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Die Gleichheit

folgenden Sitzung debattiert. Als der Arbeiterdelegierte Pawloff fie verlas, unterbrach ihn der Polizeikommissar bei den Worten: ,, die keine polizeilichen Liebesdienste zu leisten habe" und er Ilärte, das gehöre nicht zur Tagesordnung. Der Vorsitzende v. Anrep erwiderte darauf, daß es Sache des Vorsitzenden sei, zu entscheiden, was zur Tagesordnung gehöre, und bat den Redner, fortzufahren. Der Polizeifommissar unterbrach Pawloff von neuem, als dieser von der Notwendigkeit des Zusammen­schlusses aller gewerkschaftlichen Organisationen sprach. Der Vertreter der Obrigkeit betonte, daß er sein Eingreifen als eine zweite Mahnung betrachte und bei einem dritten Abschweifen von der Tagesordnung die Versammlung schließen werde. Dies­mal ging der Heldenmut des Vorsitzenden flöten. Er ersuchte den Redner um Vorsicht. Der erste Absatz der Resolution Pawloff wurde einstimmig unter stürmischem Beifall ange­nommen. Nun aber mischte sich der Vorsitzende ein und lehnte es ab, den zweiten Absatz über die internationale Gewert schaftsvereinigung- zur Abstimmung zu bringen, das aber unter dem Vorwand, er behandle eine politische Frage. Als Genosse Pawloff im Namen der Moskauer Delegierten dagegen pro­testierte, wies ihn v. Anrep schroff mit den Worten zurück: " Proteste sind hier unzulässig!"... Sein Verhalten ist der beste Beweis dafür, wie kraft- und wertlos das liberale und radi­fale Gerede der bürgerlichen Politiker ist, und wie fügsam und duckmäufig sie der Polizei gegenüber sind.

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Am nächsten Tage wurde die Sitzung der ersten Sektion vom Polizeikommissar geschlossen. Das fam so. Die Arbeiterin Jwanoff- Moskau hatte hier einen Bericht erstattet über die Prostitution als Folge der wirtschaftlichen Notlage der Arbeiterinnen. Im Anschluß daran wurde eine Reso­lution eingebracht und diskutiert, worin unter anderem auf die Resolution Pawloff über den internationalen Zusammenschluß der Gewerkschaften Bezug genommen war. Der Polizeikommissar erklärte es für unzulässig, die Resolution Pawloff in den Kreis der Erörterung zu ziehen. Der nächste Redner schloß seine Bes fürwortung der Resolution Jwanoff mit den Worten: Nur wenn Zustände geschaffen werden, von denen zu sprechen man uns eben verboten hat..." Der Polizeikommissar unterbrach ihn und erteilte einen zweiten Ordmungsruf. Die Vorsitzende Frau Tirkowa wandte sich an die Tagenden mit der Bitte, ben physischen Verhältnissen selbst Rechnung zu tragen, unter benen die Sitzung stattfinde, da sie doch nicht die Funktionen ber polizeilichen Zensur übernehmen tönne". Der Polizei­fommissar fühlte sich durch diese Worte getroffen und erklärte, er sei nicht Vertreter der physischen Macht", sondern des Ge­Jetzes, auf Grund dessen er die Sigung schließe.

Als Finale dieses Spiels stand die Verhaftung einiger fozialdemokratischer Teilnehmer des Kongresses bevor, die bald nach deren Rückkehr nach Moskau erfolgen sollte. Vorläufig ist es jedoch noch nicht zu ihr gekommen. Im allgemeinen war die Beteiligung unserer Moskauer Parteigenossen am Kongreß eine erfolgreiche. Ihr Einfluß auf die ganze Tagung war sehr groß: alle von den Vertretern des Proletariats beantragten

Nr. 19

eine allrussische Tagung zur Bekämpfung des Frauenhandels eröffnet wird, auf der mehrere Fragen behandelt werden sollen, die mit unserem unglückseligen Leben zusammenhängen. Daher wenden wir uns an die Teilnehmer der hohen Zusammenkunft mit der Bitte, unserer unmenschlichen Lage ihre Beachtung zu schenken.

