Nr. 22

Die Gleichheit

fassung des politischen Kampfes nähern, ohne auch andere Kon­zessionen an diese zu machen. Die Fühlung mit der bürger lichen Linken lockert die Solidarität mit der Gesamtheit der Partei, das Bewußtsein der Verantwortlichkeit ihr und ihren Entscheidungen gegenüber verblaßt vor dem Hinblick auf die Stimmung der nichtorganisierten amorphen Wählermasse. Die parlamentarischen Beauftragten der Partei stellen ihr Recht als Individualität", das selbstherrlich entscheidet, über die Pflicht der Respektierung des Parteivotums und der Parteidisziplin, das der Mehrheit unterordnet.

Der badische Fall ist ein Musterbeispiel für all das; wo man es packt, erweist es sich als echte Entwicklungserscheinung der revisionistischen Bewegung. Es ist daher auch für niemand überraschend gekommen, der diese Entwicklung leidlich aufmerk sam verfolgt. Was sich in Baden abgespielt hat, kann nur die verblüffen und enttäuschen, die bestimmten Strömungen inner­halb der Sozialdemokratie gegenüber Vogelstraußpolitik treiben und wähnen, vorhandene Tendenzen dadurch zum Stillstand zu bringen, daß die Partei ohne die notwendigen, aber peinlichen Auseinandersetzungen scheu an ihnen vorüberhuscht. Das Vor­gehen der Mehrzahl der badischen Parteiparlamentarier hat falt in diese gemütlichen Jllusionen hineingeblasen. Die dankens­werte Offenheit ihrer Provokation läßt feinen Zweifel darüber, daß sie in vollem Bewußtsein, mit klarer Absicht einen be­stimmten Weg weiter beschritten haben, den zu gehen die Sozial­demokratie sich weigern muß, es sei denn, sie wolle sich selbst aufgeben. Die Budgetbewilliger haben erklärt, daß sie Manns genug sind, um unausführbare Beschlüsse der Partei unaus­geführt zu lassen. Sie werden daher auch Manns genug sein, um mit dem Parteitag zusammen die Konsequenzen ihres Tuns. zu ziehen. Angesichts ihrer Schilderhebung gibt es weder für die Partei, noch für sie selbst ein Ausweichen mehr. Eine flipp und flare, nicht zu deutelnde Entscheidung muß fallen, die Parteiehre wie die persönliche Ehre der badischen Abgeord­neten fordert ein Entweder- Oder!

Fortschrittliches und Reaktionäres vom badischen Volksschulgesetz.

Das badische Volksschulgesetz, welches die Zweite Kammer  in diesem Frühjahr angenommen hat, ist ein Werk der gesamten Parteien. Daß das Zentrum schließlich dagegen stimmte, ge­fchah nur aus agitatorischen Gründen. Die katholische Klerisei versucht in ihrer Drangsal, gegen die kirchenfeindliche" Sozial demokratie Wahlgeschäfte mit dem§ 114 des Gesetzes zu machen. Er stammt aus dem Jahre 1868, der Jollyschen Kulturkampfzeit, und ist nach dem Wunsche der Regierung bei behalten worden. Ein sozialdemokratischer Abänderungsantrag fand nirgends ein Entgegenkommen. Nach dem Gesetz bedürfen Privatpersonen sowie Verbände, für die das öffentliche oder bürgerliche Recht gilt, zur Gründung etwaiger Lehranstalten der staatlichen Genehmigung, die ihnen aber nicht versagt werden darf, wenn gewisse Vorbedingungen hinsichtlich des Lehrplanes und der Qualifikation der Lehrerschaft erfüllt sind. Dagegen gestattet der§ 114 den kirchlichen Korporationen und Stiftungen die Errichtung von Lehranstalten nur auf Grund eines besonderen Gesetzes; den Mitgliedern eines reli giösen Ordens oder einer ordensähnlichen Kongregation ist das Unterrichten an Lehranstalten nur mit Genehmigung der Staatsregierung gestattet. Unsere Genossen bezeichneten die Bestimmung des§ 114 als eine historisch sanktionierte Forde rung des weltlichen Charakters der Volksschule. Es gelang ihnen aber nicht, die Vertreter des Liberalismus dafür zu gewinnen, die gesetzliche Aufhebung aller Eventualitäten der privaten Lehranstalten für volksschulpflichtige Kinder herbeizuführen. Die Nationalliberalen lehnten die im Plenum gestellten sozialdemokratischen Anträge zur vollständigen Ver­staatlichung und Verweltlichung der badischen Volksschulen entrüstet ab. Es bestehen heute nach wie vor in Baden klöster liche Schulen der Ordensschwestern, die von Kindern volks­

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schulpflichtigen Alters besucht werden. Das neue Gesetz bringt also wieder keine grundsätzliche Lösung und enthält in seinem § 114 immer noch eine nicht einwandfreie Bestimmung, gegen welche der Vorwurf der Einseitigkeit erhoben werden kann.

