Nr. 21
Die Gleichheit
lenken und so das innere Gleichmaß wieder zu finden. Seume gedachte Paris zu erreichen und von da in die französische Artillerieſchule in Metz einzutreten. Übermäßig zur Reflexion geneigt, suchte er mit planvoller Paradoxie einen Beruf, der den Reflexionstrieb nicht befriedigen konnte. Anders als Seume erwartete, wurde sein Gedanke Wirklichkeit. Werber des niederträchtigen Landgrafen Friedrich II. von Hessen- Kassel, der im Laufe des nordamerikanischen Unabhängigkeitsfrieges etwa zwanzigtausend gestohlene Menschenkinder an die britische Regierung verkauft und damit einundzwanzig Millionen Taler eingenommen hat, faßten den harmlos wandernden Leipziger Theologiestudenten und brachten ihn nach der Festung Ziegenhain. Von dort wurde Seume mit einem beträchtlichen Transport von Schicksalsgenossen weserabwärts nach Bremerlee ver frachtet. Nach einer mehrwöchigen überfahrt bei der übelsten Witterung und unter den gräßlichsten sanitären Verhältnissen landeten die an die britische Regierung verhandelten Rekruten an der nordamerikanischen Küste in Halifax .
Seume tam nie ins Gefecht. Er lebte im Lager, hatte unendlich viel Schreiberei zu besorgen, beschäftigte sich in den Mußestunden mit Vergils Aeneis und mit Ovid , versuchte sich selber in der Poesie und studierte gelegentlich seiner Streifereien die Indianer, die er sehr liebte. Ein Gedicht aus dem Kreise seiner nordamerikanischen Erfahrungen gehört zu seinen bekanntesten poetischen Leistungen: ein Hurone, der noch„ Europens übertünchte Höflichkeit" nicht kennt, und dem ein Herz, wie Gott es ihm gegeben von Kultur noch frei", im Busen wohnt, sucht eines Tages vor einem Unwetter bei einem weißen Farmer Schutz und wird mit dem Stocke verjagt. Dennoch gewährt er, der„ gute, wackere Wilde", dem„ gesittet- feinen Eigentümer" mit der weißen Haut, der in gleicher Lage zur Indianerhütte fommt, unbedenklich Gastfreundschaft, am anderen Morgen gar noch sicheres Geleit.
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Höflich dankte ihm der Europäer ; finsterblickend blieb der Wilde stehn, sahe starr dem Pflanzer in die Augen, sprach mit voller, fester, ernster Stimme: Haben wir vielleicht uns schon gesehen? Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger und erkannte nun in seinem Wirte jenen Mann, den er vor wenig Wochen. in dem Sturmwind aus dem Hause jagte; stammelte verwirrt Entschuldigungen. Ruhig lächelnd sagte der Hurone: Seht, ihr fremden, flugen, weißen Leute,
seht, wir Wilden sind doch bessre Menschen. Und er schlug sich seitwärts in die Büsche."
Es ist die tiefsinnige, trotz aller Einwände der Völkerkunde im Kern noch immer föstliche Lehre von der sittlichen Reinheit des natürlichen Menschen die Lehre Rousseaus, die nur dem kolonialen Expansionsliberalismus der Epigonen vollkommen lächerlich erscheinen konnte.
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Hiervon wurden für Streits 767 100 Mt., für GemaßregeltenunterStüßung 484 643 Mt., für Krantenunterstüßung 618761 Mt., für Arbeitslosenunterstützung 180879 Mt.( fünf Quartale) und für Reiseunterstützung 54426 Mt. ausgegeben. Der Bestand der Hauptkasse am Ende der Berichtsperiode betrug 599 544 Mt. Interessant und lehrreich sind die im Geschäftsbericht gegebenen Zahlen zur Arbeitslosen und Krankenunterstüßung. Die Häufigkeit der Arbeitslosigkeit war in der fünf Quartale umfassenden Berichtsperiode bei den Männern größer als bei den Frauen. Auf 100 männliche Mitglieder famen 11,54 Arbeitslose und auf 100 weibliche entfielen nur" 7,84 Arbeitslose. Im einzelnen Falle war hingegen bei den Arbeiterinnen die Dauer der Arbeitslosigteit mit 13,17 Tagen größer als bei den Männern, wo sie nur 12,18 Tage betrug. Ein anderes Bild zeigt die Krankenstatistit; hier wird aufs neue die alte Erfahrung bestätigt, daß der Organismus der in der Textilindustrie beschäftigten Frau mehr unter der gewerblichen Arbeit zu leiden hat, als es beim Manne der Fall ist. Die Erkrankungshäufigkeit ist bei den Frauen größer als bei den Männern. Auf 100 Mitglieder kamen in der elf Quartale umfassenden Berichtsperiode bei den Männern 4,77 Erfrankungsfälle, bei den Frauen aber 9,12. Auch die Dauer der Krankheit im einzelnen Falle ist eine längere bei der Frau als bei dem Mann. Sie betrug beim Mann 16,6 Tage, bei der Frau 20,6 Tage. An Streits, Aussperrungen und teiligt, für 30 025 Beteiligte hatten die Bewegungen teilweise ErLohnbewegungen ohne Streits waren 67321 Personen bes folg, für 36379 waren die Bewegungen erfolglos. Eingehend berichtete der Vorsitzende über die Arbeiterinnenagitation, die Tarifverträge, Branchenagitation usw. Für das tschechische Jutepersonal sind Wanderbibliotheken in ihrer Muttersprache eingerichtet worden. Der Vortrag des Geschäftsberichts und der sonstigen Tätigkeitsberichte wurde allseitig beifällig aufgenommen, und der Verlauf der Diskussion zeugte von harmonischem Zusammenwirken der Verbandsleitung und der Ortsverwaltungen.
