Nr. 11
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Die Gleichheit
wenn er
Ziege manchmal sogar eine Kuh nennt jeder Arbeiter auch sonst nichts weiter befißt sein eigen. Jede Familie hat sein eigen. Jede Familie hat ein Stück Ackerland, das sie bebaut. Die Zeit, die die Frauen in anderen Gegenden als Erwerbstätige dem Unternehmertum opfern müssen, verbringen sie hier damit, ihr eigenes Vieh aufzuziehen oder dem eigenen oder gepachteten Ackerland Früchte abzuringen. Die Leute würden ohne dies nicht existieren können, dazu ist der Lohn der Männer viel zu gering, und gewerbliche Frauenarbeit gibt es nur wenig. Der landwirtschaftliche Nebenbetrieb ist es aber auch, der alle Gedanken der Bevölkerung gefangen nimmt. Der Kampf um die Existenz hält die Leute jede Minute in Atem. Ist die Tagesarbeit im Dienste des Unternehmertums beendet, so beginnt die Arbeit in Stall und Garten. Frauen und Kinder plagen sich fortwährend mit dem Vieh und der Landwirtschaft ab. So ist es begreiflich, daß die Mecklenburger Proletarier wenig von Politik verstehen. Ihnen fehlt die Zeit, eine Zeitung oder gar ein Buch zur Belehrung und Aufklärung in die Hand zu nehmen. Die Empörung über die Ereignisse im politischen Leben oder über die Ausbeutung, die der Arbeiter am eigenen Leibe spürt, diese Empörung, die bei den Industriearbeitern so schnell emporlodert, bricht hier nur selten hervor. Die Leute haben sich zu sehr an Ausbeutung und Rechtlosigkeit aller Art gewöhnt. Ihr Trachten dreht sich in der Hauptsache um das tägliche Sattwerden. Jdealismus, Solis darität und Klassenbewußtsein sind unter ihnen noch ziemlich fremde. Begriffe. Nur langfam geht es mit der Aufklärungsarbeit vorwärts. Aber es geht vorwärts! Nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem platten Lande, sogar unter den Leuten, die unter dem Herrn" stehen, das heißt bei den Gutsarbeitern und dem„ Gefinde". Weine Agitationstour, die hauptsächlich der Erweckung der Frauen dienen sollte, wurde eingeleitet durch eine Versammlung in Stars gard. In Stargard ist fast noch nichts vorhanden, was nach sozialdemokratischer Organisation aussieht. Es mußte darum versucht werden, an die Landarbeiter aus der Umgegend heranzutommen. Unser Genosse Bogenhardt- Strelitz, der schon seit langem für die Landarbeiterorganisation eifrig tätig ist, hatte die vom Regen durchweichten schlechten Landwege nicht gescheut, um von Dorf zu Dorf, von Gut zu Gut zu wandern und die Leute mündlich zu der Versammlung einzuladen. Von der Beschwerlichkeit dieser Kleinarbeit fann sich mancher kein Bild machen. Die Arbeit war nicht vergebens, 85 Personen besuchten die Versammlung, darunter nur wenige aus der Stadt selbst. Die Landarbeiter waren zum Zeil weither gekommen, einige hatten einen Weg von 1% Stunden zurückzulegen gehabt. Mit Interesse lauschten sie dem Vortrag. Ihre ganze Wut gegen das Junfertum fam in erregten Zwischen rufen und privaten Außerungen zum Ausbruch. Der Aufforderung, sich dem Landarbeiterverband anzuschließen, folgten viele Männer. Versammlungen mit dem Thema„ Die Frauen und die Politif" fanden statt in Mirow , Strelig, Fürstenberg, Neustrelit, Friedland , Wesenberg , Penzlin , Neubrandenburg , Stavenhagen, Teterow , Gnoien , Groß- Wockern, Malchin , Waren, Lübz , Parchim , Crivit, Lübtheen , Boizenburg , Hagenow , Wittenburg , Neustadt, Dömitz und Grabow . Die große Bedeutung, die die Parteileitung der Frauenbewegung beilegt, hat gute Gründe. Wenn in Mecklenburg die Frauen für uns gewonnen sind, so sind wir um einen großen Schritt weiter gekommen. Ich möchte nicht unausgesprochen lassen, daß die Genossen in verschiedenen Orten erklären, die Frauen seien hier im Vergleich zu den Männern sehr intelligent. Ich habe allgemein den gleichen Eindruck erhalten. In Hagenow hatte eine junge Genossin schon den Mut und das Geschick, unsere Versammlung zu leiten. Das ist besonders hervorzuheben, weil vor dem Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes Frauen vom Versammlungsbesuch ganz ausgeschlossen waren. Fast alle Versammlungen waren von Männern und Frauen gut besucht, einige sogar überfüllt. Schlecht besucht waren nur die Versammlungen in Neustrelit, Neu brandenburg und Friedland . In den ersten beiden Städten war das hauptsächlich auf schlechte Agitation für die Versammlung zurückzuführen. In solchen Orten, wo vordem noch keine Frau referiert hatte, tonnte man viele Neugierige aus der Bourgeoisie in den Versammlungen sehen. In Neustadt waren sogar- der Bürgermeister und einige Lehrer erschienen; es hatten sich außerdem einige Bourgeoissöhnchen eingefunden, die das Technikum im Städtchen besuchen. Diese Herrlein wollten sich, wie Bemerkungen und Benehmen zeigten, einen vergnügten Abend machen. Eine gleich anfangs abgegebene Erklärung, daß die Herren bei etwaigem un manierlichen Betragen an die frische Luft befördert werden würden, daß das Thema sie wohl auch kaum auf ihre Kosten im Punkte Lachluft kommen lassen würde, verscheuchte die vergnügten Ge fichter. Allgemeine musterhafte Ruhe herrschte während des Vor
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trags. Die sämtlichen Gegner zogen es vor, fich während der Dis fussion in Schweigen zu hüllen. Der Erfolg war in allen Versammlungen ein guter. Überall wurden neue Mitglieder für die Partei gewonnen. Den reaktionären Mächten wird also mit der Zeit auch in Mecklenburg ein Halt entgegengerufen werden können. Mögen die Bedingungen für ein schnelles Vorwärtsschreiten der sozialistischen Jdeen hier auch nicht so reichlich vorhanden sein, so werden wir schließlich doch festen Fuß fassen. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Frida Wulff.
