Nr. 6
-
-
Die Gleichheit
Nicht der Forschungsdrang des stillen Gelehrten hat sein Buch gezeugt. Es war der glühende Tatwille des Agitators, der die Notwendigkeit kennt, Massen in Bewegung zu setzen, um leuchtende Ziele zu verwirklichen. Des idealen Agitators großen Stils, der von der Überzeugung durchdrungen ist, wissen zu müssen, um wollen und handeln zu können. Dem Jakob der biblischen Legende gleich, der mit Jehova bis zum Morgen grauen ringt und ihn nicht läßt, er segne ihn denn, hat Bebel mit der Wissenschaft um Erkenntnis gerungen bis in die Tage der schwer lastenden Arbeitsüberbürdung, des Alters und der Kränklichkeit hinein. Menschenlos ist es, daß sein Werk trotzdem die Muttermale seiner Herkunft trägt. Wie seine stärksten, ja unersetzlichen Vorzüge auf Rechnung dieser Herkunft zu setzen sind, also auch manche seiner Schwächen. Es ist erklärlich, daß diese am meisten in dem Teile des Buches hervortreten, der der Stellung der Frau in der Vergangenheit gewidmet ist. Hier wurden die bedeutenden sachlichen Schwierigkeiten der Be herrschung und Gestaltung des Stoffes noch durch die Not wendigkeit gesteigert, ihn zu beschränken und zusammenzudrängen. Diesem Teil haftet unserer Meinung nach besonders ein all gemeiner Mangel an. Die Abhängigkeit der sozialen und recht lichen Stellung der Frau von der Eigentumsordnung und den Produktionsverhältnissen wird in ihm zwar stark betont und auch an Einzelbeispielen erwiesen, allein der Zusammenhang ist nicht systematisch auf der Grundlage eines Überblickes über die Wirtschaftsgeschichte herausgearbeitet worden, der besonders auch die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und an ihrer Basis die technische Entwicklung der wichtigsten Arbeitswerkzeuge berücksichtigt hätte. Wäre das geschehen, so würde Bebel auch an bedeutsamen Werken der letzten ethnologischen Forschungen um nur sie herauszugreifen und unter ihnen bes sonders das wertvolle Werk:„ Unter den Naturvölkern ZentralBrasiliens", von Karl von den Steinen nicht vorübergegangen sein, die Engels- Morgansche Hypothesen über die Urgesellschaft umstoßen, aber dafür glänzende Bestätigungen der materialistischen Geschichtsauffassung sind. In dem Mangel an systematischer Durcharbeitung erblicken wir auch den Grund dafür, daß das reiche Material über die soziale und rechtliche Stellung der Frau bei verschiedenen Bölfern und in verschiedenen Zeiten nicht immer glücklich und einwandfrei gegliedert und gruppiert ist. Dazu noch einige besondere Bedenken. Die Kapitel über Christentum, Reformation und bürgerliche Revolution dringen nicht tief genug in das Wesen dieser geschichtlichen Bewegungen und ihrer Verknüpfungen mit der aufgerollten Frage ein, sie geben daher vielfach ein persönliches Werturteil an Stelle der historischen Erklärung. Andere geschichtliche Erscheinungen von großer Bedeutung für das Problem hat Bebel gar nicht in den Kreis seiner Untersuchung gezogen. So die religiös- revolutionären Bewegungen des Mittelalters, für die ncben der Eigentumsfrage die Ehefrage eine hervorstechende Rolle spielte, so Rennaissance und Humanismus. Mit unseren Einwänden hinter dem Berge halten, hieße der hohen Achtung ins Gesicht schlagen, die Bebels ernste, weitfassende Arbeit verdient: kritiklose Beweihräucherung ist teine fachliche Würdigung, sondern eine persönliche Beleidigung. Außerdem würden wir eine Pflicht gegen die Genossinnen verletzen, wollten wir sie nicht anregen, im Geiste des Bebelschen Wahrheitsuchens selbständig zu prüfen und zu arbeiten, statt sich sklavisch an das Wort des Führers zu flammern. Übrigens hätte das Buch in dem aufgezeigten Sinne nicht vervollständigt werden können, ohne daß sein charakteristisches Gepräge teilweise verwischt worden wäre. Man kann aber sehr wohl über die Berechtigung streiten, ein Wert von seiner starten persön lichen Eigenart und seiner geschichtlichen Bedeutung wesentlich umzuändern.