Die Diskussion des Geschäftsberichte und der Anträge, die hierzu sowie zu den Unterstüßungseinrichtungen gestellt worden waren, beanspruchte den größten Teil der zur Verfügung stehenden Zeit. Eingehend und gründlich wurden die in Aussicht gestellten Maßnahmen besprochen und die Vorschläge des Vorstandes kritisch gewertet. Wir halten das für ein erfreuliches Zeichen gesunder Ent wicklung. Nicht unbesehen soll hingenommen werden, was von ,, oben" kommt. Die kritische Nachprüfung aller Vorschläge durch Diejenigen, welche die Verbandsgesetze im einzelnen durchführen müssen, ist allein imstande, schädigende Mißgriffe zu verhindern. Wie das Wort des Vorstandes eines Verbandes in Streitangelegen heiten ganz von selbst ein höheres Gewicht erhält durch die reichere Erfahrung, welche er auf diesem Gebiet zu machen Gelegenheit hat, so muß umgekehrt in Sachen der Unterstützungseinrichtungen und der Filialverwaltungsangelegenheiten die reichere Erfahrung bei den Funktionären der Ortsverwaltungen liegen und diese ver anlassen, ihr Wort in die Wagschale zu werfen. Und sie haben es in die Wagschale geworfen. Temperamentvoll und scharf, aber allzeit streng sachlich, wurde die viertägige Debatte geführt und manche Verbesserung der gemachten Vorschläge herbeigeführt. Die gefaßten Beschlüsse bedeuten einen systematischen Ausbau aller vorhandenen Unterstüßungsarten nach einem das Ganze durchziehenden Gedanken. Die Berechnung aller Unterstützungsarten wird fünftig nach Tagen vorgenommen. Die Steigerung in den verschiedener Klassen ist, soweit das überhaupt möglich, eine ein
Die Generalversammlung des Tertil- heitliche. Die größere Dauer der Mitgliedschaft gewährt künftig ein
arbeiterverbandes.
Zum zehnten Male hatten sich in den Tagen vom 20. bis 26. Juni in Berlin die Delegierten des Textilarbeiterverbandes zu einer Generals versammlung zusammengefunden. Unter den 131 Vertretern des Textil proletariats befanden sich 10 Arbeiterinnen. Reich an Verlusten - hervorgerufen durch die furchtbarste Wirtschaftskrise- war die Periode, über welche der Vorstand seinen Auftraggebern zu berichten hatte. Ende 1907 hatte der Verband 126440 Mitglieder, Ende 1909 nur 104301. Die höchste Mitgliederzahl wurde erreicht im ersten Quartal 1908; fie betrug 129 295. Den niedrigsten Stand zeigte das zweite Quartal 1909 mit 99722. Am 31. Dezember 1009 stellten die in der Textilindustrie beschäftigten Arbeiterinnen 35364 Verbandskolleginnen. Die mit dem dritten Quartal vorigen Jahres einsetzende Aufwärtsbewegung hält noch an. Es konnte vom 1. Juni d. J. ein Stand von rund 112000 Organisierten gemeldet werden. Die Gesamteinnahme des Verbandes in den Jahren 1908 und 1909 bes trägt 4725271 t.; ihr steht eine Ausgabe von 3928381 Mt. gegen über. Die Ausgabe der Hauptkasse beziffert sich auf 2969 809 Mt.
Anrecht auf höhere Unterstützung in allen Beitragsklassen. Die Reiseunterstützung wurde wesentlich erhöht, daneben sind Aufent haltsgelder an den einzelnen Orten eingeführt worden. Abgelehnt wurde mit Recht eine Differenzierung der Eintrittsgelder für männ liche und weibliche Mitglieder. Leider wurde auch der Antrag ab. gelehnt, das Eintrittsgeld für beide Geschlechter auf 50 Pf. zu ers höhen. Den schon bestehenden Ressorteinrichtungen der Zentrale wurde eine neue Abteilung: Informationsstelle über die Lage des Rohstoffmarktes, Warenmarktes usw. hinzugefügt und zu diesem Zwecke der Vorstand um zwei Mitglieder vermehrt.
Ein neues Gebiet zu beackern, entschloß sich die Generalversammlung durch Annahme der zur, Jugendfrage" gestellten Anträge. Es sollen feine besonderen Jugendabteilungen innerhalb des Verbandes gegründet werden, nur die Agitation unter den Jugendlichen ist künftig systematischer durchzuführen. Die Jugendlichen zahlen kein Eintrittsgeld. Beiträge sind zu zahlen bis zum 16. Lebensjahr 10 Pf. pro Woche, sodann 20 Pf. bis zur Vollendung des 17. Lebenss jahres und 30 Pf. von da ab bis zum Alter von 18 Jahren. Dafür wird gewährt Krantenunterstüßung und Unterstützung bei Streits