158

Die Gleichheit

offizieren hervorgegangenen Unterbeamten in die höhere" Wähler­klasse versetzt werden, hat natürlich eine erfreuliche Nebenwirkung. Diese Beamten müssen unter dem Drucke der öffentlichen Ab­stimmung natürlich stramm für die Regierung, für die Junker stimmen, und so wird den Sozialdemokraten die Eroberung der zweiten Wählerklasse und damit von Mandaten erschwert.

Das sind in Kürze die wesentlichsten Züge der sogenannten " Wahlreform" des Junterministers Bethmann Holiweg. Sie ge­nügen vollauf zur Rechtfertigung unseres oben gefällten Urteils. Gleich Sturmglocken müssen sie die Proletarier zum Wahlrechts­fampf bis zum äußersten rufen.

Und nicht bloß die Herausforderung Bethmann Hollwegs muß die Arbeiterklasse aufpeitschen zum Wahlrechtssturm. Im Reichstag hat sich wenige Tage vorher ein anderer Vertreter des Junkertums, Herr v. Oldenburg- Januschau, eine nicht minder empörende Provos fation des Volkes geleistet. Er erklärte es für gute altpreußische Tradition, die erhalten bleiben müsse, daß der König von Preußen jeden Augenblick einem beliebigen Leutnant mit zehn Mann befehlen könne, den Reichstag zu schließen. Ein offenherziges Bekenntnis zum Staatsstreich von oben! Als die Sozialdemokratie das festnagelte, wurde zwar versucht, es ins Harmlose umzudeuten. Indes vergebens sind alle Deutungen, die verhüllen sollen, daß hier die erbitterte Feindschaft wider das gleiche Reichstagswahl recht frank und frei zum Ausdruck gekommen ist. Tatsächlich hat der Ausspruch nur enthüllt, was die Junker vom Kaiser fordern, wenn ein Reichstag gewählt wird, der ihnen und dem Kaiser nicht paßt. Die Selbstenthüllung des fonservativen Redners wurde zur Demastierung seiner Partei, da seine Ausführungen den lebhaftesten Beifall seiner Fraktion fand, was die tapferen Herren später ver­geblich geleugnet haben. Und der bedeutsame Zwischenfall wurde noch träftig unterstrichen durch die Haltung des prinzlichen Vize­präsidenten Hohenlohe, der die Beschimpfung des Parlamentes und darüber hinaus der Wählermassen, die in ihm ihre Vertretung haben, der die Proklamierung des Monarchenrechtes zum Staatsstreich ruhig passieren ließ. Dafür hatte er einen Ordnungsruf für den sozial­demokratischen Abgeordneten, den Genossen Ledebour , der ihn an feine Pflicht mahnte. Der Episode setzte das Verhalten der ton servativ- ultramontan- nationalliberalen Mehrheit des Reichstags die Krone auf. Auf die Berufung Ledebours hin hielt sie den Ord­nungsruf ausdrücklich ausrecht. Zentrum und Nationalliberale haben damit deutlich zu erkennen gegeben, daß sie zu einem ernst­haften Kampfe gegen das staatsstreichlüsterne Junkertum nicht zu haben sind, wenn sie nicht gar dessen Gelüste im geheimen teilen. So ist der Vorfall über die Bedeutung eines Bekenntnisses der konservativen Feindschaft gegen das Reichstagswahlrecht, der junker lichen Staatsstreichgelüfte weit hinausgewachsen. Er hat dem Prole­tariat neuerlich ins Gedächtnis gebrannt, was seit 1900 Tatsachen über Tatsachen fünden, was insbesondere das erbärmlich feige Ducken des Reichstags vor dem persönlichen Regiment 1908 flar erwies: den Verfall des bürgerlichen Parlamentarismus selbst.

-

Die Arbeiterklasse hat die Bedeutung der Vorgänge schnell er­fannt und in großen, imposanten Versammlungskundgebungen er flärt, daß sie die Volksrechte zu verteidigen entschlossen ist. Die lezten Wochen haben dem Proletariat wieder verschiedentlich Ge­legenheit zu kräftigen Vorstößen gegeben. In der Reichstags: nachwahl für den Wahlkreis Eisenach - Dermbach eroberte die Sozialdemokratie im ersten Wahlgang das Mandat, das bis­lang stets im bürgerlichen Besitz war. Die sozialdemokratischen Stimmen stiegen gegen 1907 um 2380- auf 10 255 die beiden gegnerischen Parteien, Liberale und Antisemiten, verloren insgesamt 2964 Stimmen. In Essen gab es am 23. Januar eine imposante Wahlrechtsdemonstration der Arbeiterschaft, in Braun. schweig demonstrierten Tausende von entrechteten Proletariern am 26. Januar. Während in Essen die Polizei leidlich vernünftig blieb, hat sie in Braunschweig unter den Demonstranten ein empören­des Blutbad angerichtet. Der Säbel hat dort in einer Weise ge­haust, daß es unter vielen Verletzten drei Schwerverwundete gab! Die aufreizende Wirkung des sinnlos- brutalen Vorgehens muß dem Wahlrechtskampf in Braunschweig wie in Preußen zugute kommen.

In den Reichslanden demonstrierten am 30. Januar in großen und kleineren Orten viele Tausende von Arbeitern durch imposante Versammlungen unter freiem Himmel und öffentlichen Umzügen für das gleiche Wahlrecht zum Landesausschuß. Bürger­liche Demokraten und zum Teil auch Liberale hatten sich diesen von der Sozialdemokratie einberufenen Rundgebungen angeschlossen eine Erscheinung, die in ganz Deutschland vereinzelt dasteht.

