326

Die Gleichheit

lich aus. Aber er ist dadurch bedeutsam geworden, daß Seume  vollkommen Ernst mit ihm gemacht hat. Dies ist nicht alltäg lich. Seume   hat keinen Vers gedichtet, keinen Prosasazz ge­schrieben, ohne damit ein tiefes sittliches Erlebnis auszusprechen. Seine Schriften waren Werkzeuge seiner moralischen Natur, nie bloße Formenspiele. Seume   hat einen Beruf daraus ge­macht, Charakter zu sein. Damit hat er Anspruch erworben, in der Reihe der Lehrer der Menschheit zu stehen. Aber ein spezieller Lebensgedanke verbindet diesen Mann gerade mit uns als den strengsten Vertretern politischer, demokratischer, sozialer Lebensbetrachtung. In der Vorrede zu seiner nordischen Reise hat Seume   geschrieben:" Ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, das dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht." Schiller   floh aus der realistischen Welt seiner politisch begeisterten Jugenddramatik in den ästhetisch- dichterischen Phantasiekreis seiner späteren Werke. Er floh aus der Wirklichkeit in eine illusionäre Welt der Schönheit. Seume   hat diese Wendung nie nachgemacht. Wie seine Lebensjahre zunahmen, so nahm seine politische Weis heit und Leidenschaft zu. Schon als Knabe hatte Seume   bei aller künstlerischen Empfänglichkeit einen mächtigen Trieb nach dem Wirklichen. Lieber als Romane, deren auch er eine Menge las, war ihm schon damals die einfach- grandiose Tatsächlich­keit der Geschichte. Wie er als Knabe dachte, so dachte er als Mann. 1804 tadelte Seume   in der Vorrede zu einer Ausgabe seiner Gedichte die Menschen, die mit der Seele in höheren Sphären leben, weil sie nicht den Mut haben, auf der Erde vernünftig zu sein und Vernünftiges zu fordern. Als poli­tischer Wirklichkeitsmensch war Seume   nicht ein Anbeter be­stehender Zustände, sondern und das troz Fichtes gleich­und das trotz Fichtes gleich gerichteten machtvollen Anklagen gegen die politische Erbärm lichkeit des sterbenden Feudalismus der heftigste Verneiner politischer Verhältnisse, die ihr Gepräge vom fürstlichen Ab­solutismus und von einer verderblichen Adelsherrschaft emp­fingen. Meine Hoffnung als Deutscher finde ich nur in der Zerstörung. Mir wird noch lange nicht genug zerstört, gedrückt, gequetscht, gepeitscht. Die Deutschen   können nun einmal nur mit dreifach sublimiertem Höllenstein zur Vernunft gebeizt wer­den. Was am blutigsten eingreift, ist am wohltätigsten." Mit diesen Briefworten spielte Seume   auf Napoleon   an, den Helden im Blut", in dem er mit schmerzlicher Sachlichkeit, ohne die Spur byzantinischer Demut, den heilsamen Vernichter unhalt­barer politischer Verhältnisse, den Zerstörer des deutschen  Dugendfürstentums und der Anmaßung privilegierter Stände begrüßte. Aber Seume   dachte mit solchen Worten auch an sich selber. Er wußte, daß Napoleon   nicht der reine Vollstrecker der französischen   Revolution war, sondern ein Erbe, der ihren Vernunftreichtum mit reaktionärem Imperialismus und Mili tarismus amalgamierte.

-

,, Sonst fabelte der Mönch der Dummheit Heiligkeiten mit breitem Wolfenangesicht,

wo mit dem Schild des Lichts jetzt grimm nach allen Seiten der neue Schwindler spricht."

Was Napoleon   versäumte, das wollte Seume   leisten. Er wollte in der Politik der Zeit die Rechte ungetrübter Vernunft verfechten, die der Kaiser der Franzosen nicht konsequent ver treten konnte. Er forderte Rechtsgleichheit vom Standpunkt einer vernünftigen Sittlichkeit. Aber schon zeigte er den öfo­nomischen Weg dazu: Seume   verlangte Vernichtung aller wirt­schaftlichen und sozialen Vorrechte und ein demokratisches Steuer­system.

Seume   war ein sittlicher Charakter. Als sittlicher Charakter es wurde fonnte er des politischen Interesses nicht entbehren- es wurde ihm sogar zum Zentrum feiner Sittlichkeit. Der sittliche Privat charakter wurde zum sittlichen Politifer. Eittliche Politik hieß für Seume nur eine im höchsten Sinne vernünftige Politif. Bernünftige Politik war ihm aber einzig und allein demokra­tische Politif. Als Unterlage jeder demokratischen Politik er­schien ihm die Gleichung der Lasten" das heißt die Aus das heißt die Aus­gleichung der wirtschaftlichen Verpflichtungen der einzelnen gegenüber dem Staate. Als Voraussetzung demokratischer Aus­

"

-

Nr. 21

gleichung der Steuerlasten erachtete er die Ausgleichung der Besizrechte. Seume   konnte geschichtlich noch kaum Sozialist sein. Seine demokratische Wirtschaftspolitik hatte das ge. schichtlich gegebene Ziel: Vernichtung der großen Privi­legien, zumal des Agrarfeudalismus- Beseitigung der bäuer­lichen Untertänigkeit.

