Nr. 5

Die Gleichheit

früppeltes Handgelenk zurückgeblieben. Er war und blieb dadurch im Gehen sowie in schwerer törperlicher Arbeit behindert und wurde zum Feldarbeiter, zum Bauern von vornherein für un­tauglich erklärt. Die Eltern hätten ja am liebsten ihr schwächliches Kind noch frei und sorgenlos sich vergnügen lassen; gern hätten sie ihm die Zeit außer den Schulstunden zu frohem Spiele ge­gönnt, damit es sich draußen kräftige. Aber was half es! Die Not stand vor der Tür; jeder Pfennig war wertvoll, und so mußte verdienen, wer nur irgend konnte. Kindesglück, Gesundheit und Freiheit der Entwicklung mußten geopfert werden. Das neun­jährige Büblein wurde im dumpfen, engen Zimmer an das Klöppel­kissen gesetzt und mußte lernen, Spigen aus Roßhaar   zu klöppeln, die damals gerade sehr modern gewesen sein sollen. Nach den Spitzen war viel Nachfrage, und wenn unser Arnold fleißig war, so konnte er in der Stunde ein paar Pfennige verdienen. Er hat denn auch wacker und brav an seinem Klöppeltissen geschafft, wenn es ihn auch noch so sehr hinauszog ins Freie, vor allem zur Commerzeit, wenn er glücklichere Kameraden fröhlich hinausziehen sah zur Wanderung, oder wenn sie auf den Wiesen sich tummelten und er ihre jauchzenden Stimmen zu sich herein in die Stube schallen hörte. Da sind dann dem frühreifen, nachdenksamen Kinde wohl mancherlei Gedanken gekommen über den Gegensatz von Armut und Reichtum in der Welt, der es zuläßt, daß manches Kind viel zu viel Butterbrot, Chüechli", Fleischsuppe, Spiegeleier und freie Zeit zum Spielen hat, während so viele arme Buben und Mädchen alle solche schöne Sachen nur vom Hörensagen kennen.

Einmal ist unser kleiner Heimarbeiter recht" wild" geworden an seinem Klöppelkissen. Dodel hat mir das ein paarmal mit gut­mütigem und ganz befriedigtem Lächeln über sich selbst erzählt. Da hatte er wieder einmal eine Reihe von Stunden vor seinem Platz am Tische gesessen und die harten, straffen Roßhaarfäden mit seinen kleinen Fingern zu den Spitzen verarbeitet, die später die Hüte reicherer Leute zieren sollten. Sein Bubenherz war voller Ungeduld und heimlichem Verdruß, denn es war heute gar so ein schöner, sonniger Herbsttag, draußen lachte alles in Wald und Busch mit leuchtenden Farben, und unser Junge wäre so gern, ach, so gern, hinausgelaufen ins Freie, weit, weit hinaus, immer weiter ins Feld, wo er nichts mehr von Klöppelkissen und von Roßhaarspitzen zu sehen brauchte! Aber das ging ja nicht. In einigen Tagen mußten die fertigen Spizen dem Händler abgeliefert werden; da fehlte noch viel, und Arnold hatte recht fleißig zu sein, wenn er sein Pensum beenden wollte. Und das mußte ja be­endet werden, denn dann kam wieder ein wenig Geld ins Haus. Geld, das man so sehr nötig brauchte! Arnold wußte das nur zu gut. So quälte sich der arme Bursch mit fast verzweifeltem Herzen. Wenn er gar so verlangend zum Fenster hinaussah, so redete ihm die ältere Marie gut zu, seine Lieblingsschwester, die, ebenfalls flöppelnd, ihm gegenübersaß. Sie tat es mit halblauter Stimme, damit die Mutter nicht merke, wie der Arnold heute so ungebärdig war. Sei gut, Büebli, schaff weiter, mach nur brav dei' Sach', so gibt's nachher Geld zu Brot!" Arnold ließ sich dann wieder für eine halbe Stunde beruhigen.

