Nr. 20
Die Gleichheit
Die Organisation hat in letzter Zeit schon verschiedene Male versucht, die Arbeiterinnen über ihre menschenunwürdige Lage auf zuklären. Das Bestreben hat aber nur teilweise Erfolg gehabt. Die Bemühungen scheitern meist an der grenzenlosen Gleichgültigfeit und der übertriebenen ängstlichkeit der Arbeiterinnen. Doch werden wir nicht die Flinte ins Korn werfen und die Arbeiterinnen ihrem traurigen Schicksal überlassen. Wieder und wieder wollen wir versuchen, die Arbeiterinnen aufzuklären. Schließlich werden sie doch zeigen, daß sie sich unter die Menschen rechnen, die ein Recht zum Leben haben. An alle unsere„ Gleichheit" Leserinnen der Gegend ergeht der Weckruf, ihr ganzes Können und Wollen in den Dienst der Aufklärung und Organisierung der Arbeiterinnen zu stellen. Auch in M.- Gladbach muß es endlich mit der Arbeiterinnenbewegung vorwärts gehen, müssen die Arbeiterinnen selbst mithelfen, ihr Glück zu schmieden. W. Pfaff.
Aus der Bewegung.
Von der Agitation. In zwei wirtschaftlich und politisch von einander recht verschiedenen Teilen Deutschlands war ich in der letzten Zeit agitatorisch tätig. In dem industriell so hoch entwickelten 13. sächsischen Kreise Leipzig - Land, wo die Schulung der Massen für den politischen Klassenkampf schon eine treffliche und tiefer gehende ist. Und in Braunschweig , das so traurige Berühmtheit erlangt hat durch die alte Brutalität und Despotie seiner früheren Landesväter und durch die neuere seiner Behörden, mit der vom Revolutionskoller befallenen Polizei an der Spitze. Die Versammlungen im Leipziger Kreise haben mich einigermaßen enttäuscht. Ich referierte dort über die Themata:„ Die Frau als politische Rämpferin"," Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft"," Bürgerliche und proletarische Frauenbewegung", „ Die Wirkung der indirekten Steuern und Zölle auf Haushalt und Familienleben". Sehr gut besucht waren die Versammlungen in Liebertwolfwig, Brandis und in Rüben bei Rötha . In let terem Orte waren Männer und Frauen aus stundenweiter Entfernung zusammengeströmt und standen dichtgedrängt in gespanntester Aufmerksamkeit, nur hier und da ihre Zustimmung durch Zwischenrufe befundend. Im übrigen war der Besuch der Versammlungen, besonders in den Vororten Leipzigs , ein relativ schlechter, die Stimmung eine fast gleichgültige. Sie ließ mich besonders schmerzlich vermissen die schöne, ernste Begeisterung der breiteren Schichten, die die Werbearbeit bei dem einzelnen so unendlich erleichtert. Doch scheint mir dies hauptsächlich ein Symptom der Abspannung der Kräfte zu sein, die nach den großen politischen Aktionen der Lands tagswahl, des Kampfes gegen die Finanzreform usw. natürlich ist. Der rote sächsische Löwe hat ja schon oft gezeigt, daß er seine Stärke wohl zu gebrauchen versteht. Eine lebhaftere Färbung, einen stärkeren revolutionären Unterton zeigte die Bewegung in Braun schweig . Es war, als ob das mißhandelte Ländchen alle Poren geöffnet, um unsere erfrischenden Ideen einzusaugen. Außer der starken kapitalistischen Entwicklung der letzten Jahre sind es bes sonders zwei Faktoren, denen die Aufrüttelung der Braunschweiger Arbeiterklasse zu danken ist. Dem geradezu verbrecherisch provo tatorischen Verhalten der Herren, die in der Braunschweiger Landstube siten und meinen, sie könnten von dort aus das Volk in alle Ewigkeit gängeln und hänseln, wie es ihnen beliebt. Und des weiteren der sonderbaren Ruhmessucht der Polizei, die es unbedingt den Breslauer Handabhackern gleichzutun trachtet. Daß die Em pörung über die schmachvollen Vorgänge vom Januar dieses Jahres in den Herzen der gehudelten und gebüttelten Proletariermassen nicht so leicht verglüht, dafür hat die Reaktion gesorgt durch die Schandurteile, die in den letzten Wochen auf unsere Genossen niedergehagelt sind. Unter diesen Umständen zeigten die proletarischen Männer und Frauen, die in dichten Massen die Versammlungslokale füllten, ein leidenschaftliches Interesse an den Ausführungen, die ihnen das System der Ausbeutung und Unterdrückung im fapita listischen Klassenstaat von seinen Wurzeln bis in die höchsten Triebe bloßlegten. Und es war nicht allzu schwer, sie zu der einzig wirksamen Gegenwehr gegen dieses System aufzurufen: zum Eintritt in unsere gewerkschaftlichen und politischen Organisationen. Es waren ihrer auch eine beträchtliche Anzahl, die diesem Aufruf Folge leisteten. In Orten wie Kleinsch öppenstedt, Querum , Fürsten berg, Eschershausen usw., wo bisher nicht nur die Frauen, sondern auch der überwiegende Teil der Männer politisch vollständig indifferent waren, haben wir durch die Versammlungen eine stattliche Zahl neuer Mitkämpfer und Kämpferinnen gewonnen. In weiteren Kreisen ist der Drang nach Aufklärung, tiefere Erkenntnis geweckt worden und wird sich durchsetzen trotz alledem und alledem.