Die meisten von uns verfallen der Prostitution in der frühe­sten Jugend, wenn sie noch völlig gesund und mit feiner Ge­schlechtskrankheit behaftet sind, von denen die schrecklichste für uns wie für andere die Syphilis ist. Und doch verfallen wir allesamt binnen fürzester Frist gerade diesem fluchwürdigen Leiden. Das ist nicht unsere Schuld, es ist die Folge davon, daß jeder Mann zu uns Zutritt hat, wenngleich die meisten unserer Besucher Syphilitiker find, die ärztlich zu untersuchen nieman dem einfällt. Von uns wird Gesundheit gefordert, wir sind verpflichtet, uns jeden Tag der sanitäts- ärztlichen Untersuchung zu unterwerfen. Für jede kleinste blutige Beule, die wir durch Fauftschläge und Büffe seitens unserer Besucher erhalten, wer­den wir ins Krankenhaus geworfen. Weshalb fordert man nicht die gleiche Untersuchung von unseren Besuchern? Ihnen erlaubt man ungehindert und straflos, uns mit der schrecklichsten Krankheit anzustecken und uns für die Zukunft zu unglücklichen Krüppeln zu machen, die jeder verabscheut, vor denen jeder mit Entsetzen das Gesicht abwendet. Unsere Besucher sind doch feine kleinen Kinder, sie sollten verstehen, daß sie fein Recht haben, ansteckende Krankheiten, die Syphilis zu übertragen, wenn auch nur auf die gefallenen Mädchen. Wir sind ebensogut Menschen wie die anderen, und die Gesundheit ist uns ebenso unentbehrlich wie ihnen, das Alter ist uns auch ohnedies schwer genug.

Wir wagen es nicht, noch länger den geehrten Kongreß zu belästigen und bitten ergebenst, über diese Frage zu beraten und dafür einzutreten, daß man fünftig zu den gesunden Mädchen unter uns feine franken Besucher mehr zuläßt; von den Männern muß ebenso wie von uns Gesundheit gefordert werden. Sie find doch nicht besser als wir, wenn sie an der nämlichen Sache wie wir beteiligt sind. Wir bitten ergebenst, unserer Bitte Ge­hör zu schenken und unsere Bittschrift auf dem Kongresse zu verlesen, vielleicht finden sich gute Leute, die unsere Lage be greifen. Ungerecht ist es, daß man alles nur von der einen Seite fordert, das heißt von uns. Wir bitten inständig, sich unserer aller, die wir Unglückliche sind, anzunehmen."( Es folgen 163 Unterschriften.)

Bemerkenswert ist es, daß es unter denen, die sich mit der Frage der Schutz- und Abwehrmittel gegen die venerischen Seuchen beschäftigten, niemand eingefallen war, die selbstver ständlichste Maßregel zu nennen, auf welche die unglückseligen Geschöpfe hinwiesen; diese waren die ersten, die den Kongreß darauf aufmerksam machten. Im übrigen bedarf das mitge teilte menschliche Dokument feines Kommentars.

Peter Ljubin, Mostau.

Refolutionen gelangten zur Annahme, soweit es die Polizei Arbeiterinnenelend im Thüringer Wald .

nicht verhinderte. Nach dem Zeugnis der bürgerlichen Presse war der Eindruck ihrer Reden und Referate ein starker. Sie wurden mit gespannter Aufmerksamkeit angehört, denn die sprachen, waren echte Proletarierinnen", wie ein bürgerlicher Beitungsbericht schreibt, und nicht wie sonst Vertreter des Prole­tariats aus den Kreisen der Intellektuellen. Man fühlte es: diese Leute stehen mitten im Fabrikleben; sie haben die Not lage und die ungeheuerlichen Zustände am eigenen Leibe er­fahren, als lebendige Zeugen berichteten sie darüber in schlichten, eindrucksvollen Worten. Besonders starken Eindruck machte auch eine Bittschrift, die von 163 Prostituierten an den Kongreß ge­richtet wurde. Wir lassen dies höchst interessante menschliche Dokument" in seinem Wortlaut folgen:

Bei dem Kongreß zur Bekämpfung des Frauenhandels, ein­berufen vom Verein zur Beschützung der Frauen, reichen Frauen, die der Prostitution nachgehen, diese Bittschrift ein.

Wir haben aus den Zeitungen erfahren, daß am 21. April

2. Aus dem Schwarzburg - Soudershäuser Gebiet. Der letzte Bericht des Parteivorstandes zeigte die erfreuliche Tatsache, daß die Zahl der politisch organisierten Frauen im letzten Tätigkeitsjahr ganz enorm gestiegen ist. Auch in den kleinen Thü ringer Raubſtaaten ist es in dieser Beziehung beffer geworden, mit Ausnahme von Schwarzburg- Sondershausen . Dort gehörten unserer Parteiorganisation keine weiblichen Mitglieder an; auch nach dem Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes war es beim alten geblieben. Und doch mangelt es in diesem Schwarzburger Ländle es gibt deren nämlich zwei: Sondershausen und Rudolstadt - nicht an Arbeiterinnenelend.

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Das ganze Schwarzburg- Sondershausen hat etwas über 85 000 Einwohner. Es ist räumlich getrennt in die Ober- und die Unter­herrschaft. Die Unterherrschaft mit der Haupt" residenz Sonders­hausen zählt etwas über 40 000 Einwohner. Das Gebiet liegt zwischen den nördlichsten Ausläufern des Thüringer Waldes , dent Kyffhäuser und dem Harz. Es ist eine der industrieärmsten Gegen­den des Thüringer Landes. Die gewerkschaftliche sowohl wie die