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Die Gleichheit

halle aus das Zeichen gegeben wurde, daß die Versammlung be­endet sei, braufte das Lied der Arbeit" über den Riesenplay. über eine Stunde dauerte es, bis sich der Abmarsch über die Ring straße vollzogen hatte und die Genossen und Genosfinnen wieder in ihre Bezirke marschieren konnten. Zu gleicher Zeit hatten die Deutschnationalen auf der Ringstraße einen Bummel für die Sanktionierung eines nationalen Gesetzes veranstaltet. Es war natürlich ein fleines Häuflein, das da auf und abspazierte, während die sozialdemokratischen Arbeiterkolonnen die ganze breite Straße einnahmen. Die führenden Genossen mußten ihren ganzen Einfluß aufbieten, um einen Zusammenstoß mit den Nationalen" zu vers hüten. Bald vier Jahre werden es sein, daß die Wiener Ar­beiterschaft nicht auf der Straße erschienen ist. Wie eine Erlösung ging es durch die Reihen, als endlich wieder der Ruf erscholl: Genossen und Genossinnen, demonstriert! Die Proletarier und Proletarierinnen sind bereit, wie ehemals in der Straße ihre For­derungen zu erheben, wenn man im Parlament auf ihre Abgeord neten nicht hören will.

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Frauenstimmrecht.

A. P.

Das Frauenwahlrecht vor dem bayerischen Landtag und die Stellung des Zentrums und der liberalen Partei dazu. Wie die Gleichheit" bereits in Nr. 1 berichtete, verhandelte der bayerische Landtag fürzlich über die Frage des Frauenwahlrechts. Es war jedoch nicht, wie es dort irrtümlicherweise hieß, eine Petition von frauenrechtlerischer Seite, die den Anstoß dazu gegeben hatte. Dem Landtag lagen vielmehr Eingaben der Genoffinnen vor, welche die volle politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts heischten. Ausgangs 1907 und anfangs 1908 fanden in 17 Orten, nämlich in Nürnberg , Schwabach , Erlangen , Wunsiedel , Oberröslau , Aschaffenburg , Bayreuth , Forchheim , Rot bei Nürnberg , Lauf ( Mittelfranken ), Regensburg , Augsburg , Fürth , Burgfarnbach , Lech­hausen, München und Kaiserslautern sozialdemokratische Frauen­versammlungen statt, welche Petitionen an den bayerischen Landtag richteten mit diesen Forderungen: Einführung des Frauenwahl rechts für alle Frauen über zwanzig Jahre und Beseitigung des Artikels 15 des bayerischen Vereinsgefeges. Die letztere Forderung ist durch das Reichsvereinsgesetz erfüllt worden, somit hatte sich der Landtag anfangs Oktober nur noch mit der ersteren zu befassen. Genosse Vollmar beantragte im Namen der sozialdemokratischen Fraktion, die Petition der Staatsregierung zur Würdigung zu überweisen, da über die Notwendigkeit des Frauenwahlrechts kaum noch ein Wort zu verlieren sei. Er verwies unter anderem dar­auf, daß die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse und An­schauungen die Zeit nahegerückt haben, in der gewisse Leute und Parteien, die früher über das Frauenwahlrecht nur zu lachen wußten, anfangen müssen, die Sache ernsthaft zu nehmen. Auch bloße Versprechungen, wie sie das Zentrum beliebt, nützen nichts mehr, die Frauen werden sich ihre Rechte erobern. handlungen zeigten, daß Zentrum und Liberale Gegner des Frauen­wahlrechts sind; sie brachten die Petition zu Fall. Der liberale Dr. Müller Hof machte Bauch- und Mundverrenkungen, um eine Für und Gegenrede fertigzubringen, und das Zentrum wirkte von hintenherum gegen das Frauenwahlrecht. Nur die Sozial­demokraten betonten eindringlich die Notwendigkeit der Reform. Aus den Verhandlungen im bayerischen Landtag geht deutlich hervor, daß die Frauen nur mit Hilfe der Sozialdemokraten ihre Rechte erobern können. Darum, Hausfrauen und Arbeiterinnen, werdet überall Mitglieder des sozialdemokratischen Wahlvereins; seine Reihen stärken, heißt vorwärtsschreiten zur Eroberung des Frauen­wahlrechts. Das soll die Antwort sein, die wir Zentrümlern und Liberalen geben, die im bayerischen Landtag die Forderung des Frauenwahlrechts mit Füßen getreten haben, die im Reichstag die Lebensmittel durch die 400 Millionen Mark neuer indiretter Steuern verteuerten und aus dem Verkehr 100 Millionen Mark heraus­preßten, die Erbschaftssteuer aber schlankweg ablehnten. Die Frauen sind den Herren als Steuerzahlerinnen gut genug; als Mitglieder der Sozialdemokratie und dank ihrer Macht werden sie die bürger­lichen Parteien zwingen, sie auch als gleichberechtigte Staats­bürgerinnen anzuerkennen. Helene Grünberg .

Die Ver

Die dritte Generalversammlung des Deutschen Verbandes für das Frauenstimmrecht hat Anfang Oftober in München getagt. Ihr wichtigstes Ergebnis ist, daß die radikalen Frauens rechtlerinnen an der Forderung des allgemeinen, gleichen, ges heimen und direkten Wahlrechts festhalten. Die Strömung wurde zurückgeschlagen, nach welcher der Verband seine Mitglieder lediglich zum Eintreten für das Frauenwahlrecht verpflichten sollte. Zwischen den Ausführungen mancher Rednerinnen, welche das all­

Nr. 3

gemeine Wahlrecht befürworteten, konnte man heraushören, daß der Kampf der Genossinnen für die gründliche Demokratisierung des öffentlichen Lebens den radikalen Frauenrechtlerinnen den Rücken steift. Wir werden auf die Verhandlungen in München ausführ­lich zurückkommen, wenn die Berichte der frauenrechtlerischen Presse darüber vorliegen.

