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Die Gleichheit
Nr. 15
schlecht ventilierten Räumen, die mit Staubteilchen und Oasen geschwängert sind. So wirkt all dies zusammen, um die Gesundheit der Prole- tarier mehr oder minder rasch zu untergraben. Die nächste Folge davon ist verminderte Widerstandsfähigkeit gegen An« steckungen. Ist es doch statistisch nachgewiesen, daß Arbeiter in Berufen mit langer Arbeitszeit weit häufiger als andere epidemisch auftretenden Seuchen zum Opfer fallen. Anderer- seits geht stets Hand in Hand mit der Verminderung der Arbeitszeit der Rückgang der Krankheitsfälle. Den engen Zu- sammenhang zwischen Sterblichkeitsziffer und Arbeitsdauer zeigt am augenscheinlichsten eine Statistik der Maschinenbauer Eng- lands. Sie weist aus, daß durch die Kürzung der Arbeits- dauer auf 9 Stunden täglich das Leben der Maschinenbauer um 10 Jahre verlängert wurde. Auch die jähen Gefahren, die dem Industriearbeiter in Gestalt von Betriebsunfällen drohen, sind zum guten Teil auf die lange Arbeitszeit zurück- zuführen. Kann man doch ans der Statistik des Reichs- versicherungsamtes ersehen, daß die größte Zahl von Betriebs- Unfällen gerade diejenigen Unternehmen haben, in denen lange gearbeitet wird. So die Mühlwerke, Brauereien, Ziegeleien usw. Daß diese Tatsache nicht auf besondere Gefährlichkeit des Be- triebs an und für sich zurückzuführen ist, sondern ans Fahr- lässigkeit infolge von Übermüdung, geht aus dem Wesen der genannten Betriebe hervor. Auch spricht dafür die Erfahrung, daß während der Zeit von 9 bis 12 Uhr vormittags und L bis 6 Uhr nachmittags sich doppelt so viel Unfälle ereigneten als zwischen 6 und 9, zwischen 12 und 3 Uhr. Alle die beleuchteten Schäden können durch Herabsetzung der Arbeitszeit sehr gemildert werden. Das beweisen die günsttgen Erfolge, die man überall mit dieser Maßregel erzielt hat. So find in der Quecksilberindustrie in Fürth nach Einführung des Achtstundentags die Quecksilbererkrankungen völlig verschwuu- den, die früher bei 80 Prozent der Arbeiter festgestellt wurden. Trotz alledem will die Profitgier der Unternehmerklasse im all- gemeinen von solchen Maßregeln nichts missen. Hat doch die lebendige Maschine den großen Vorzug vor der toten, daß all das im Dienste des Kapitalismus verbrauchte Material ohne Schaden für den Unternehmer ersetzt werden kann. Diese Rech- nung stimmt wohl für den Augenblick und auch auf Jahre hinaus, aber schließlich ergeben all die zerstörten Menschen- leben ein ungeheures Defizit an Volkskraft. Zerstört doch die Produktion in ihrer jetzigen Gestalt nicht nur die heutige Generation, sondern auch das kommende Geschlecht. Dies zeigt uns die große Säuglingssterblichkeit in Proletarierkrcisen mit erschreckender Deutlichkeit. Der Raubbau mit Menschen- kraft erscheint um so unsinniger, wenn man bedenkt, daß tat- sächlich bei kürzerer Arbeitszeit dieselbe Arbeit qualitativ besser geleistet werden kann, daß also eine Herabsetzung der Schaffens- dauer im eigensten Interesse der Kapitalistenklasse liegt. Wo bleibt da der feine Instinkt des Unternehmertums, der doch sonst nie versagt, wenn es gilt, den eigenen Vorteil zu wahren. Doch nicht um sich so viel Kräfte zu erhalten, daß es im Dienste des Kapitalismus ein Jahrzehnt länger fronden kann, fordert das Proletariat den Achtstundentag. Es heischt ihn, weil es sich eine Zeit der Muße sichern will, während der es aufhört, eine Maschine zu sein, die jahraus jahrein halb stumpf- finnig dieselbe Verrichtung ausführt. Auch das Proletariat ver- langt Anteil an den Errungenschaften der Kultur, für die es durch seine Arbeit die Vorbedingungen schafft. Die immer mehr ins einzelne gehende Arbeitsteilung, die jede vielseitige Aus- bildung der menschlichen Fähigkeiten unterbindet, macht die Verkürzung der Arbeitszeit zu einer gebieterischen Notwendig« keit. Auch vom rein menschlichen Standpunkt aus, im Interesse des Familienlebens der Arbeiter und vor allem der Erziehung ihrer Kinder müssen wir eine Einschränkung der Arbeitszeit fordern. Wie sollen femer die Arbeiter bei übermäßig langer Schaffensdauer Muße finden zur Beteiligung am politischen und gewerkschaftlichen Leben? Alle die angeführten Tatsachen fallen für die Arbeiterin noch weit schwerer ins Gewicht als für die Männer. Ihr
