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Soziale Gesetzgebung.
Die Gleichheit
Berliner Handelskammer und Arbeiterinnenschuk. Am 1. Januar 1910 tritt die Novelle zur Reichsgewerbeordnung in Kraft, und schon machen die Unternehmer mobil, deren Bestim mungen möglichst zu umgehen. Wie erinnerlich, bringt die Verordnung, trotzdem sie weit hinter den Anträgen unserer Genossen im Reichstag zurückgeblieben ist, einige geringfügige Verbesserungen der seither geltenden Schuzvorschriften. So zum Beispiel auch die heißumstrittene Herabsehung der Höchstarbeitszeit aller über 16 Jahre alten Fabritarbeiterinnen von elf auf zehn Stunden, an Sonnabenden und Vorabenden der Festtage auf acht Stunden. Infolge der Haltung unserer Gegner, die stets einig sind, wenn es sich um Ablehnung von sozialdemokratischen Arbeiterschutzanträgen handelt, blieben nach wie vor die 40 Ausnahmetage bestehen, an denen die Arbeitszeit auf zwölf Stunden ausgedehnt werden kann. Auch in dem neuen Gesez hat wiederum gegen die Stimmen der Sozial demokratie die Bestimmung Aufnahme gefunden, wonach mit Ein willigung der höheren Verwaltungsbehörde die Zahl der Ausnahmetage auf fünfzig erhöht werden kann. Die Regierung in ihrer bekannten Unternehmerfreundlichkeit hatte sogar 60 Ausnahinetage vorgeschlagen! Bei mehr als zweiwöchiger ununterbrochener Dauer der Ausnahmetage ist ebenfalls die Erlaubnis der höheren Verwaltungsbehörde erforderlich. Das Zutrauen unserer Kapitalisten zu der höheren Verwaltungsbehörde ist für diese in der Tat sehr ehrenvoll. Mögen die beiden auch manche Häfelei miteinander haben, wenn es gegen die verhaßten Arbeiter geht, so wissen sie, sie können sich aufeinander verlassen.
Den Beweis dafür erbringt die Berliner Handelskammer, die auch schon in der Fortbildungsschulfrage ihren reaktionären Geist befundet hat. War sie es doch, die bei der Novelle zur Ausdehnung des Fortbildungsschulzwanges bis zum 18. Lebensjahr auch auf Arbeiterinnen für wünschenswert" hielt, die Fortbildungsschulpflicht für Arbeiterinnen nur bis zum 16. Jahre vorzuschreiben. Die Berliner Handelskammer konnte auch jetzt wieder die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ihr ausgesprochen fapitalistisches Wesen zu befunden. Sie beschloß, sich an den Handelsminister, also an die höhere Verwaltungsbehörde zu wenden, damit die Ausführungsbestimmungen zu den neuerlassenen Vorschriften der Gewerbeordnung in einer den Bedürfnissen der Industrie( foll heißen der Unternehmer!) entsprechenden Weise erlassen werden". Dies bedeutet zweierlei: erstens wünscht die Handelskammer 50 Ausnahmetage statt 40, sonst brauchte sie sich nicht an die höhere Verwaltungsbehörde zu wenden, und zweitens will sie freie Hand haben, diese Ausnahmetage auch auf länger als zwei Wochen nacheinander ausdehnen zu können.
Die freisinnigen Kapitalisten, die der Handelskammer angehören an ihrer Spitze steht Herr Kämpf, der bisherige Vizepräsident des Reichstags und Angehöriger des linksliberalen Freisinns-, empfinden eben jeden Arbeiterschutz als lästiges Hemmnis in ihrer Jagd nach Profit. Was bedeutet es auch für den Unternehmer, ob die Arbeiterinmutter zwei Stunden später oder früher in ihr armseliges Heim zu ihren wartenden Kindern zurückkehrt! Mit einem Bettelpfennig für Kinderheime und Suppenküchen be ruhigt er sein etwa revoltierendes Gewissen und hält sich obendrein noch für einen human denkenden und handelnden Wohltäter. Die Berliner Handelskammer wollte, getreu ihrem reaktionären Geiste, dem Bundesrat allein die Ausführungen über die Ausnahmetage übertragen sehen. Offenbar weiß sie, daß die verbündeten Regierungen den kapitalistischen Schmerzen noch weit mehr Verständnis entgegenbringen, wie selbst die höhere" Verwaltungsbehörde. Wieder ein Beweis, wie die Unternehmer alles versuchen, um mit Hilfe der Ausführungsbestimmungen eine Durchlöcherung der neu in Kraft tretenden gesetzlichen Bestimmungen zu ermöglichen. Die Überstundenarbeit liegt nicht, wie die Berliner Handelskammer meint ,,, im gemeinsamen Interesse von Arbeitern und Unternehmern", sondern einzig und allein im Interesse der Unternehmer und kann nur durch eine starke politische und gewerkschaftliche Organisation aller Arbeiter und Arbeiterinnen erfolgreich bekämpft werden. m. w.
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Landarbeiterfrage.
