Nr. 19 Die Gleichheit 293 politische Organisation hat hier mit großen Schwierigkeiten zu lämpsen. Nur in ganz vereinzelten Fällen gelang es bisher, in dieser Gegend Fuß zu fassen. Ganz anders liegen die Verhältnisse in der sogenannten Oberherrschast. Das Waldstädtchen Gehren sowie Arnstadt gelten als Residenzen. Über 45000 Einwohner, von denen der größte Teil in den verschiedensten Industriezweigen tätig ist, wohnen in der Oberherrschaft. Auch sie ist in zwei Teile zerstückelt; der eine davon zieht sich auf der Höhe des Thüringer Waldes hin, der andere liegt an dessen nordöstlichem Abhang. Beide Teile der Oberherrschaft zählen zu den industriereichsten Bezirken Thüringens . Porzellan-, Glas-, Schuh-, Hand- schuh-, Spielwaren- und Textilindustrie wechseln bunt miteinander ab. Ein großer Teil der weiblichen Bevölkerung steckt in den Fabriken oder ist an der Heimarbeit stark beteiligt, die im Thüringer Wald noch weit verbreitet ist. In Arnstadt ist die Schuh- undHandschuhfabrikation vorherrschend, die eine größere Anzahl von Frauen und Mädchen beschäftigt. Sind hier die Lohn- und Arbeitsverhältnisse schon für die männlichen Ar- bciter miserabel, so trifft dies noch in erhöhtem Maße für die weiblichen Arbeitskräfte zu. Die Arbeiterinnen zeigen aber leider eine politische Rückständigkeit, die in schroffstem Gegensatz zu ihrer wirtschaftlichen Lage steht. Wenige Kilometer von Arnstadt liegt Plaue , ein kleiner Ort, in dem der Porzellanlönig Schietrumpf mächtig ist. Aus dem Orte und der ganzen Umgegend wandern Männer und Frauen in die große Porzellanfabrik und schaffen hohe Prosite. Die ausgedehnten Ländereie» und das Vermögen der Familie Schietrumpf sind ein sprechender Beweis dasür, wie nutzbringend das Porzellanmachen für— eine Fabrikantenfamilie sein kann. Die Löhne der Arbeite- rinnen sind auch hier ganz jämmerliche. Nichts Gutes ist von den Organisationsbestrebungen der proletarischen Frauen zw berichten. In einem Tale zwischen den beiden Bahnlinien Plaue-Suhl und Plaue -Jlmenau liegt noch ein größerer Sondershäuser Ort: Geschwenda . In der weilen Umgegend sagt man kurzerhand: „Gschwend ". Die meisten der mehr als 2000 Einwohner sind Industriearbeiter, und doch befindet sich im Orte kein größeres industrielles Unternehmen. Ein Teil der Arbeiter und Arbeite- rinnen wandert alltäglich in frühester Morgenstund« ein bis zwei Stunden weit, um in den Glas» und Porzellanfabriken anderer Orte tätig zu sein. Die Proletarier aber, deren Arbeits- stelle noch weiter entfernt liegt, ziehen am Montag in aller Frühe aus, in den Wintermonaten noch in dunkler Nacht, um erst am nächsten Sonnabend in später Abendstunde wieder heimzu- kommen. Dann bringen die Mädchen vier, fünf, sechs, wenn es hoch kommt auch acht bis neun Mark als Verdienst einer Arbeits- woche nach Hause. Trotz der Regsamkeit und des Fleißes seiner Einwohner ist„Gschwend " als ein armer Ort weitum bekannt. Ter höchste Steuerzahler im Orte, der junge Pfarrer, ist mit 1800 Mark Einkommen eingeschätzt. Angesichts der ärmlichen Verhält- uiffe in Geschwenda ist es erklärlich, daß bei den Gemeindewahlen, die nach dem preußischen Dreiklassenwahlsystem stattfinden, unsere Genoffen auch die