Nr. 3 Die Gleichheit 35 zöstsche Bourgeoisie als empordrcmgende, revolutionäre Klasse ankündigle. 1762 veröffentlichte Jean Jacques Rousseau seinen „Gesellschastsvertrag�, der aus dem gleichen Geiste geboren die Geister wachrüttelte. Als am S. Mai 1805 der Tod seine Fackel vor Schillers Genius senkte, flackerten über Europa die verlöschenden Gluten einer großen Revolution. Die Blitze einer ausziehenden Revolution sind es, die heute ihren glühenden Schein auf uns werfen. Damals Frankreich der erste Herd des Feuer» brandes, heute Rußland ; damals die Bourgeoisie die Hüterin und Trägerin vorwärtstreibenden revolutionären Lebens, heute die Arbeiterklasse. Scharf beleuchten die zwei geschichtlichen Feuer- faulen dieser Tatsachen, mit welcher Kraft und Schnelle die soziale Entwicklung in der kleinen Spanne Menschheitsgeschichte vorwärtsgeschritten ist, die anderthalb Jahrhundert darstellt. Ge- tragen von der wirtschaftstechnischen Revolution, König Dampf voran, der gebändigte Blitz mehr und mehr als Genosse ihm zur Seite, hat der Kapitalismus in dieser Zeitspanne— um mit dem Kommunistischen Manifest zu reden— ganz andere Wunder vollbracht als den Bau ägyptischer Pyramiden, römischer Wasser- leitungen und gotischer Kathedralen; hat er ganz andere Züge verursacht als die Völkerwanderung und die Kreuzzüge. Er hat im Schöße der Gesellschaft die gewaltigsten, nie geahnten Produktivkräfte entfesselt; er hat Berge versetzt und Meere überspannt; er hat nationale Einheitsstaaten geschaffen und die Nationen durch die unüberbrückbare Kluft der Klassen- gcgensätze zwischen Kapital und Arbeit auseinandergerissen; er hat uns» auf dem Untergrund des in seinen tiefften Tiefen revolutionierten Wirtschaftslebens eine Weltwende gebracht, an deren Ausgangspunkt das von der Bourgeoisie sich scheidende, kämpfende Proletariat, an deren Endpunkt die befreite Mensch- heit steht. Diesen geschichtlichen Wandel der Dinge und Menschen müssen wir im Auge behalten, wollen wir uns vergegenwär- tigen, warum und inwieweit die deutschen Proletarier— abseits von dem schellenlauten Festesrummel der bürgerlichen Welt— von Schiller erklären können:„Er ist unser". Er lehrt uns im gewaltigen Lebenswerk des Dichters scheiden, was einer ver« gangencn Zeit, einer absterbenden Klasse angehört von dem, was mit fortwirkender Lebenskrast den gegenwärtigen Tagen, den aufstrebenden Massen zu eigen geblieben ist. Lasset die Toten ihre Toten begraben! Mag die Bourgeoisie in aufdringlichem äußerem Kultus das historisch Sterbliche der Schillerschen Hinterlassenschaft feiern. Die Arbeiterklasse da- gegen hebt an ihr Herz, umfaßt mit ihrem Geist dasjenige, was dem rauschenden Strome der Zeit als unsterblich wider- standen hat, was über Vergangenheit und Gegenwart hinweg der Zukunft gehört, ein köstliches Menschheitserbe. Und indem sie an Stelle blinder Verehrung und fälschender Umdeutung die geschichtlich forschende Kritik setzt, die durch Erkenntnis zur Würdigung, zur Liebe und Verehrung emporführt, ehrt und dankt sie am besten in seinem eigenen Änn dem genialen Künstler, der ein leidenschaftlicher Sucher der Wahrheit, ein nie ermattender Kämpfer für Wahrheit gewesen ist, solange er ein bewußtes Leben lebte. Jedoch nicht das Gebundensein Schillers an seine Zeit, die historische Bedingtheit seines Lebens- werks allein ist es, die uns das Eindringen in die Welt be- greifen läßt, aus der er erwuchs, in der er lebte und webte. Es schärft auch unseren Blick für die überragende Größe seiner Persönlichkeit. Gewaltig hebt sie sich in dem, was sie ward und was sie schuf, von dem Hintergrunde eines geschichtlichen Milieus ab, das in seiner Jämmerlichkeit seinesgleichen sucht. Auf Schillers Jugend- und Mannesjahren lastete die ganze Misere der rückständigen, krüppelhaften Gestaltung des wirt- schaftlichen und sozialen Lebens in Deutschland . Während in England und Frankreich der junge Kapitalismus kräftig die Glieder reckte und mit rasch erstarkender Faust in die sozialen Verhältnisse umgestaltend eingriff, während in beiden Ländern eine wirtschaftlich mächtige, kulturell hochstehende und emanzi- pierte Bourgeoisie sich bereits im Besitz der politischen Herr- schaft befand oder diese im revolutionären Kampfe eroberte, während in beiden Ländern tausend ausgelöste Kräfte sich regten und neues Leben schufen: welch trostloses Bild der