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Aber endlich tam's denn doch zu arg. Nicht nur, daß Arnold dafizzen mußte mit einem Herzen voll Ungeduld und Zorn und Web, nein, jetzt fing auch das Roßhaar an, ihm Streiche zu spielen. Es verwickelte sich, bildete Knoten und knüpfte sich immer fester. Arnold zog und drehte an den Fäden, er zupfte und riß... es half nichts, der Knäuel wurde nur fester und wüster. Da ging unserem Kleinen die Geduld aus, und alle Empörung seines traurigen Herzens machte sich mit einem gewaltigen Ruck Luft. Er ergreift eine große Schere, die neben ihm liegt, und stößt sie mit aller Kraft durch die Spizen hindurch, mitten in das Klöppel tissen hinein!

Schwester Marie sieht mit entsetzten Augen, was der arme fleine Schlingel gemacht hat. Ein großes Loch in der Spitze und im Kissen! Ihr zweiter Blick geht zur Mutter, die am Fenster sitzt. Wenn die nur nichts bemerkt hat, sonst dürfte es dem Brüderlein schlecht gehen! Gott   sei Dant, Mutter blickt ruhig auf ihre Arbeit; Arnolds Wutausbruch ist ihr entgangen. Der aber sitzt mit großen Augen da, selbst erschrocken über seine Heldentat. Mit diesem plöglichen Ausbruch hat er sich für den Augenblick ein wenig Luft gemacht, er ist wieder ruhig geworden und ergibt sich nach wie vor ins Unabänderliche. Nachdem die gute Schwester den Schaden notdürftig in Ordnung gebracht hat, flöppelt er wieder brav und fleißig drauf los wie vorher.

Und so hat er noch manches Jahr die" Freuden" der Heim­arbeit fosten müssen, bis es endlich sich ermöglichen ließ, daß er weiter die Schule besuchte, dann auf höhere Lehranstalten kam und seinen schweren, aber siegreichen Weg antrat. Vergessen hat er nie­

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mals, was seine Kindheit verdüstert hat. Das, worunter heute noch das Proletariat seufzt, das hatte er an seinem eigenen Leibe ers fahren, und darauf war er stolz. Das Elend der Heimarbeiter ging ihm aber besonders zu Herzen, namentlich das der Kinder, die der Heimarbeit ihre Jugend opfern müssen. Er war ja selbst ,, ein Heimarbeiter" gewesen. Hannah Lewin- Dorsch.

Aus der Bewegung.

