Nr. 6

20. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Prets der Nummer 10 Pfennig, durch die Poft vierteljährlich obne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jabres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhaltsverzeichnis.

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Stuttgart

20. Dezember 1909

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Dies Buch gehört den Massen. Eine Abrechnung wegen des Schwindels mit der Hinterbliebenenversicherung. Von gh. Die Eheschließung. II. Von Ernst Oberholzer. Der Vorentwurf eines neuen Strafgesetzbuchs. II. Von H. B.- Niederösterreichische Frauenkonferenz. Von Adelheid Popp . Aus der Bewegung: Von der Agitation. Bericht der Kinderschutzkommission für Altona und Ottensen . Politische Rundschau. Von H. B. Ge Aus der Textilarbeiterbewegung. Von hj.- werkschaftliche Rundschau. Genossenschaftliche Rundschau. Von H. F. Die Konsumgenossenschaft in Berlin und Umgebung. Von Gertrud Lodahl. Notizenteil: Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Sozialistische Frauen­Frauenstimmrecht. bewegung im Ausland. Verschiedenes. Frau in öffentlichen Aemtern. Literarisches.

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Dies Buch gehört den Massen.

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Die hochsinnige und geistreiche Bettina v. Arnim hat ein denkwürdiges Büchlein geschrieben. Es ist geboren aus dem leidenschaftlichen Wunsche, die leibliche und geistige Not der Mühseligen und Beladenen zu wenden, und der Odem glühen der Freiheitsliebe weht durch seine Seiten. Trotzdem hat Bet tina auf das Titelblatt geschrieben: Dies Buch gehört dem König", denn von dem sozialen Königtum eines Friedrich Wil helm IV. erhoffte sie die Erfüllung ihrer Träume von Mensch heitsbefreiung und Menschheitsbeglückung. Sie befand sich da­mit wohl in übereinstimmung mit ihrer romantischen Welt­anschauung, stellte sich jedoch in Widerspruch zu den geschichts lichen Tatsachen und ihrer Logit und damit im letzten Grunde auch zu ihrem eigenen heiß ersehnten Jdeal. Ihr Buch hätte dem Volfe gehört.

Die Gegensätze berühren sich", am häufigsten in den Ge­danken, die dicht beieinander wohnen, wenn hart im Raume sich die Sachen stoßen. Als wir die Jubiläumsausgabe, die fünfzigste Auflage von Bebels Die Frau und der Sozialis. mus" aus der Hand legten und unter dem frischen, unmittel­baren Eindruck dieses wichtigen und merkwürdigen Buches" standen, wie Professor Forel, ein Nichtsozialist, urteilt: blizte in uns zusammen mit der Erinnerung an den inneren Wider spruch zwischen Inhalt und Titel der Bettinaschen Schrift das Bewußtsein der tiefen inneren Berechtigung empor, mit der Bebel seinem Werke das stolze Motto voranstellen dürfte: Dies Buch gehört den Massen." In der Tat: Wenn es ein zeit­genössisches Werk gibt, in dem das beste geschichtliche Leben der Massen webt und wirkt, das ihre Bedeutung, wie sie sich in der Sonne der sozialistischen Auffassung entfaltet, gleichsam persönlich verkörpert zeigt, so ist es das genannte. Und es wendet sich an die Massen! Nicht bloß um ihnen mit jener mitfühlenden Liebe zu dienen, die Glück in ihre Not, Licht in ihre Nacht tragen will, sondern um sie voller Erkenntnis von dem geschichtlichen Werden zur befreienden Tat aufzurufen, die ihr eigenes Wert sein muß. So ist es natürlich, daß dieses Buch wie faum ein zweites weckend und wegweisend auf die Massen gewirkt hat. Rein äußerlich betrachtet richtet es sich vor allem an die Frauen, an die Frauen jeder Klasse. Es stellt aber das weibliche Geschlecht mit seinem Jahrtausende

Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet fich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

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alten Leid, seinen Gegenwartskämpfen und Zukunftshoffnungen mitten hinein in die allgemeinen gesellschaftlichen Zusammen hänge. Daher mußte es über den Rahmen eines bloßen Frauen­buches"- um diesen Ausdruck zu gebrauchen- hinaus. wachsen und zu einer großzügigen Darstellung der Ursachen werden, in denen die Ausbeutung und Knechtung der arbeiten. den Massen wurzelt, wie der treibenden geschichtlichen Mächte, die ihre Erlösung verbürgen. Das muß man festhalten, wenn man Bebels Werk in seines Wesens Kern und seiner gewal tigen Wirkung verstehen will.

Vor langen Jahren schon haben wir öffentlich erklärt: Dies Buch ist eine Tat. Heute, wo wir einzelnen seiner Teile kris tischer gegenüberstehen als damals, können wir diese Außerung im Hinblick auf die geschichtliche Bedeutung des Werkes nur wiederholen, in Würdigung seiner Wirkung aber fügen wir hinzu: es wird noch lange eine fräftig fortzeugende Tat bleiben. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion und der Auflösung der Familie als einer wirtschaftlich festgeschlossenen Einheit, mit dem Aufkommen der bürgerlichen Ordnung und ihrer Ideologie vom Rechte der Persönlichkeit, von der Not­wendigkeit der Demokratie mußte auch die soziale Unterbürtig­feit und Rechtlosigkeit des weiblichen Geschlechts ihre Ankläger, mußte die Forderung nach seiner vollen gesellschaftlichen Gleich berechtigung ihre Anwälte finden. Aber auch die klassischen Doku mente, die das befunden wir rechnen zu ihnen besonders die Erklärung der Frauenrechte" von Olympe de Gouges , Mary Wollstonecrafts, Forderung der Frauenrechte" und Stuart Mills Buch Die Hörigkeit der Frau"-, ja gerade sie er­weisen ein bloßes Erfassen der Frauenfrage im beschränkt bürgerlichen Sinne, so daß sie durch juristische Formeln und Erziehung zu lösen wäre. Die rechtliche Gleichstellung des Weibes mit dem Manne als die Anerkennung eines unveräußerlichen Naturrechts" sollte auf dem Boden der kapitalistischen Ord. nung die volle menschliche Emanzipation der Frau verwirk lichen können. Über die Gedankengänge der naturrechtlichen Philosophie griffen die Verfechter der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts nicht hinaus, und die deutsche frauen­rechtlerische Literatur insbesondere war lange im allgemeinen nichts als ein seichter, ängstlicher Abklatsch englischer und ameri kanischer Schriften, in denen die hervorgehobene Auffassung herrschte.

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Gewiß: die großen sozialistischen Utopisten Saint- Simon, Owen und Fourier hatten eine revolutionierte Stellung des Weibes in einer von Grund aus umgewälzten sozialistischen Ordnung gezeichnet. Allein von den luftigen Wolken der gei stigen Spekulationen, wo ihre Ideale wohnten, führte keine Brücke hinab zu der festgegründeten dauernden Erde der realen Gesellschaftszustände und der sie bewegenden Kräfte. Was sie geheischt und prophezeit hatten, konnte daher nicht zur Losung werden, welche Wassen für die Befreiung des Weibes in Be wegung gesetzt hätte. Erst der wissenschaftliche Sozialismus, wie ihn Marg und Engels begründeten, hat in der materia­listischen Geschichtsauffassung die Brücke gezimmert, auf der die Einsicht in das Wesen der sozialen Entwicklungskräfte und in