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Die Gleichheit

heimer Theaterintendanten v. Dalberg wirbt, der mehr Höf­ ling   als Kunstverständiger ist. Nur eine kurze Jdylle zwischen den rauhen Lebensstürmen. Der Aufenthalt bei dem freigesinnten, hochgebildeten Konsistorialrat Körner, von dem Schiller mehr und Wertvolleres empfing als ein trauliches Asyl, erst in Leipzig  , dann in Dresden  : eine reiche Fülle fruchtbarer Anregung zum Studium, zur Vertiefung der Persönlichkeit und der von ihr erfaßten Probleme; in Augenblicken des schwersten Ringens und Zweifelns die Neubelebung des Glaubens an seine fünstle­rische Mission. Neben Goethe   hat kaum jemand Schillers Ent­wicklung so nachhaltig beeinflußt wie Körner, der Vater des Sängers der Befreiungskriege gegen Napoleon  . Aber ein Schiller fonnte die Existenz als Geschenk auf die Dauer auch nicht aus der Hand treuester, zartfühlender Freundschaft ertragen. Aus eigener Kraft sie sich zu gründen, trieb ihn sein Selbstgefühl, fein Unabhängigkeitssinn. Und so finden wir ihn bald als Professor der Geschichte in Jena  , erst ohne Besoldung, dann aus fürstlicher Gnade" mit einem Hungergehalt von 200 Talern bedacht, das später auf 400 und nicht allzu lange vor seinem Tode auf 800 Taler erhöht wurde. Als schweres förperliches Leiden den Dichter heimsuchte- die Glut künstlerischen Schöpfungs­triebs, das leidenschaftliche Bemühen, die Lücken der Jugend bildung auszufüllen, und die Plagen des Alltagkampfes zer­rütteten seinen ohnehin schwächlichen Organismus- wäre Pflege und Schonung unmöglich gewesen ohne die materielle Hilfe zweier begeisterter Verehrer: des Erbprinzen von Augusten­burg und des dänischen Grafen Schimmelmann  . Schließlich ein Armeleutebegräbnis ohne alle Feierlichkeit. Wie sie lügen, die bürgerlichen Geschichtsflitterer, die Karl August   von Weimar als einsichtsvollen, großzügigen Beschützer und Förderer der Kunst pretsen! Ihn, der leere französische   Dramen Schillers und Goethes Meisterwerken vorzog, ihn, unter dessen Regiment noch 1800 den weimarischen Hofschauspielern eine Aufführung der Räuber" in Lauchstädt   verboten wurde! Schiller   kannte diesen fürstlichen Freund der Musen", und an der Wende des Jahrhunderts erhob er die bittere Anklage:

"

Rein augustisch Alter blühte,

Keines Medizäers Güte Lächelte der deutschen   Kunst;

Sie ward nicht gepflegt vom Ruhme,

Sie entfaltete die Blume

Nicht am Strahl der Fürstengunst.

Von des größten Deutschen   Sohne, Von des großen Friedrichs Throne Ging fie schutzlos, ungeehrt...

( Forts. folgt.)

Armenrecht oder Arbeiterrecht?

gh. Auf dem letzten evangelisch- sozialen Kongreß, über dessen Berhandlungen jetzt der stenographische Bericht vorliegt, hat der frühere Staatssekretär im Reichsamt des Innern, Graf v. Posadowsky  , unter anderem gesagt: Die Gegner moderner Sozialpolitik setzen sich meines Erachtens in Widerspruch mit den Grundlehren nicht nur des Christentums, sondern mit der Sittenlehre aller gebildeten Bölfer. Solange die Menschen im engen nachbarlichen Verband lebten, mochte die freiwillige Wohltätigkeit ausreichen, um die Not der Armen und Schwachen und der im Kampfe des Lebens Verunglückten zu lindern. Gegenüber der wachsenden Bevölkerung, bei der Bildung großer gewaltiger Städte, bei dem Zusammenfluß von Arbeiterheeren an einzelnen, für Verkehr und Industrie wichtigen Punkten fonnte aber weder individuelles Wohltun genügen, noch die Armenpflege der einzelnen Gemeinden. Um den sozialen Nöten und Gefahren der Gegenwart zu steuern, waren deshalb nicht mur Deutschland  , sondern nach ihm auch zahlreiche andere Kulturstaaten gezwungen, den Weg der sozialen Gesetzgebung zu beschreiten, das heißt von Staats wegen die Hilfe festzusetzen und zu begrenzen, die den auf dem Felde der Arbeit zu Schaden gekommenen Mitbürgern in jedem einzelnen Falle zu ge währen ist.