Organismus und die besonderen Aufgaben, die sie für die Erhaltung der Art zu erfüllen hat, bewirken, daß die gesund- heitlichen Schädigungen ihres Berufs sie äußerst hart treffen. Dabei lasten aus ihr neben der Erwerbsarbeit noch alle die Pflichten, denen sie als Hausfrau, Mutter oder Tochter nach- zukommen hat. Deshalb fehlt ihr auch noch viel mehr als dem Manne die Zeit, sich um öffentliche Angelegenheiten zu kümmern. Und doch empfinden immer mehr Proletarierinnen die Not- wendigkeit, sich über das Wesen der Gesellschaft klar zu werden und am politischen und gewerkschaftlichen Kampfe ihrer Klasse teilzunehmen. Immer klarer wird sich das Proletariat der elementaren Kraft bewußt, die in ihm als Masse schlummert. Die einzelnen lemen begreifen, daß sie in ihrer Zersplitterung ohnmächtig sind, daß aber die Millionen und Abermillionen zur unbezwing- baren Macht werden, wenn sie vereinigt zusammenstehen. Vor dem Willen des vereinigten Proletariats hat sich das Unter- nehmertum mehr als einmal gebeugt, vor ihm wird es in Zu- kunft erst recht kapitulieren müssen. Die Verkürzung der Arbeits« zeit hilft diese Macht schaffen und stärken. Sic hilft ein körper- lich und geistig starkes Geschlecht auf den geschichtlichen Kampf- platz stellen. Darum steht sie im Mittelpunkt unserer Mai- forderung. Sie ist eine wichtige Etappe auf dem Wege zum Endziel. Grete! Boschi
Alwine Müller. Wer war Alwine Müller?„Eine Megäre, ein entmenschtes Weib," lautet die haßerfüllte Antwort der Bourgeoisie in Lodz , einem der größten Zentren der Textilindustrie in Russisch-Polen. „Eine, die zu uns gehörte, eine Kämpferin und Heldin," erklären die Lodzcr Arbeiter mit Stolz. War Alwine Müller eine jener zahlreichen russischen und polnischen Frauen der privilegierten Klassen, die nach hartem inneren Ringen mit den Vorurteilen ihrer Um- gebung brachen, Entbehrungen und Verfolgungen auf sich nahmen, um im Kampfe gegen politische und wirtschaftliche Sklaverei sich auf die Seite der Entrechteten und Ausgebeuteten zu schlagen? Oder war sie eine jener führenden Frauen, die an der Spitze der Bewegung standen und dadurch ihren Namen für immer mit ihr verknüpften? Keins von beiden. Alwine Müller hatte weder Rechte noch Vorrechte aufzugeben, als sie sich der sozialdemokratischen Armee in Lodz anschloß; sie hatte nichts zu verlieren als ihre Ketten und eine Welt voll Glück und Recht zu gewinne». Sie war eine jener Ungezählten, aus der sich Ihre Majestät, die Masse, zw sammensetzt. Ungenannt und ungekannt tragen sie die schwersten Opfer, schlagen sie die größten Schlachte», wälzen sie das Rad der Geschichte um. Von Zeit zu Zeit erhebt sich eines dieser Zahl- losen über das Meer der Schicksalsgenossen, um wie ein Meteor aufzuleuchten und zu versinken. Eine Tat voll Heldenmut und Todesverachtung läßt dann die herrlichsten Kräfte erkennen, die in der Masse schlummern.... Von Alwine Müller wußte man sogar in Lodz nicht viel. Sie arbeitete in einer der größten Textllfabriken der Stadt, war Mit- glied der dortigen sozialdemokratischen Organisation und hatte fünf kleine Kinder zu ernähren. Man darf annehmen, daß Alwine Müller bei keiner der zahlreichen Demonstrationen fehlte, die dem Kamps« um politische Freiheit und der Lockerung wirtschaftlicher Fesseln dienten oder der Ausdruck ihrer internationalen Solidarität am 1. Mai waren. Es ist ebenso gewiß, daß sie die Opfer des Riesen- kampfes getragen hat, an denen Lodz wie keine andere Stadt reich war. Durfte Alwine Müller fern bleiben, als es galt, im General- streik die Macht des Absolutismus zu erschüttern, den Neunstunden- tag zu erobern, allerhand durch die Gewohnheit„geheiligte" Miß- stände in der Fabrik abzuschaffen? Im mächtigen Generalstreik protestierte sie mit den anderen Habenichtsen zusanimen gegen die Einführung der Feldgerichte in Polen , sie feierte mit ihren Arbeits- genossen den 22. Januar, den Gedenklag des Ausbruchs der russischen Revolution. Wer zweifelte daran, daß Alwine Müller die Arbeit niederlegte, so oft ein Flugblatt ihrer Partei dazu jief, so oft ein plötzliches Stillstehen der Maschinen, der schrille Pfiff der Dampf- pfeife verkündete: es wird gestreikt? Dann waren Sorgen und Eni- behrungen wochenlang bei ihr zu Gaste. Doch wer sprach davon? Das alles war damals so selbstverständlich, wie daß die Sonne scheint und die Nacht den Tag ablöst. Da kam das Jahr 1907. Die Reaktion begann sich von den wuchtigen Schlägen der frondenden Massen zu erholen und sammelte