Auf der Höhe seiner Aufgabe steht Bebel in den Abschnitten seines Buches, in denen er die Stellung des weiblichen Geschlechts unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktion untersucht. Er wandert mit der Frau die Pfade, auf die das Blut ihrer wehen Füße und ihres wunden Herzens in heißen Tropfen fällt; er zeigt sie in den Wüsten der Hunger löhne und in den Sümpfen der Prostitution; er folgt ihr in
83
die Familie mit ihren geheimen Schmerzen und ihrer heuchlerisch verhüllten Schmach, in die Öffentlichkeit, des schreienden Unrechts voll, soziale Pflichten aufzubürden, aber soziale Rechte zu versagen. Es gibt faum eine Seite des weiblichen Lebens, von der aus Bebel nicht die Entwicklungs- und Betätigungsmöglichkeiten in der heutigen Gesellschaft kritisch prüft. Seine Untersuchung wird daher zum Prozeß der bürgerlichen Ordnung selbst, und er führt ihn mit der unerbittlichen Schärfe eines Gerechtigkeitsliebenden und der zermalmenden Wucht eines wissenschaftlich wohl Gerüsteten. Über alle Reformen hinweg, die die bürgerliche Gesellschaft zur rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter gewähren kann, ist ihm daher stets die Unabweisbarkeit der sozialen Revolution gegenwärtig, als der Vorbedingung für die endgültige Lösung der Frauenfrage. So bleibt der Sozialismus selbst in seiner ganzen historischen Tragweite der zentrale Punkt des Buches, und mit so starter Überzeugung Bebel auch als Anwalt der Frauenrechte auftritt, im letzten Grunde sind sie ihm doch Mittel zu dem höheren Zwecke, das Unvermögen der bürgerlichen Ordnung darzutun, der Hälfte ihrer Glieder volles Menschentum zu gewähren, die überlegenheit des Sozialismus zu zeigen, da befreiend einzusetzen, wo alle bürgerliche Weisheit endet.
-
Manche auch solche, die im sozialistischen Lager stehen haben es Bebel verargt, daß sein Buch sich nicht damit be gnügt, der bürgerlichen Ordnung das Menetekel zu schreiben, daß er dem düsternen Gegenwartsbilde ihrer Auflösung das lichte Zukunftsgemälde des aus den Ruinen emporblühenden sozialistischen Lebens gegenüberstellt. Wir möchten dieses Gemälde nicht missen, wenngleich es, wie sein Kontrastbild auch, in einzelnen Linien und Farben lediglich der Ausdruck einer ganz persönlichen Meinung ist. Es liegt im Wesen der sozialistischen Auffassung, nicht bloß das zerstörende, tötende, vielmehr auch das aufbauende, schöpferische Walten der geschichtlichen Entwicklungskräfte zu würdigen. Und Menschenart ist es, nach den Zügen der sozialistischen Zukunft zu fragen, die am Horizont des historischen Werdens emporsteigt. Die Antwort aber, die Bebel auf diese Frage gibt, ist ein hohes Lied der felsenfesten Überzeugung, daß der Sozialismus den Menschen in steigendem Maße zum Herrn der Naturkräfte und zum erstenmal in der Geschichte zum Herrn der gesellschaftlichen Mächte erhebt, die bisher sein Leben beherrscht haben. Der Sozialismus ist die auf allen Gebieten des menschlichen Seins angewandte Wissenschaft, er ist der endgültige Sprung des Menschen aus dem Reiche der Tierheit in das Reich wahrhaft menschlicher Freiheit: in diesem stolzen Jubelafford klingt das Buch hoffnungskräftig aus. Solange die kapitalistische Ordnung Leiber und Geister knechtet und mordet, wird dieses Werk Gewissen aus träger Ruhe aufpeitschen und Kreuzesträger zu Kämpfern erziehen, wird es nicht erlöschende Begeisterung für das strahlende Ziel des Sozialismus entzünden. Wir wünschen ihm in den nächsten 20 Jahren die hundertste Auflage und einen Leserkreis von Millionen. Dies Buch gehört den Massen!
Eine Abrechnung wegen des Schwindels mit der Hinterbliebenenversicherung.
gh. Der Reichstag hat seine Tätigkeit in diesem Winter mit sehr lehrreichen Verhandlungen begonnen. Dazu gehört die Be ratung des Gesetzes, das den§ 15 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 abändern soll.
Der erwähnte Paragraph schreibt bekanntlich vor, daß ge wisse Exträge der Brotwucherzölle zur Erleichterung der Durchführung einer Witwen- und Waisenversorgung zu vers wenden sind. Für diese Versicherung soll ein besonderes Gesetz erlassen werden. Bis dieses Gesetz in Kraft tritt, sind die be treffenden Gelder anzusammeln und verzinslich anzulegen. Tritt das Gesetz bis zum 1. Januar 1910 nicht in Kraft, so sind von da ab die Zinsen der angesammelten Beträge sowie die eingehenden Gelder selbst den einzelnen Invalidenversicherungsanstalten zum Zwecke der Witwen- und Waisenversorgung zu überweisen.