Nr. 20
Die Gleichheit
erregenden Geruch verbreitete. Das arme Würmchen hatte weder ein richtiges Lager, noch Leibwäsche. Die Kommission gab sich alle Mühe, das Kind in einem Krankenhaus unterzubringen, doch wurde ihm als- einer Ausländerin wegen Plazmangel die Aufnahme verweigert. Der Gemeindevorstand bestand darauf, die Familie auszuweisen. Schließlich setzte die Kommission durch, daß das bemitleidenswerte franke Geschöpfchen auf Kosten der Gemeinde Bettwäsche, Hemden, einige Handtücher und Stroh ins Bett erhielt. Es wurde ferner zugestanden, daß die Kleine von der Gemeindefrankenpflegerin jeden zweiten Tag gebadet und verbunden würde; auch sollte sie durch die Schwester von mitleidigen Menschen etwas Essen erhalten. In einer anderen Angelegenheit hatte das Eingreifen der Kommission größeren Erfolg. Ein zehnjähriger Knabe wurde von seiner Pflegemutter ausgebeutet und mißhandelt. Schon um halb 6 Uhr morgens mußte er aus dem finsteren Keller ohne Licht Wannen und Kohlen drei Treppen hoch schleppen. Sobald er aus der Schule zurückkehrte, hatte er die drei kleinen Kinder der Pflegeeltern zu beaufsichtigen. So fehlte dem Knaben die Zeit, seine Schulaufgaben zu machen, er wurde vom Lehrer bestraft und mußte nachsitzen. Dies brachte die Pflegemutter so auf, daß sie dem Knaben heftige Stockschläge versetzte, ihn die Treppe hinunterstieß und ihm den Schulranzen nachwarf. Die Nahrung des Knaben war oft ungenügend. Die Kommission machte seinem auswärts wohnenden Vater Mitteilung von der Lage des Kleinen. Der Mann brachte den Knaben sofort bei anderen Leuten unter und dankte der Kommission herzlich für die Benachrichtigung. Die Kommission sah sich veranlaßt, gegen die Frau eines Bankbeamten Anzeige wegen Mißhandlung ihres vierjährigen Töchterchens zu erstatten. Als die Frau dies erfuhr, reiste sie sofort mit dem Kinde ab. Dbgleich eine Zeugin bekundete, daß das Kind fürchterlich geschlagen worden war, lehnte die Staatsanwaltschaft doch ein Einschreiten ab. Sie begründete ihren Entscheid damit, es sei wohl erwiesen, daß die Frau das Kind mit einem Ausklopfer geschlagen habe, doch lasse sich eine überschreitung des Züchtigungsrechts nicht feststellen. Dringende Hilfe tat einem elfjährigen unehelichen Mädchen not. Die Mutter lebte mit einem Manne zufammen, der Vormund des Kindes war. Beide mißhandelten das Kind häufig. Der Vormund, ein arbeitsscheuer Mensch, stieß es oft mit dem Kopf gegen den Tisch und die Türpfosten. Das Mittagessen für alle pflegte er nicht selten allein aufzuessen. Aus Furcht vor Strafe brachte das arme Kind eine Nacht kurz vor Weihnachten in dem Klosettraum eines Restau rants zu. Niemand hatte das Mädchen vermißt und gesucht. Als man der Mutter am anderen Morgen Mitteilung machte, wo das Kind die Nacht über gewesen, blieb sie ganz gleichgültig. Von seiten des Lehrers wurde dem Mädchen ein gutes Zeugnis ausgestellt. Unter Tränen erzählte die Kleine in Gegenwart des Schuldirektors und der Kommission ihre ergreifende Leidensgeschichte. Angesichts der ermittelten Umständen war es die höchste Zeit, das Mädchen aus den Händen ihrer bisherigen Versorger" und„ Erzieher" zu befreien. Ein Antrag auf Fürsorge hatte beim Gemeindevorstand den gewünschten Erfolg. Schon am Tage danach wurde das Mädchen seinen Peinigern entzogen. Auch für ein zwölfjähriges Mädchen trat die Kommission mit Erfolg ein. Das Kind erhielt von seiner Stiefmutter ungenügend zu essen; es war törperlich schwach und zurückgeblieben. Als der Vater darüber von der Kom mission unterrichtet wurde, behauptete er, es sei ihm nichts von alledem bekannt, doch versprach er, fernerhin für das Kind besser Sorge zu tragen. Die Kinderschutzkommission hat während der furzen Zeit ihres Wirkens schon manches Unglück gemildert. Freudig waren die Genossinnen jederzeit bereit, ihre ganze Kraft für das Wohl der hilflosen Kinder einzusetzen. An Arbeit wird es ihnen auch fünftig nicht fehlen, und sie werden keine Mühe und kein Opfer scheuen, um die mißhandelten Kinder wenigstens so weit zu schützen, als es die sehr ungenügenden Gesetze und Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft ermöglichen. Martha Forchel.