Sta' gnation in Deutschland ! In wirtschaftlicher, politischer und geistiger Beziehung trug Deutschland schwer an dem furchtbaren Erbe deS Dreißigjährigen Krieges. Schüchtern klopfte die neue Zeit in Gestalt einer noch schwach entwickelten Manufaktur ans Tor. Die mittelalterlichen Zunftschranken zogen im Bunde mit politischer Unfteiheit und Rückständigkeit schlimmster Art der Entfaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens die engsten Grenzen. Die Kleinstaaterei trieb die Übel auf die Spitze. Ihre Despoten und Despötchen suchten ihren Ruhm in Militär- spielerei, Hetzjagden und ein- wie vielschläfriger Mätressen- Wirtschaft, im Kriege untereinander und in schmachvollen Bünd- nisten mit dem Ausland. Wenn die skrupelloseste Steuer- erpressung, der schamloseste Amtsschachcr nicht mehr ausreichten, die Kassen zu füllen, so mußte die Verschacherung der Söhn« des Landes in fremde Kriegsdienste herhalten. Soweit es an den Höfen geistige Kultur gab, war sie eine Karikatur, ein Ab- klatsch französischen Wesens. Die Stände, die den herrschenden Feudalmächten Untertan, zins- und tributpflichtig waren, trugen eine unbeschreibliche Last materiellen und kulturellen Elends. Es mangelten Deutschland die großen Städte, die wie London und Paris infolge einer Konzentration des Reichtums und der intellektuellen Kräfte zu Mittelpunkten des politischen und gei« stigen Lebens der Nation, zu vorwärtstreibenden, auSschlag- gebenden Faktoren im Ringen für eine neue Zeit werden konnten. Kein kraftvolles, seiner Bedeutung bewußtes, revolu« tionäres Bürgertum stand auf der Schanze, um die Macht deS Absolutismus und des Feudaladels zu brechen und mit der Eroberung der politischen Macht neuem geschichtlichem Leben eine Gasse zu bahnen. Der brandende Wellenschlag der großen Revolution in Frankreich , deren Sturmvögel die Enzyklopädisten gewesen, ebnete sich in Deutschland zu einem sanften Kräuseln. Die deutsche Bourgeoisie schlug am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts die Schlachten ihrer Emanzipation nicht auf dem Blachfelde des politischen Kampfes, sondern in den Gefilden der Kunst, der Literatur. Ihre revolutionäre Ära wurde ein- geleitet durch die literarischen Stürmer und Dränger— die Klinger, Wagner, Leisewitz usw.—, sie erreichte in den„Räubern" und in„Kabale und Liebe " ihren Höhepunkt, und sie endet« triumphierend mit der klassischen Literatur. Schillers Leben und Leisten war in den Rahmen dieser Ver- Hältnisse gebannt. An sie gefesselt zu sein, war sein geschicht- lichcs Verhängnis; gegen sie angekämpft, an ihnen gerüttelt zu haben, bleibt sein unvergänglicher Ruhm. Es genügt, den Namen seines„Landesvaters" zu nennen, um die Fülle deS politischen Jammers zu charakterisieren, die auf Schillers Eni- wicklung in der Jugend lastete. Karl Eugen , der brutal-läppisch« Kriegsherr, der verschwenderische Wüstling, der seine Landes- kinder als Söldner an Osterreich und Frankreich , an die Nieder- ländisch-Ostindische Kompanie nach dem Kapland verhandelte, der einer Laune seiner Mätresse zuliebe die Kraft des Dichter? Schubart in dem Verlies des Hohenasperg brach; der gewissen- lose, kleinliche Tyrann, der durch Greuel aller Art Volk und Land verwüstete. Schiller war nicht bloß der Untertan diese? beschränkten Unholdes, sondern obendrein gegen Neigung und Willen Zögling der berüchtigten Karlsschule — des Herzog? Schöpfung und Werkzeug—, die Schubart erschöpfend al? „Sklavenplantage" gebrandmarkt hat. Zusammen mit der„Not der Tyrannei" im öffentlichen und persönlichen Leben erfuhr er im reichsten Maße die„Tyrannei der Not". Jeder Ausschnitt aus seinem Leben läßt das erkennm. Da ist Schiller , der kärglich besoldete Medikus eines ver- achteten Infanterieregiments, der zu einem ungeliebten Beruf gezwungen, mit Schulden belastet— die ihm in der Haupt- fache durch den Druck der„Räuber" erwachsen sind— auS dem Vaterland flüchtet, dessen Souverän ihn anherrscht:„Ich sage Ihm, bei Kassation, schreib Er keine Komödien mehr!" Schiller, der Heimatlose, der„Vogel auf dem Dache", der von des treuen Streicher und der gütigen Frau v. Wolzogen Freund- schaft gehalten, von künstlerischem Schöpfungsdrang verzehrt, von Sorgen gepeinigt, um die Gunst des schwankenden Mann-
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20 (8.11.1909) 3
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