Nr. 3

Diese Ausführungen des Grafen v. Posadowsky   sind sehr lehrreich. Sie zeigen, daß selbst diejenigen bürgerlichen Sozial­politiker, die sich als Vorkämpfer einer arbeiterfreundlichen Sozialreform betrachten, auch jetzt noch für die Arbeiterver ficherungsgesetze nur als für die Entlastung der Armenpflege eintreten. Gegenüber der Behauptung unserer Gegner, daß die Arbeiter die Versicherungsgesetze dem guten Herzen der herrschenden Klasse verdanken, haben wir seit jeher auf den engen Zusammenhang unserer sozialen Gesetze mit der Armen­pflege hingewiesen. Die gar zu sehr anwachsende Bürde der Armenpflege hat die herrschenden Klassen gezwungen, durch die Arbeiterversicherungsgesetze die Armenpflege zu entlasten. Das war schon aus den Verhandlungen über die Entwürfe der ersten Arbeiterversicherungsgesetze bekannt. Es ist also keine neue Weisheit, die Graf v. Posadowsky   auf dem evangelisch- sozialen Kongreß vorgetragen hat.

Bezeichnend ist es aber, daß der ehemalige Staatssekretär des Innern weiter nichts über die Berechtigung der Arbeiter­versicherungsgesetzgebung zu sagen wußte. Wer heute nach 25 jähriger Praris der staatlichen Arbeiterversicherung auf die Bedeutung dieser Gesetze eingeht, darf sich nicht mit jener ab­gestandenen Weisheit begnügen, sondern muß uns auch dar­über belehren, in welcher Richtung sich die soziale Gesetzgebung entwickelt. Denn für diese Entwicklung ist durchaus nicht allein die Absicht des Gesetzgebers maßgebend. Vielmehr wächst sich das neue Recht in dieser Weise aus: Die herrschenden Klassen führten Maßnahmen durch, um die Mißstände der bestehenden Rechtsordnung zu beseitigen oder auch nur zu mildern. Gegen den Willen der Gesetzgeber aber bilden diese Maßnahmen in­folge der sich verändernden wirtschaftlichen Verhältnisse und unter dem Drucke der aufwärtsstrebenden Klasse die Anfänge einer neuen Rechtsordnung. So ist es auch mit der Entlastung der Armenpflege durch die Arbeiterversicherungsgeseze gekommen.

Es scheiterten die ersten Versuche der herrschenden Klassen, die Arbeiterversicherungsgesetzgebung durch die Unfallversiche­rung ohne Mitwirkung der Arbeiter zu eröffnen. Unsere Gegner sahen sich gewungen, mit der Krankenversicherung im Anschluß an die Krankenkassen zu beginnen, die die Arbeiter aus eigener Kraft geschaffen und leistungsfähig gemacht hatten. Aus diesem Grunde konnten die herrschenden Klassen das Krankenversiche­rungsgesetz nicht ganz ihrem Jdeale anpassen, dem Armenrecht. Sie mußten vielmehr den Arbeitern die Selbstverwaltung bis zu einem gewissen Grade einräumen und für die Leistungen der Krankenversicherung einen größeren Spielraum lassen. Bei den darauf folgenden Arbeiterversicherungsgesetzen, der Unfall­und Invalidenversicherung aber hatten die herrschenden Klassen freie Hand. Sie schnitten es daher viel mehr nach ihrem Muster zurecht: hier ist von einer Selbstverwaltung der Arbeiter feine Rede, und die Leistungen der Versicherungen bleiben weit hinter dem Ersatz des vollen Schadens zurück, den der Arbeiter durch den Unfall oder die Invalidität tatsächlich erleidet.

Die Arbeiter dagegen kommen zum Bewußtsein des immer größer werdenden Gegensatzes zwischen ihrer eigenen traurigen Lage und dem Reichtum ihrer Ausbeuter, es wird ihnen klar, daß aus ihrer Arbeit die herrschenden Klassen ihren Reichtum ziehen. Daher erkennen sie, daß sie bei ihrer Arbeit im Dienste der herrschenden Klassen unter allen Umständen die Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes beanspruchen müssen, und das sowohl in der Zeit, da sie noch arbeitsfähig sind, als auch in der Zeit ihrer Arbeitsunfähigkeit. Ihnen müssen daher die Arbeiterversicherungsgesetze als die Sicherung des Teiles von dem Ertrag ihrer gemeinsamen Arbeit erscheinen, der den Arbeitern vorbehalten bleiben muß als die Sicherung eines Rechtes, das sich das Proletariat durch seine Arbeit im Dienste der herrschenden Klassen erwirbt. Sie fordern demgemäß die Arbeiterversicherung nicht auf Grund des Armenrechtes, sondern als einen Teil des Arbeiterrechtes. Wie sie einen möglichst hohen, Betrag als den Teil ihres Lohnes fordern, der ihnen am Zahlag aus­gehändigt wird, ebenso begnügen sie sich nicht damit, daß ihnen die herrschenden Klassen aus der Arbeiterversicherung ein klägliches Almosen gewährten. Sie verlangen für alle erwerbsunfähigen