Nr. 10
Die Gleichheit
getragenen Klassenkampfes des modernen Proletariats. Ihr eigentlicher Führer ist in Wirklichkeit die Masse selbst, und zwar dies dialektisch in ihrem Entwicklungsprozeß aufgefaßt. Je mehr sich die Sozialdemokratie entwickelt, wächst, erstarkt, um so mehr nimmt die aufgeklärte Arbeitermasse mit jedem Tage ihre Schicksale, die Leitung ihrer Gesamtbewegung, die Bestimmung ihrer Richtlinien in die eigene Hand. Und wie die Sozialdemokratie im ganzen nur die bewußte Vorhut der prole tarischen Klassenbewegung ist, die nach den Worten des Kommunistischen Manifestes in jedem Einzelmoment des Kampfes die dauernden Interessen der Befreiung und jedem partiellen Gruppeninteresse der Arbeiterschaft gegenüber die Interessen der Gesamtbewegung vertritt, so sind innerhalb der Sozial demokratie ihre Führer um so mächtiger, um so einflußreicher, je flarer und bewußter sie sich selbst nur zum Sprachrohr des Willens und Strebens der aufgeklärten kämpfenden Massen, nur zu Trägern der objektiven Gesetze der Klassenbewegung machen.
Die deutsche Sozialdemokratie hat in ihrem Werdegange viele imposante Charaktere, talentvolle Köpfe an ihrer Spize gesehen. Sie hat keinen gehabt, der die Vorbedingungen eines Führers der modernen proletarischen Klassenbewegung, wie sie durch die objektiven Bedingungen dieser Bewegung gegeben find, in so hohem Maße und in so glücklicher Mischung besessen hätte wie August Bebel .
Vor allem ist die geistige Lebensgeschichte Bebels mit der Entwicklungsgeschichte der deutschen Sozialdemokratie identisch. Weder hat sich Bebel als geistig Fertiger der Klassenpartei des Proletariats angeschlossen, noch war die Sozialdemokratie ein reifes Parteigebilde, als er in ihre Reihen trat. Bebel hat den ganzen Werdegang der Partei seit den sechziger Jahren mit gemacht, er rang sich von bürgerlich- demokratischer zur prole tarisch- revolutionären Auffassung zusammen mit der Vorhut der deutschen Arbeiterklasse durch, er hatte alle inneren und äußeren Kämpfe und Krisen der jungen Parteibewegung mit gemacht. In ihren anfänglichen Fraktionstämpfen zwischen ben Lassalleanern und Eisenachern stand er in erster Reihe. In der Üra des Bismarckschen Sozialistengesetzes hat er all ihre Leiden und Opfer ausgefoftet, so wie er in dem darauffolgenden Siegeslauf der Bewegung ihr Bannerträger war. Das organisas torische Wachstum der Partei von den ersten schwachen Anfängen bis zur jetzigen Macht und Größe sind jedesmal unter seiner tätigen und bestimmenden Mitwirkung vor sich gegangen. Die parlamentarische Aktion der Sozialdemokratie entfaltete sich von den ersten tastenden Schritten im norddeutschen Reichstag bis zu den letzten Jahren unter Bebels maßgebender Führung, so wie auch die ersten gewerkschaftlichen Organisationen der Eisenacher Ende der sechziger Jahre unter seinem Einfluß und nach seinem Plane ins Leben gerufen wurden. Und endlich in allen geistigen Krisen, in allen Ideenkämpfen der Bewegung stand Bebel stets im Brennpunkt des Parteilebens, er wuchs geistig und reifte zusammen mit der Partei: ein Stück der deutschen Sozialdemokratie, ist er in gleichem Maße ihr Produkt und ihr Schöpfer.