Das neue Elementarunterrichtsgesetz hat der Abgeordnete Geck als ein Ausnahmegesetz gegen die badische Lehrerschaft gekennzeichnet. Den einheitlichen Wünschen und Forderungen der Volksschullehrer zum Trußze weigert sich die Regierung immer noch, diese unter die Beamtenschaft des Musterländ chens aufzunehmen und ihre Dotierung im Gehaltstarif unterzubringen. Die Kammer setzte die einzige Konzession durch, daß bei einer allgemeinen Gehaltsaufbesserung für die Staats­beamten auch der außenstehenden Volkserzieher gnädigst ge­dacht werden muß.

Bescheidener Erhöhung des Einkommens willen, welche die badischen Lehrer und Lehrerinnen seit der Zeit erflehen, da sie ihrem organisatorischen Zusammenhalten einen Einfluß ver­danken, mußte die Schulgesegnovelle auch von den Sozial­demokraten als eine materielle Abschlagszahlung angenommen werden. Es gehen dabei aber auch noch einige Vorteile mit in den Kauf.

Den Leserkreis der Gleichheit" interessiert darunter zunächst die eine Neuerung, daß die Volksschulzeit für die Mädchen von 7 auf 8 Jahre erhöht worden ist. Die bürgerlichen Parteien fanden, daß es notwendig ist, durch die gleiche Schulzeit für beide Geschlechter den wachsenden Anforderungen der heutigen Zeit in der wirtschaftlichen, geschäftlichen, beruflichen Tätigkeit an die Mädchen" zu entsprechen. Leider behielt man in einem Lande, wo das Schuljahr der Mittelschulen im Herbst beginnt, den Schluß des Volksschuljahres auf Ostern bei. Das geschah zunächst der Kirche zulieb, das heißt mit Rücksicht auf die an Ostern stattfindende Konfirmation"; sodann zugunsten der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die wegen der im Früh­jahr beginnenden Feldarbeiten ein Interesse an der Entlassung der Volksschüler an Ostern besitzen soll.

In Bauernkreisen entrüstet man sich jetzt darüber, daß der Unterricht der Mädchen um ein achtes Schuljahr verlängert worden ist. Die Zentrumspresse machte sich zum Fürsprecher der agrarisch rückständigen Auffassung, daß ein theoretischer Elementarunterricht für das weibliche Geschlecht einer Zeit verschwendung gleichkomme; die Mädchen bedürften nur der Unterweisung im Stricken, Nähen, Waschen und Kochen. Die übrige Zeit müßten sie zur Arbeit in Haus und Feld ver wenden. Ein katholisches Blatt bezeichnete den jetzt eingeführten achtjährigen Schulbesuch der Mädchen als eine gesetzliche Bor schrift zur Schädigung der Sittlichkeit und Gesundheit der in der Entwicklung( Pubertät) befindlichen weiblichen Jugend. Jn demselben Atem begrüßt aber das Zentrumsblatt die Mit­teilung, daß der Zentrumsmann des badischen Oberschulrats als Autor der Schulgesetnovelle vom Fürsten   mit einem Orden ausgezeichnet worden ist.

Zu einer geseglichen Festlegung der Unentgeltlichkeit des Unterrichtes mit obligatorischer Lieferung der Lernmittel tam es nicht. Das neue Gesetz bestimmt nur, daß die für unbemittelte Kinder"( sic!) zu machenden Aufwendungen aus Gemeindemitteln nicht als Armenunterstützung gelten dürfen.

In der örtlichen Schulaufsicht muß der erste Lehrer jeder Volksschule vertreten sein. Man hat nicht der Forderung der Lehrerinnen entsprochen, daß unter der Zahl der Frauen, welche in Gemeinden mit über 6000 Einwohnern offiziell bis zu einem Viertel in der Ortsschulbehörde vertreten sein können, auch Lehrerinnen sein müssen. Bu begrüßen ist die obligatorische Bestellung eines Schularztes als sanitäts­polizeiliches Mitglied der Ortsschulbehörde in Gemeinden mit zehn oder mehr Lehrerstellen; an anderen Orten kann diese Bestellung erfolgen. Von Arztinnen ist leider nicht die Rede.

In der besonderen Schulleitung( Rektorat) wirken die ersten" Lehrer mit und erhalten dafür Dienstzulagen; der Re­gierungsentwurf forderte hier den Ausschluß der Frauen". Die Kammer hat ihn sanktioniert, doch gestattet gnädig das Gesetz die Verwendung von Lehrerinnen an solchen Schul­