Seumes Haß gegen den Feudalismus und gegen die Bauern­versklavung knüpfte sich an seine eigene Lebensgeschichte, be­sonders aber an seine frühesten Erlebnisse an. Sein Vater war ein abhängiger Bauer. Ein Mann von strengster Gerechtig­keitsliebe und hohem religiösem Freimut, geriet Andreas Seume mit dem Gerichtsvogt seines Junkers in Händel  . Vom säch­fischen Dorfe Poserna, wo der junge Seume   am 29. Januar 1763 geboren war, zog Andreas Seume mit der Familie in die Nähe Leipzigs  , nach Knautkleeberg. Dort versuchte er es als Bächter einer Ökonomie und eines Wirtshauses, wurde aber in schlechten Jahren durch die unerbittlichen Zinsforderungen des blutsaugerischen Pachtherrn ruiniert und erwarb schließlich ein kleines Grundstück, auf dem eine Fronde lastete. Seit Jahren kränkelnd, arbeitete sich Andreas Seume an dieser Fronde binnen kurzem tot; er starb im Jahre 1775. Der Sohn gedachte des Ereignisses in seiner schönen Selbstbiographie.

" Mein Vater hatte furz vor seinem Tode am Ende der Pachtung eine kleine Ökonomie mit etwa sechzehn Acker Feld gekauft. Das Drückendste für ihn an Körper und Geist war die Fronde, die er selbst verrichten mußte, wenn nicht alles zu­grunde gehen sollte. Die Sense war seinem jetzt schwachen Arme zu schwer; er mußte einige Male die Wiese verlassen. Ich erinnere mich, daß einige entmenschte Seelen, wie es deren überall gibt, unter anderen der derzeitige Vogt, ihre bitteren, groben Bemerkungen darüber machten, als sie ihn vor seiner Haustüre mit einem kleinen Knaben, meinem jüngsten Bruder, spielen sahen. Der gute Mann wischte sich die Augenwinkel und legte sich lange einsam in den entlegensten Teil des Gartens. Nach drei Tagen lag er auf der Bahre. Ob wohl diese rohen Seelen dabei einige befferen Gefühle in sich empfunden haben? Dieser Vorfall vorzüglich ist mit Ursache meiner folgenden kon­zentrierten, nicht selten finster mürrischen Sinnesweise. Ich habe die Katastrophe nie los werden können, ob ich gleich selten oder nie davon gesprochen habe."

Nach dem Tode des Vaters entschied sich der junge Seume ,, aus angeborener Neigung zum Soliden" für das Handwerk des Grobschmieds. Man redete ihm das Vorhaben aus. Der intelligente Knabe sollte einen gelehrten Beruf ergreifen, da der Ortspfarrer, Magister Schmidt, einen Großgrundbesitzer der Gegend, den Grafen Friedrich Wilhelm von Hohenthal, für die Familie Seume   zu interessieren vermochte. Seume   kam auf die Schule des trefflichen Rektors Korbinsky in Borna   und dann auf die Leipziger Nikolaischule. Nach dreijährigem Stu­dium an diesen beiden Anstalten war er universitätsreif. Oktober 1780 bezog er die Leipziger   Universität, um nach dem Willen des Grafen Theologie zu studieren.

Seume   dachte scharf. Unmöglich war dieser Kopf auf die Dauer mit orthodox- lutherischen Glaubensformeln zu befriedigen. Seume   las englische Aufklärungsphilosophen wie Shaftesbury und Bolingbroke  , französische wie Bayle, hörte von den reli­gionsphilosophischen Anschauungen des kritischen Lessing und vernahm in der Kirche des freisinnigen kalvinistischen Predigers Georg Joachim Zollikofer   zu Leipzig   andere Dinge als in der Predigt des lutherisch- orthodoxen Magisters Schmidt. Er wurde von Schmidt zur Verantwortung gezogen; die gräfliche Sub­vention, die wahrlich nicht üppig war- Seume bezog bei­wurde spielsweise für Beköstigung monatlich bloß fünf Taler in Frage gestellt. Der junge Mann wollte seine Wohltäter nicht enttäuschen, fonnte aber ebensowenig ein Gesinnungsopfer bringen. Durch diesen Konflikt und seine tiefempfundenen reli­giösen Zweifel furchtbar gequält, faßte Seume   einen Entschluß, der ihn völlig charakterisiert: er floh, nachdem er seine kleinen Schulden mit aller Peinlichkeit bezahlt hatte, im Juni 1781 lautlos aus Leipzig  , um eine weite Fußreise zu beginnen, sich durch die körperliche Strapaze von seinem Seelenleiden abzu­