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Die Versammlung, die für Braunschweig - Stadt im Gewerks schaftshaus tagte, war derart überfüllt, daß die Genossen scharens weise das Lokal verlassen mußten, um den andrängenden Frauen Platz zu machen. In Veltenhof gewannen wir fürs erste 23 weib liche Mitglieder. Der dort amtierende Polizeibeamte suchte durch die schikanöseste Handhabung des Jugendparagraphen die Braun schweiger Polizei von dem Vorwurf der Gesetzesunkenntnis und der hündischen Feigheit zu reinigen, der ihr aus der Mitte der Versammlung gemacht worden war. Hoffentlich ist dem übereifrigen Herrn seither die verdiente Würdigung in Gestalt eines Kinders spielzeugs zugegangen. In Eschershausen hatte bisher noch niemals eine Frau referiert. Der Genoffin Zieß, die vor einigen Jahren dort eine Versammlung hatte abhalten wollen, war das Sprechen verboten worden auf Grund des alten Braunschweiger Vereinsgesetzes, das sich bekanntlich als besonders reaktionär und verzopft auszeichnete. So war denn diesmal das Interesse für die Versammlung außerordentlich groß. Der geräumige Saal und der Vorsaal waren bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Auf der langen steilen Treppe bis auf die Straße hinaus standen Männer und Frauen Kopf an Kopf gedrängt. Der evangelische Arbeiterinnenverein hatte kurz vorher ein Flugblatt unter den Frauen verbreitet, das unter anderem folgende vernünftige Sätze enthielt:„ Wie kommt es, daß die Männer so viel besser im Leben vorwärts kommen, daß sie so oft herabsehen auf die unwissenden Frauen? Wie kommt es, daß sie Vorteile in der Arbeit erringen, sich die Arbeiter schutz- und Versicherungsgeseze besser zunuze machen können als die Arbeiterinnen? Es kommt daher, weil viele von ihnen stetig an ihrer Fortbildung weiterarbeiten, weil sie or ganisiert sind, weil sie sich in Vereinen zusammengeschlossen. haben, denn Einigkeit macht start!" Daß nur mit Hilfe starker Organisationen für das Proletariat etwas erreicht werden kann, haben denn auch die Frauen von Eschershausen einsehen gelernt. Ein Teil von ihnen hat aus dieser Einsicht sofort die nötigen Konsequenzen gezogen. Allerdings haben sie sich nicht der Herde frommer Schäflein beigefellt, sondern sind in unsere Reihen getreten, um fürder mit uns das Licht des Geistes auch denen zu bringen, die heute noch in finsterem Wahn und hoffnungsloser Trübsal ihr Leben verbringen müssen. Blankenburg a. H. weist seit längerer Zeit schon einen kleinen Stamm trener Genossinnen auf. Doch ist die Ideologie der dortigen Frauen, auch der Genossinnen, noch vorwiegend kleinbürgerlich, weil das eigentliche revolutionäre Ele ment, die Industriesklavinnen, vollständig fehlt. Die Frauen sind, soweit sie miterwerben müssen, als Bedienerinnen, Wärterinnen und dergleichen tätig, wie das ja in den meisten Kurorten der Fall ist. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen sind miserabel, und es wäre sehr notwendig, daß der Zentralverband der Hausangestellten" den Versuch machte, in Blankenburg festeren Boden zu gewinnen. Eine nicht zu verachtende Vorarbeit hat ja die politische Organisation bereits geleistet. Auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der übrigen Braunschweiger Arbeiterinnen, die hauptsächlich in der Textil- und Konservenindustrie beschäftigt sind, brauche ich nicht näher einzus gehen. In einigen der letzten Nummern der„ Gleichheit" ist dar über schon recht interessantes Material veröffentlicht worden.
B. Selinger.
Die Frage der„ öffentlichen Fürsorge für Witwen und Waisen und ihre Reform durch die Reichsversicherungsordnung" behandelte Ge nosse Kleeis in einer öffentlichen Frauenversammlung zu Halle. Der Redner führte aus, daß nach der geltenden bürger. lichen Moral und den rechtlichen Bestimmungen der Mann ver pflichtet ist, für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Die heutige Gesellschaftsordnung macht es jedoch einem großen und wachsenden Teil der Familienväter unmöglich, diese Verpflichtung zu erfüllen, und noch viel weniger erlaubt sie ihnen, für den Fall ihres Todes die Familie sicherzustellen. Daher muß die Gesellschaft eingreifen und Abhilfe schaffen, welche die schlimmsten Leiden mildert, die aus diesem Stande der Dinge entspringen, und erst mit einer Umgestaltung der ganzen Gesellschaftsordnung gründlich beseitigt werden können. Heute handelt es sich darum, durch eine weitreichende Reform der Versicherungsgesetzgebung wenigstens die bösartigsten Mängel unserer Armenpflege gut zu machen. Zurzeit beziehen im Deutschen Reiche jährlich 25000 Witwen und ernährerlose Familien Armen unterstützung. Das ergibt auf 1000 Einwohner etwa 6,3. Die Unterstüßung beträgt pro Fall in den Städten 56 Mt., auf dem Lande 40 Mt. Daß diese Hilfe nicht ausreicht, liegt auf der Hand. Außerdem ist mit dem Empfang von Armenunterstützung eine Reihe erniedrigender Nebenwirkungen verbunden, wie Aus weisung aus einer Gemeinde usw. An Fürsorgeeinrichtungen für Witwen und Waisen, auf die die Hilfsbedürftigen einen Rechtsanspruch haben, existieren nur die Knappschaftsvereine, die Unfall