für eine gemeinsame Organisation. Beide Verbände beabsichtigen, sich im Januar 1911 zu verschmelzen. Diese Gewerk schaft soll den Namen Bauarbeiterverband" tragen. Die Mitglieder haben zu der Frage und zu dem Statut Stellung zu nehmen, ein gemeinsamer Verbandstag wird das entscheidende Wort sprechen.#