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Politische Rundschau.
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Der Siegeszug der Sozialdemokratie geht prächtig weiter. Zwei neue Mandate sind in Usedom - Wollin und Friedbergs Büdingen erobert worden. Immer wieder zeigt sich, daß die Politit des schwarzblauen Blocks die Reihen der Wähler dezimiert, die noch zu den bürgerlichen Parteien Vertrauen hatten, daß sie weiten Kreisen des Volkes die Augen darüber geöffnet hat, daß die Sozialdemokratie die einzige wirkliche Volkspartei ist. Damit ist der erste Schritt dazu getan, daß neue Massen sich zum Verständnis des ganzen Inhalts der sozialdemokratischen Bewegung durchringen. An der fleißigen Arbeit der Organisationen und der Presse liegt es, die Erfolge auszunuzen und aus den Mitläufern über
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zeugte Parteigenossen zu machen. Die Gelegenheit ist günstig wie selten. An den Taten der bürgerlichen Parteien läßt sich jetzt mit einer Deutlichkeit, wie kaum jemals zuvor, ihr wahres Wesen darstellen, läßt sich zeigen, daß sie als Vertreter der besitzenden Klassen die Schäden unserer Zustände weder heilen können noch wollen. Von Teuerung, Steuerdruck, Hungerlöhnen, Rechtlosigkeit, wahnfinnigen Militärrüstungen und Kriegsgefahr, kurz von Ausbeutung und Unfreiheit kann nur die Umwandlung der Gesellschaft in die sozialistische erlösen. Immer klarer wird es den Massen, daß kein anderer Weg als dieser aus ihrer Not führt.
Beide Wahlen haben gezeigt, daß die Wähler sich nicht nur von den Parteien abkehren, die für die politischen Sünden der letzten Zeit direkt verantwortlich sind, sondern auch von den Liberalen. Waren sie doch unter großen Voraussetzungen bereit, eine ähnliche Politik wie der schwarzblaue Block zu machen. Wenn der Liberalismus aus den Wahlresultaten etwas lernen fann, so das eine, daß ihm nur noch eine scharfe Opposition gegen die verbündeten Junker und Klerikalen einige Aussichten auf Erfolg eröffnet. Indes wagt die liberale Führerschaft nicht, eine flare Parole gegen rechts auszugeben. In Usedom - Wollin hat die Wahlkreisleitung der Fort schrittlichen Volkspartei nichts Besseres zu tun gewußt, als die Abstimmung freizugeben. Die Zentralleitung der Partei aber verweigerte jede„ Einmischung" unter Berufung auf die famose Bestimmung des Organisationsstatuts, die die Entscheidung in Stichwahlfragen den Wahlkreisorganisationen zuweist. In Friedberg- Büdingen erwies sich der Fortschritt von etwas besserer Art als in Pommern ; die dortige Leitung forderte zur Wahl des Sozialdemokraten auf. Ebenso entschieden trat auf der anderen Seite die nationalliberale Parteileitung für die Wahl des bündlerischen Kandidaten ein. Trotzdem hat die Sozialdemokratie in beiden Kreisen gesiegt, zu einem Teile durch die Mobilisierung eigener Reserven, zum anderen durch die Stimmen jener liberalen Wähler, die trotz der mangelnden oder entgegengesetzten Parole