Die menschenfreundlichen Agrarier. Nach einer Entscheidung des Reichsgerichtes sind die Molkereigenossenschaften nicht als landwirtschaftliche Nebenbetriebe, sondern als gewerbliche Betriebe anzusehen, ebenso diejenigen Guts molkereien , bie neben ihrer eigenen Milch noch mindestens ebensoviel zugekaufte Milch verarbeiten. Daher dürfen in diesen Betrieben auf Grund des § 137 der Gewerbeordnung Arbeiterinnen nicht zwischen 8 Uhr
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abends und 6 Uhr morgens beschäftigt werden. Außerdem muß den Arbeiterinnen eine elfstündige Nachtruhe gewährt werden. Den ostelbischen Agrariern, die an eine unumschränkte Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterfrauen gewöhnt sind, paßt das natürlich nicht in den Kram. Kürzlich kamen die ostpreußischen Molterei befizer, alles steinreiche Herren, in dem schönen Ostseebad Cranz zusammen und klagten über den viel zu weit gehenden Schutz der Arbeiterinnen. Sie machten gegen ihn mobil und forderten in einer Resolution was folgt: Der Bundesrat möge auf Grund der§§ 139 a und 154 Absah 3 der Gewerbeordnung für die Beschäftigung von Arbeiterinnen in Molkereien die Ausnahmen anordnen, daß 1. die Beschäftigung von Arbeiterinnen in Meiereien usw. während des ganzen Jahres nur für die Zeit von 9 Uhr abends bis 3½½ Uhr morgens ausgeschlossen wird, 2. bei Beschäftigung der Arbeiterinnen in zwei Arbeitsschichten von der einstündigen Arbeitspause nur eine halbe Stunde im Zusammenhang gewährt zu werden braucht. Außerdem soll der§ 139 a Absatz 1 der Gewerbeordnung eine Ziffer 5 erhalten, in der die ununterbrochene Ruhezeit in Meiereien usw. das ganze Jahr hindurch auf acht Stunden täglich herabgesezt wird. Die Sonntagsruhe betreffend erhoben die Herren diese Wünsche: In den Molkereien darf an den Sonntagen ohne irgend eine Einschränkung gearbeitet werden. Kein Arbeiter darf jedoch innerhalb der Zeit von Sonnabend abends 6 Uhr bis Montag früh 6 Uhr im ganzen länger als 18 Stunden beschäftigt werden.
Die Agrarier sind in der Tat sehr menschenfreundlich! Sie wollen, daß die Arbeiterinnen am Sonntag nicht länger als 18 Stunden arbeiten. Wie rücksichtsvoll! An den Wochentagen foll das Schanzen von 3% Uhr morgens bis 9 Uhr abends dauern fönnen. Selbst die Frauen! Es sind fromme Christen, die die mitgeteilten Beschlüsse gefaßt haben. Ob sie wohl solche Forderungen an den Bundesrat gestellt hätten, wenn ihre Gemahlinnen und Töchter ebenfalls in den Molkereien arbeiten müßten? Wir glauben nicht. Die Arbeiterin ist aber nach der Ansicht der hochwohlgeborenen Herren Agrarier nur dazu da, um ausgebeutet zu
werden.
Frauenstimmrecht.
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Ueber die Einführung des Frauenstimmrechts zum bayerischen Landtag hat dieses Parlament fürzlich verhandelt. Den Anlaß dazu gab eine Petition von frauenrechtlerischer Seite. Genosse v. Vollmar beantragte und begründete, daß das Haus die Petition der Regierung zur Würdigung überweisen solle. Selbstverständlich sprach er im Namen der gesamten sozialdemokratischen Landtagsfraktion. Der Redner der Liberalen konnte den Antrag nur für einen Teil seiner Freunde unterstützen. Der Antrag wurde abgelehnt, da das Zentrum mit wenigen Ausnahmen dagegen stimmte. Von den Arbeitersekretären des Zentrums erklärte sich nur ein einziger, Cadau, für das politische Bürgerrecht der Frau. Eine sonderbare Art der übrigen Herren Arbeitervertreter, die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen zu wahren! Möchten sich diese Tatsache doch die proletarischen Frauen und Mädchen merken, die sich in sogenannten christlichen" Organisationen zusammenfinden und ihren Einfluß auf ihre männlichen Anverwandten töricht genug dazu benutzen, dem Zentrum Arbeiterwähler zu erhalten. Wenn die Herren vom Zentrum die Frau für reif und würdig halten, im Interesse der Kirche und der besitzenden Klassen zu wühlen", so sollten sie auch die Konsequenz der Logit haben, ihnen das Recht zu geben, zu wählen.
I. K. Den Kampf für das Wahlrecht aller großjährigen Männer und Frauen Großbritanniens führt die Adult Suffrage Society( Vereinigung für das Wahlrecht aller Großjährigen) unter der Führung unserer energischen und opferfreudigen Genossin Dora B. Montefiore eifrig weiter. Die Vereinigung legt das Schwergewicht ihrer Tätigkeit darauf, die politisch und gewerk schaftlich organisierten proletarischen Massen über die Bedeutung des allgemeinen Wahlrechts aufzuklären und zum Kampfe dafür zu rufen. Sie unterläßt dabei fein Mittel, welches in England geeignet scheint, für die Forderung gleichen Bürgerrechts für alle Großjährigen agitatorisch zu wirken und die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. So macht sie es auch ihrem Ziele nußbar, daß die liberale Regierung, die jetzt am Ruder ist, seiner. zeit das beschränkte Frauenwahlrecht als eine undemokratische Maß. regel zurückwies und eine demokratische Wahlreform in Aussicht stellte, ohne sich jedoch über das Wie der Reform noch ihren Termin zu äußern. Die Adult Suffrage Society ließ zu diesem Zwecke