Die englischen Wahlen sind beendet. Das Endergebnis ist so, wie es nach den Resultaten der ersten Wahltage zu erwarten war. Die Liberalen haben große Verluste erlitten und können eine

Nr. 10

arbeitsfähige Mehrheit nur noch im Bunde mit der Arbeiterpartei und den Fren gegen die Konservativen und Schutzöllner bilden. 273 Liberalen, 40 Arbeiterparteilern und 80 Jren stehen 271 Kon servative gegenüber. Die Konservativen haben gewaltige Erfolge erzielt und behaupten daher, daß sie in naher Zukunft die Mehr­heit gewinnen würden. Die Arbeiterpartei hat mehrere schwere Verluste erlitten und fast ausschließlich dort ihre Mandate be hauptet, wo sie die Unterstützung der Liberalen fand. Die Sozial demokratische Partei vermochte fein Mandat zu erobern und verlor leider an Stimmen. Die politische Arbeiterbewegung Englands entbehrt noch sehr der innerlichen Festigung, wie es ihr nur ein sozialistisches Programm geben könnte. Eine eingehendere Be trachtung der Wahlen und der Lage in England muß verschoben werden, da diesmal die wichtigen deutschen Ereignisse großen Raum H. B. beansprucht haben.

Gewerkschaftliche Rundschau.

Es ist in der Geschichte des Kampfes gegen die Arbeiterbewegung nichts Neues, daß die Unternehmerverbände die Staats. behörden um Repressivmaßregeln gegen die Gewert schaftsorganisationen anbetteln. Aller strupellose, brutale Terrorismus, den sie dank ihrer wirtschaftlichen Macht über die Arbeiter aufzubieten vermögen, ist außerstande, die Gewerkschafts­bewegung niederzufnütteln. Da soll dènn Vater Staat helfen, der durch seine Organe die Unternehmerinteressen ohnehin schon mehr als genügend behüten läßt. Er soll durch Gesegesbestimmungen den Gewerkschaften den Hals brechen. Das Verlangen nach neuen Zuchthausgesehen gegen das kämpfende Proletariat erscheint immer wieder in neuer Form. So auch in der Eingabe, die der Arbeitgeberverband in Köln an den Staatssekretär des Innern gerichtet hat. Sie ist ein bemerkenswertes Zeichen dafür, daß der Geist der Zuchthausvorlage ständig umgeht, und daß die Scharfmacher feinen ihnen günstig scheinenden Anlaß vorübergehen lassen, ohne ihre Unterdrückungsgelüfte befriedigen zu wollen. Die Herren ge denken die bevorstehende Schaffung eines neuen Strafgesetzbuchs beim Schopf zu nehmen, um eine gesegliche Beschränkung des Koalitionsrechts durchzudrücken. Sie verlangen schlankweg ein unbedingtes gefeßliches Verbot des Streitposten stehens und ,, was damit zusammenhängt". Die letztere Forderung ist einfach genial! Was damit zusammenhängt", ist das bißchen Koalitions recht schlechthin, das dem deutschen Arbeiter zusteht. Weg mit ihm! Es beschwert ja das ausbeutungs- und machtlüsterne Unternehmer. tum. Nach der Behandlung, die der sozialdemokratischen Inter pellation über den Mansfelder Streit im Reichstag zuteil wurde, ist nicht ausgeschlossen, daß der Wunsch der Scharfmacher bei der Regierung Verständnis findet. Die starten gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiter werden der scharfmache rischen Sehnsucht kräftig auf die Finger klopfen. Freilich könnte das noch weit fraftvoller geschehen, wenn die Arbeiterbewegung eine einheitliche und daher mächtigere wäre, wenn nicht Proletarier sich in gewerkschaftlichen Organisationen absonderten, die nicht auf dem Boden des Klassenkampfes stehen, wenn nicht Ausgebeutete noch am Gängelband bürgerlicher Parteien dahertrippelten. Auf­klärung der noch im Dunkeln Tappenden muß unsere Losung sein, auf daß die gewerkschaftliche und politische Macht des Proletariats immer mehr erstarte.

"

Der Wahlfonds der Scharfmacher wird nunmehr Wirklich teit. Ein Ausschuß des Zentralverbandes der deutschen Industriellen hat seine Mitglieder aufgefordert, 0,5 Prozent vom Taufend der Lohnsumme, die ihre Betriebe im Jahre 1909 ausgezahlt haben, an den Wahlfonds abzuführen, dem der gleiche Sah in den nächsten Jahren zugeführt werden soll. Zweck des Wahlfonds ist bekannt lich, bei den kommenden Reichstagswahlen die dem Zentralverband genehmen Kandidaten zu unterstüßen, mit anderen Worten: parla­mentarische Vertreter seines sozialpolitischen Programms" au faufen. Im Interesse des Geldsacks foll also die weitere Vergiftung und Korrumpierung des politischen Lebens systematisch betrieben werden.

Der Zechenarbeitsnachweis im Ruhrrevier zeigt deut lich, von wem und wozu er gegründet wurde. Bergarbeiter, die in durchaus rechtmäßiger Form ihr Arbeitsverhältnis gelöst hatten, erhielten keinen Anlegeſchein und werden nun grundlos von Zeche zu Zeche gehegt. Solche Tatsachen, in Verbindung mit der We handlung der Interpellation im Reichstag und im preußischen Land. tag, fachen die Erregung der Bergarbeiter mächtig an. Die Gruben­herren tun ein übriges dazu, daß sie nicht gedämpft wird. Im Ruhrbecken sind im Verlauf von 21 Monaten dank reduzierter Löhne 50 Millionen Mark gespart" worden. Und die Bergleute werden so provozierend und schimpflich behandelt, daß es fast wunder­