ihrer Parteien als ihre Aufgabe erkannten, die Wahl des offenen Reaktionärs zu verhindern. In Friedberg- Büdingen hat ein Teil der nationalliberalen Wähler sozialdemokratisch gestimmt selbst die nationalliberalen Führer finden nicht mehr bei allen ihren Wählern blinden Gehorsam, wenn sie diese nach rechts kommandieren. Ein Teil des Bürgertums sieht zurzeit im schwarzblauen Block den gefährlichsten Feind. Allerdings ist es noch sehr zweifelhaft, ob diese Erkenntnis von Dauer ist und ob sie die Haltung der liberalen Führerschaft wesentlich beeinflussen wird. Die Sozialdemokratie kann es ruhig mitansehen. Sie weiß, daß sie sich nur auf die eigene Kraft verlassen darf, und daß sie siegen wird, einerlei, wie innerhalb des bürgerlichen Lagers die Gruppierungen wechseln.
Vorläufig sind die Schwarzblauen auf die Liberalen äußerst wütend und drohen mit furchtbarer Rache. Die Organe der Junker erklären, daß sie bei den kommenden allgemeinen Wahlen den Fortschritt der Sozialdemokratie preisgeben werden, um ihn durch solche Erziehungstur mürbe zu machen und zu der Erkenntnis zu führen, daß er um seiner selbst willen, das heißt um seiner Mandate willen der offenen Reaktion zu Troßdiensten verpflichtet ist. Den Nationalliberalismus hoffen die Junker allerdings noch zu sich herüberbekommen zu können; doch verzeichnen einige ihrer Blätter mit Stirnrunzeln und Betrübnis die Tatsache, daß ihm in FriedbergBüdingen bei der Stichwahl ein Teil seiner Wähler einfach durch die Lappen gegangen ist. Sehr bemerkenswert ist die Haltung der Zentrumspresse. Die klerikale Partei ist ja nicht direkt an den beiden Nachwahlen interessiert, aber sie fühlt sich bereits so sehr mit den Junkern eins, daß ihre Blätter wegen der Wahlresultate fast noch mehr gegen den Liberalismus hetzen als die konservative Presse selbst. Das Zentrum ist eifrig bestrebt, den Riß zwischen Konservativen und Liberalen zu erweitern. Darin zeigt sich, wie unsicher sich das Zentrum angesichts der kommenden Wahlen fühlt. Es will auf alle Fälle einen festen Bund mit den Junkern zustande bringen. Grund genug zu Besorgnissen hat das Zentrum sicherlich. Angesichts der festen Stellung dieser Partei in den meisten ihrer Wahlkreise wäre es allerdings durchaus verfehlt, einen erheblichen Mandatverlust des Zentrums für die kommenden Wahlen zu er warten. Aber daß es Stimmenverluste erleiden wird, steht nach allem fest, was in den letzten Monaten zutage trat. Den moralischen Eindruck dieser Tatsache auf seine Anhänger und die Verminderung seines Einflusses auf die Reichspolitik, wenn die schwarzblaue Mehrheit durch die Verluste der Konservativen vernichtet ist: das ist's, was es zu befürchten hat. Daß es mit der unerschütterlichen Festigkeit seiner Wählerschaft vorbei ist, das haben schon verschiedene Nachwahlen gezeigt, neuerdings wieder die Landtagserfahwahl im bayerischen Wahlkreis Regen, wo das Zentrum 500 Stimmen verlor, während sich die sozialdemokratischen Stimmen in