Von der Agitation. Auf Wunsch der Provinzialorganisation sprach die Unterzeichnete in verschiedenen Orten Kurhessens. Durchweg erfreuten sich die Versammlungen guten Besuchs; etliche waren überfüllt, und auch die Frauen waren zahlreich in ihnen vertreten. In Elgershausen  , einem kleinen Dörfchen, nahmen an der Versammlung über 100 Personen teil, darunter 20 Frauen, die ersten, die solches Wagnis unternommen hatten. Es bedurfte vielen Zuredens, damit sich in Großenritte   die ersten Frauen 8 an der Zahl in den Versammlungssaal getrauten. Beide Versammlungen brachten dem Voltsblatt" Abonnenten, der Partei­organisation Mitglieder, darunter die ersten weiblichen. In Nieder­ zwehren   führte die Versammlung der Sozialdemokratie 18 weibliche und 16 männliche Mitglieder zu. Der große Saal des schönen Gewerk­schaftshauses in Kassel   war derart überfüllt, daß noch der kleine Saal geöffnet werden mußte. Gegen 2000 Personen folgten mit ge­spanntem Interesse dem Referat, ihr Einverständnis mit den Ausfüh­rungen durch Zwischenrufe und Beifall bekundend. Der greifbare Er­folg des Abends bestand darin, daß der Partei einige fünfzig männ­liche und weibliche Mitglieder zugeführt wurden. Von den 70 Frauen, die in Ahlershausen ein Viertel der Versammlungsbesucher aus­machten, traten 35 der Sozialdemokratie bei. In Wolfsanger  gewann diese 20 neue Mitglieder. Etwa 100 Frauen waren in Eschwege   in der Versammlung anwesend. In diesem Orte wohnen viele Zigarrenarbeiter, deren Frauen von der Ursache der herrschen­den Arbeitslosigkeit und der schlechten Entlohnung keine Ahnung haben. Die Aufklärung, die sie in der Versammlung darüber er­hielten, tat ihnen bitter not und wurde mit regem Interesse ent­gegengenommen. Es waren 46 Neuaufnahmen von Mitgliedern für die Partei zu verzeichnen, doch würde der Erfolg ein noch größerer gewesen sein, wenn nicht Arbeitslosigkeit und ihre getreue Begleiterin: die Not, die Eschweger   Zigarrenarbeiter unter ihrer Fuchtel hielten. In Reichensachsen   gewann die Partei 10 Mit­glieder. Annähernd 800 Personen, darunter sehr viele Frauen, wohnten der Versammlung in Schmalkalden   bei. Hier, wo die Frauen wie die Männer in der Metallindustrie tätig sind- worüber wir noch besonders berichten-, rekrutierte die Partei 29 männ­liche und 24 weibliche Mitglieder. Die Versammlungen waren die ersten, die in Kurhessen zu dem Zwecke einberufen worden waren, auch die Frauen über ihre wirtschaftliche und politische Lage aufzuklären und sie organisiert der Partei einzugliedern. Der Erfolg der Agitation für die Organisation und für die sozialdemo­kratische Presse bewies, daß der zu bearbeitende Boden gut ist. Wie überall, so lommen auch hier die Frauen zur Sozialdemokratie, wenn sie gerufen werden. Wenn diese erste Bemühung der Partei­organisation in Kurhessen, die Frauen der werktätigen Massen auf­zurütteln und zu schulen, nicht der letzte bleibt, wenn das begonnene Wert vielmehr eifrig fortgesetzt wird, kann der Erfolg nicht aus=" bleiben. Die Aufklärung der Frauen wird aber das Ihrige dazu beitragen, daß bei den nächsten Reichstagswahlen das rote Banner auch über Kassel   und Umgegend siegreich weht, und daß die Bundes­brüder des Triolen- Schack nicht wieder als Abgeordnete in das Parlament einziehen. Agnes Fahrenwald.

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Im Wahlkreis Hanau- Orb- Gelnhausen- Bockenheim lassen sich Parteisekretär und Leitung der Kreisorganisation eine außer­ordentlich rührige Agitations- und Aufklärungsarbeit unter den Frauenmassen angelegen sein. Auf ihre Veranlassung unternahmen im Verlauf eines Jahres die Genossinnen Reize, Weyl und fürz­lich die Unterzeichnete drei große Agitationstouren. Die Agitation der letzteren erfaßte folgende Orte: Kilian städten, Enckheim, Hanau  , Eckenheim  , Kesselstadt  , Ravolzhausen  , Bocken­ heim  , Praunheim  , Gimmheim, Klein- Auheim  , Dörnig heim, Fechenheim  , Eschersheim  , Rückingen, Mittelbuchen, Windecken  , Bischofsheim  , Preungesheim  , Langendiebach, Griesheim  , Bruch hovel, Spielberg und Langenseebold. Die Referentin sprach über:" Die Frau als Arbeiterin, Mutter, Steuerzahlerin und Staatsbürgerin im Zeitalter der Lebensmittel­verteuerung". Der Besuch war ein guter, in einigen Orten war das Lokal überfüllt, Tausende von Männern und Frauen haben im ganzen Wahlkreis an den Versammlungen teilgenommen. Die