zweite Klaffe beherrschen. Wie elend die Einlommenverhältnisse des größeren Teiles der Einwohner sein müssen, läßt sich an den Hungerlöhnen in einem besonderen Zweige der Heimindustrie erkennen. Geschwenda ist einer der wenigen Orte, in denen das Blumen stabschnitzen noch in größerem Umfang betrieben wird. Es liefert jährlich noch mehr als ein paar hunderttausend Blumenstäbe, die mir der Hand geschnitzt werden. Natürlich in engen Wohnstuben, statt in Werk- stätten. Die Arbeit wird hauptsächlich von Frauen und Kindern verrichtet. Kleine Knirpse von sechs, sieben Jahren hantieren schon mit dem Schnitzmesser. Die Stäb« werden aus Fichten- oder Tannenholz hergestellt; jeder einzelne soll hübsch rund geschnitzt und abgespitzt sein. In Bündeln zu 100 Stück werden die Stäbe abgeliefert. Das Holz müssen die Stäbchenschnitzer selbst kaufen. Für die fix und fertig gelieferten Blumenstäbchen, Arbeitslohn und Rtaterial zusammen, wird bezahlt für das Hundert: 30 Zentimeter lang S Pf., 40 Zentimeter lang 13 Pf., 50 Zentimeter lang 20 Pf., 60 Zentimeter lang 28 Pf., 70 Zentimeter lang 34 Pf.,»75 Zentimeter lang 38 Pf., 90 Zentimeter lang 48 Pf., 100 Zentimeter lang 58 Pf. Was bei solchen Löhnen»nd den hohen Holzpreisen mit dieser Arbeit verdient wird, läßt sich denken. Der größte Teil der Blumen- stäbe geht nach England. Die Aufkäufer machen dabei das beste Geschäft. Es kam des öfteren vor, daß sie das Geld zum Holz- tauf vorstreckten. Hatte dann Kind und Kegel in einer Familie wochenlang gearbeitet, oft noch mit Zuhilsenahmer fremder Kinder— so konnten glücklich so viel Stäbchen geschnitzt werden, daß der Lohn dafür gerade ausreichte, um das geliehen- Geld ausrechnen zu lassen. Wochenlange Arbeit war also für die Abfallspäne ge- leistet worden! Eine geringe Besserung ist in dieser Beziehung ein- getreten, seitdem der Konsumverein den Vertrieb der Blumen- stäbchen mit übernommen hat. Nachdem man zwei bis drei Stunden gewandert ist und Ort- schasten passiert hat, die zu Schwarzburg-Rudolstadt , Sachsen-Gotha und Sachsen-Weimar gehören, erreicht man den höher gelegenen Teil der Sondershäuser Oberherrschaft. Hier liegt zunächst Lange- w iesen mit seiner ausgebreiteten Porzellanindustrie. Aus der ganzen Umgegend wandern Männer und Frauen dorthin, dem Ver- dienst nach. Nebenbei blüht hier ein besonderer Zweig der Heim- industrie. Von Frauen und Schulmädchen werden Morgen- schuhe gehäkelt, Applikationsarbeiten an Reise« Necessaires usw. ausgeführt. Ahnlich liegen die Verhältnisse in Gehren . Dort werden in Heimarbeit Puppenbälge ge- stopft,«in« Arbeit, mit der hauptsächlich Frauen und Kinder be- schäftigt werden. Die dafür gezahlten Löhne sind so gering, daß die Arbeitsstunde in vielen Fällen oft nur mit 8 bis 10 Pf. be- zahlt wird. In den hoch auf dem Waldgebiet gelegenen Orten Großbreitenbach und Altenfeld ist es hauptsächlich die Porzellan- und Glasindustrie, die alt und jung in den Fabriken und daheim beschäftigt, überall spielt die Frauen- und Kinderarbeit eine große Rolle.