Deshalb ist auch, abgesehen von den persönlichen glänzenden Eigenschaften seines Geistes und seines Charakters, das eigent liche Geheimnis der Größe Bebels und seines Lebens das nämliche, wodurch die heutige Größe der deutschen Sozialdemofratie zu erklären ist. Und wie alles wirklich Große, sind beide äußerst einfach zu erklären. Das Verständnis sowohl für die Wichtigkeit und Notwendigkeit des unermüdlichen praktischen Tagestampfes um alles im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung für das Proletariat Erreichbare, eines Kampfes, ohne den die sozialdemokratische Bewegung zu einer in der Luft schwebenden Seftenbewegung werden muß, wie das Ver ständnis für die Wichtigkeit und Notwendigkeit der revolutionär prinzipiellen Richtschnur für alles Tun und Lassen der Partei, wie sie nur durch eine fonsequente wissenschaftlich- theoretische Basis geschaffen werden kann und ohne welche die proletarische Bewegung zwischen Kleinbürgerlich- reformistischem Praktizismus und anarchistischer Geistesverödung haltlos hin und her schwanken muß die Vereinigung des gegenwärtigen Tagestampfes mit
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dem revolutionären Prinzip, der Praxis mit der wissenschaft. lichen Theorie, dies der Schlüssel zum Verständnis der Ent wicklung der deutschen Sozialdemokratie, ihrer heutigen Größe und der in ihr verborgenen gewaltigen Kräfte, die sie erst in der Zukunft entfalten wird. Und dasselbe Verständnis für die Notwendigkeit und Vereinigung des praktischen Tageskampfes mit den revolutionären Prinzipien des Sozialismus ist der Schlüssel zum Verständnis des beispiellosen Einflusses, den Bebel auf die Geschicke der deutschen Sozialdemokratie seit bald einem halben Jahrhundert ausübt. Nur weil er vom ersten Anfang seiner Laufbahn als Kämpfer des Sozialismus und bis in seine alten Tage mit gleicher Festigkeit, Klarheit und Hingebung den beiden Leitsternen der Sozialdemokratie treu geblieben ist, nur weil er jederzeit für die Anforderungen der Praxis wie für die Anforderungen der revolutionär- prinzipiellen Taktif gleiches Verständnis hatte, nur weil er niemals die eine Seite der Bewegung der anderen opferte, weil ihm nie die tägliche Mühe des harten Kampfes zu öde und zu kleinlich vorkam, um aus dem Steinfelsen der bürgerlichen Ordnung einige farge Tropfen der Linderung für die verhungernden und verdurstenden Massen zu schlagen, aber auch das sozialistische Endziel des Weges ihm nie zum fernen, schwachschimmernden Sternchen verblaßte, sondern stets wie eine strahlende und wärmende Sonne alle Pfade beleuchtete: nur deshalb konnte Bebel zum geliebten Führer der Millionen werden. Tausende, später Hunderttausende, zuletzt Millionen deutscher Proletarier leisteten ihm Gehorsam und Gefolgschaft, weil Bebel wie kein anderer es verstand, die rastlose Kampfluft und Zähigkeit dieser Millionen im Erobern jeder Handbreit eines menschenwürdigen Daseins sowie auch ihren revolutionären Idealismus zu erfassen, diesen politischen Tugenden Worte zu verleihen, sie zur Tat zu schmieden.
Schon seit Mitte der sechziger Jahre, als Leiter der deutschen Arbeiterbildungsvereine, beginnt er mit der Praxis, betätigt er sich als Organisator großen Stiles, als Tagespolitiker großen Kalibers. Kaum hatte das deutsche Proletariat seine elementarste politische Waffe, das Wahlrecht zum norddeutschen Reichstag gewonnen, ist Bebel der erste, der nicht nur, entgegen der Opposition anderer, ohne Schwankung zum Gebrauch dieser Waffe rät, sondern sie selbst zu gebrauchen lehrt, und damit ein gewaltiges neues Feld praktischer Arbeit für das Proletariat erobert. Um dieselbe Zeit aber schreibt Bebel an Albert Lange aus Anlaß der fünften Tagung der deutschen Arbeitervereine über die unvermeidliche innere Spaltung in ihrem Schoße: Lieber zehn sichere als dreißig schwankende Vereine! Ein Jahr darauf löst er mit entschlossener Hand den besten Kern dieser Vereine von der bürgerlich- demokratischen Gefolgschaft und gründet zusammen mit Liebknecht die Sozialdemokratische Ar beiterpartei . Als in demselben Jahre infolge der Beschlüsse des Baseler Kongresses der Internationale die Grund- und Bodenfrage im Brennpunkt des Interesses stand und zum Erkennungswort des Sozialismus wurde, als jene Beschlüsse der jungen sozialdemokratischen Bewegung den grimmigsten Haß der Bourgeoisie zuzogen, war Bebel der erste in der Eisenacher Partei, der sich offen zur revolutionär- sozialistischen Lösung der Grundund Bodenfrage bekannte und sich dadurch zugleich auf die Seite der Internationale im Marrschen Sinne stellte.
Im deutschen Reichstag führte Bebel vom ersten Augenblick an, wo er allein die Sozialdemokratie vertrat, wie später an der Spitze einer wachsenden Schar von Abgeordneten denselben zähen Kampf wie vorher im Parlament des Norddeutschen Bundes . Er versocht alle Verbesserungen in der Lage der Arbeiter, er leistete alle praktische Parlamentspolitik, die unter den gegebenen Umständen irgend zu leisten war. Als sich aber auf die gefallene Pariser Kommune alle Geier der bürgerlichen Neaktion stürzten, entrollte Bebel im reichsdeutschen Parlament entschlossen die revolutionäre Standarte und rief laut: „ Seien Sie fest überzeugt, das ganze europäische Proletariat und alles, was noch ein Gefühl für Freiheit und Unabhängig. feit in der Brust trägt, sieht auf Paris . Und wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, so erinnere ich Sie daran,