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Von der Berliner Jugendbewegung. Seitdem in Berlin am 10. Oftober v. J. zwei öffentliche unpolitische Jugendversammlungen und später eine Mitgliederversammlung der Jugendorganisation in völlig ungesetzlicher Weise polizeilich überwacht worden waren," wußten alle Beteiligten, daß die Reaktion einen Streich vorbereite, der der Freien Jugendorganisation das Lebenslicht ausblasen solle. Am 20. Oftober 1909 erklärte der Berliner Polizeipräsident die Freie Jugendorganisation für einen politischen Ver ein. Gegen seine Verfügung wurde sofort Beschwerde eingelegt. In der Antwort darauf, die der Oberpräsident der Provinz Brandenburg am 22. Dezember gab, heißt es unter anderem, daß der Beschwerde wegen der überwachung am 10. Oktober nicht stattgegeben werden könne, da der Verein Freie Jugendorganisation Berlins und Umgegend" mit Recht als ein politischer Verein im Sinne des§ 3 Reichsvereinsgesetzes anzusehen sei.
In der Tätigkeit des Vereins in seiner früheren( Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins ) und gegenwärtigen Gestalt ergibt sich unverkennbar als Hauptziel, seine Mits glieder und andere Jugendliche im Sinne der sozialdemokratischen Anschauung mit agitatorischen Mitteln, besonders durch Schürung des Klassenhasses fo zu beeinflussen, daß sie die Anhängerschaft der sozialdemokratischen Partei vermehren."
Der§ 8 des neuen liberalen" Vereinsgesetzes besagt:„ Jeder Verein, der eine Einwirkung auf politische Angelegenheiten bezweckt( politischer Verein), muß einen Vorstand und eine Sazung haben." Der Herr Oberpräsident hat wohlweislich von der Freien Jugendorganisation nicht gesagt, daß sie eine Einwirkung auf politische Angelegenheiten bezwecke", er hat vorgezogen, einfach zu behaupten, sie sei eine politische Vereinigung, ohne für diese Behauptung auch nur einen einzigen Beweis zu erbringen. Zwar wurde gegen die Entscheidung Klage beim Oberverwaltungsgericht angestrengt, das konnte aber die drohende Auflösung der Freien Jugendorganisation nicht hindern. Am 10. Januar 1910 fiel der entscheidende Schlag: die Jugendorganisation wurde durch Verfügung des Polizeipräsidenten aufgelöst. Natürlich ist gegen diese Auflösung sofort Beschwerde erhoben Das Verhalten der Behörden ist der beste Helfer für die Jugendbewegung, es trägt dazu bei, die jungen Proletarier zum Klaffenbewußtsein zu erwecken.
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Daß nur die aufgetlärte proletarische Jugend unter den Schikanen der Reaktion zu leiden hat, beweist die Duldung, ja man muß sagen Protektion, die dem„ Nationalen Jugendbund" in Potsdam zuteil wird. Dort hielt ein Gymnasialdirektor einen Vortrag über Weltpolitit", ohne daß irgendwelcher Einspruch von seiten der Polizei oder anderer Behörden erfolgte. Man scheint also maßgebenden Ortes ,, nationale" Politik wieder einmal als teine politische Angelegenheit" zu betrachten. Als unser Abgeordneter Brey im Reichstag auf diese schreiende Ungerechtigkeit in der Behandlung der Jugendvereinigungen hinwies, hielt es die Regierung nicht einmal der Mühe wert, darauf zu antworten. Wie eifrig sie sich aber bemüht, den Freien Jugendorganisationen das Wasser abzugraben, beweist eine Verfügung, die der neue Kriegsminister, General v. Heeringen, fürzlich erlassen hat und die in Nr. 24 des„ Ministerialblattes für Handelund Gewerbeverwaltung" veröffentlicht wurde. Da es im lebhaften Interesse des Staates liege, namentlich aber der Armee", soll danach der Sinn für das Militärische, die Freude am Soldatentum auch von militärischer Seite in der Jugend möglichst erhalten und gefördert werden". Es wird weiter empfohlen, ganzen Schulen, auch den Fortbildungsschulen die Möglichkeit zu ver schaffen, allen militärischen Schauspielen beizuwohnen, und zwar auf„ bevorzugten Plätzen" und unter Führung geeigneter Persönlichkeiten". Ererzier- und Turnpläge, Exerzierhäuser und Turnhallen sollen im eigensten Interesse des Heeres zur Steigerung der förperlichen Leistungsfähigkeit der Jugend" unentgeltlich überlassen werden. In diesem Sinne zählt der Erlaß noch eine ganze Reihe von Dingen auf, die alle aur militärischen Begeisterung der
* Siehe„ Gleichheit" Nr. 3, 20. Jahrgang.