— In A n g st e d t ist es eine große Weberei, in der die jungen Mädchen aus der weiten Umgegend fronen. In den oberen Räumen des Fabrikgebäudes befinden sich Schlasräuine für eine große Anzahl der Arbeiterinnen, die nur Sonnabends nach Hause zurückkehren. In vielen Orten der Oberherrschaft sind tagsüber nur wenige altersschwache Männer, deren Arbeitskraft verbraucht ist, Frauen und Kinder daheim anzutreffen. Den Frauen liegt daher meist die Bearbeitung des kleinen Feldes ob, auf dem die Hauptnahrung der Waldbewohner, die Kartoffel, gebaut wird. Will man richtig ver- stehen, welch schwere Arbeitslast auf den Frauen lastet, so darf man das nicht vergessen. Wer es nicht mit eigenen Augen ge- sehen hat, wie sich die im schweren Kampfe ums Dasein früh alternden Frauen abmühen müssen, um dem kleinen Acker die Frucht abzugewinnen, die kaum den Hunger von der Familie wehrt, der kann es überhaupt nicht begreifen, wie es möglich ist, auf so hoch gelegenen Feldern noch etwas zu bauen. Die Düngung muß oft von den Frauen weite Wegstrecken auf dem Rücken herbeigetragen werden, wie sie ebenfalls den Bedarf an Reisig und Brennholz mühsam auf ihrem Rücken nach Hause zu schleppen gezwungen sind. In den Sommermonaten, wenn sich der Fremdenstrom durch die lieblichen Täler und herrlichen Waldungen Thüringens er- gießt, kann man oft hören, daß die honette Gesellschaft der Groß- siädte, daß die Frauen und Töchter der befitzenden Klasse es als ein Glück preisen, in solch gesunder, schöner Gegend zu leben. Und doch gleichen in dieser Gegend die meisten Frauen der Ar- beiter schon in verhältnismäßig jungen Jahren welken Blumen. Die Lebensnot hat den Proletarierinnen schon frühzeitig ihre un- verwischbaren Spuren eingegraben. Während die Schwere des Daseins den Kampf für bessere Lebensbedingungen predigt, stehen die meisten Frauen und Mädchen des arbeilenden Volkes der Arbeiterbewegung teilnahmlos gegenüber, die doch ihnen und den Ihrigen lichtere Tage erringen will. Diese Teilnahmlosigkeit muß gebrochen werden. Ein großes Feld gilt es in dieser Gegend Thüringens zu bestellen, um die arbeitenden Frauen und Mädchen zu klassenbewußten Mitkämpferinnen zu gewinnen. Gelingt das, so rückt die Zeit näher, wo auch den Ausgebeuteten und Entbehren- den frohe Tage leuchten, wo auch ihnen endlich die Stunde der Befreiung von der Not des Leibes unk» des Geistes schlägt. Für eine sorgenlosere Gegenwart, für eine freie, schöne Zukunft kämpfen, heißt der Bevölkerung des Thüringer Waldgebietcs'ihre angeborene Lebenslust erhalten, die heute leider mehr und mehr durch Kummer und Elend, diese furchtbaren Kinder der kapitalistischen Fron, ver- drängt wird. B. Erinnerungen eines jungen Dienstmädchens. Von C. Dockmann.(Schlui-.) Aus der Magerkeit der Butterschnitte, die ich am ersten Morgen in meiner neuen Heimat bekommen hatte, schloß ich, daß die Bulter recht teuer sei. Später überzeugte ich mich, daß das nicht der Fall war. Alle Montag und Donnerstag mußte ich von einem Stellenbesitzer, wie sich in der Gegend die Bauern nennen, ein Pfund Butter und eine Kanne Buttermilch holen. Das Pfund Butler kostete die Schwester Sommer und Winter 90 Pf., zwei Liter Butter- milch gab es umsonst. Für ein Liter Milch bezahlten alle Arbeiter
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21 (20.6.1910) 19
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