Für das allgemeine unbeschränkte Frauenwahlrecht hat sich der Nationalverband der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen in den Vereinigten Staaten ausgesprochen. Diese Entscheidung dürfte nicht ohne Einfluß auf die Haltung des Internationalen Frauen stimmrechtsverbandes bleiben.

Verschiedenes.

Kunst und Arbeiterklasse. Der Aufstieg der Ausgebeuteten zu höherer, allseitiger Kultur vollzieht sich mitten im Schlachten­lärm des Klaffentampfes. Der proletarische Klaffenkampf selbst, der das Auge der unterdrückten Massen auf das erhabenste Biel lenkt, der für dieses Ziel den Einsatz der besten Kräfte jedes ein­zelnen fordert, ist ein strenger, allzeit wacher Erzieher zu höherer Gesinnung und Gesittung. Wenigstens für die, die sich ihrer per­sönlichen Verantwortlichkett bewußt sind und nicht übersehen, daß die revolutionäre Stoßkraft der Masse, die es tut, um mit Heine zu reden, um so gewaltiger ist, je weiter die Stufe der menschlichen Entwicklung hinaufreicht, welche die einzelnen erflommen haben. Daher schließt die Emanzipationsbewegung des Proletariats bie Kunst nicht aus, sie zieht vielmehr auch sie in ihre Kreise hinein. Für den Durchschnittsbourgeois mag die hehre, die himmlische Göttin" nichts sein als ein standesgemäßer Zeitvertreib in müßigen Stunden. Die tlassenbewußten Proletarier schäzen dagegen wie Schiller das Theater so die Kunst überhaupt als eine moralische Anstalt". Sie schauen auf sie als auf eine Erzieherin zu edelster Menschlichkeit. Die Lebenswerte, die sie ihnen vermittelt, öffnen starke Springquellen ihres Wesens, die die Kampfestüchtigkeit speisen. Daher kann das Proletariat auch keinen Teil haben an jenen Strömungen, die, statt die Kunst mit dem höchsten Ideenge­halt des gesellschaftlichen Lebens zu erfüllen, wie er sich heute im Sozialismus kristallisiert, das Leben zu spielerischer Rünftelei herab drücken. Wohl aber hat es freudig ernste Bemühungen zu be grüßen und zu fördern, welche den Proletariern als Genießenden und Verstehenden das Beste zu eigen machen wollen, das die Runft bis jetzt geschaffen hat. Solche Bemühungen werden nicht zu modischer Kunstfeɣerei entarten, denn sie können ihr Ziel nur er reichen, dem arbeitenden Volte durch eindringendes Verständnis Steigerung der Lebensfreude und Lebenskraft zu geben, wenn sie die Kunst in ihrem unlöslichen organischen Zusammenhang mit dem wurzelnährenden Boden des gesellschaftlichen Daseins betrachten; wenn fie im einzelnen Kunstwert das bleibend Menschliche von dem zeitlich Vergänglichen unterscheiden. Zu diesem Werte bedarf es eigener Organisationen, die durch die Proletarier und für sie da sind. Derartige Schöpfungen sind die Freien Volksbühnen, die von Berlin ausgegangen sind und in Berlin ihre bedeutendste Entwid lung erreicht haben. Auch den Berliner Bolts chor rechnen wir ihnen zu, der um Förderung in einem Flugblatt ersucht, das unserer Berliner Auflage beigegeben ist. Unter dem verständnis. vollen Vorsitz des Genossen Göhre und der gewissenhaften künft lerischen Leitung von Dr. 3 ander hat er eine treffliche Entwid lung genommen. Was er zur praktischen und theoretischen Schu lung seiner Mitglieder leistet, ist so ernst, daß es die Gefahr ausschließt, einem aufgeblasenen, unfruchtbaren Dilettantismus in die Arme zu führen. Die künstlerischen Darbietungen, die seine Ron zerte der Berliner Arbeiterschaft bringen, tönnten für sehr viele bürgerliche Veranstaltungen mustergültig sein. Und ein wich tiger Umstand für die Proletarier mit ihrem dünnen Borte monnaie die materiellen Opfer, die er fordert, sind gering. Fret lich: im Voltschor pulsierte nicht vom Leben der zeitgenössischen Arbeiterklasse, wenn er mit dem Erreichten zufrieden wäre. Er möchte der Berliner Arbeiterschaft mehr werden und mehr geben als in der Vergangenheit. Dazu aber tann ihm nur diese Arbeiter. schaft selbst helfen. Daher wirbt er um ihre Gunst. Wir hoffen, daß sie ihm reich und in steigendem Maße zuteil wird. In diesem jungen Sproß am Stamme des proletarischen Klassenlebens treift gesunder Saft. So werden die Bestrebungen des Boltschors nicht die Kräfte schwächen und lähmen, die der Klassenkampf fordert. Umgekehrt, sie müssen sie steigern. Wahre Kunstfreude läßt nicht weltflüchtig werden, sie macht kampfbegierig und kampfbereit. Verantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Betfin( Bundel), Wilhelmshöhe, Poft Degerloch bet Stuttgart . Drud und Berlag von Baul Ginger in Stuttgart .

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