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Die Gleichheit

Übertritt zu einer Kampforganisation machte ein großer Teil der Frauen, die sich nur als Hausfrauen fühlten, nicht mit. Zum Teil gründeten sie Frauenbildungsvereine, zum Teil sanken sie wieder in ihre frühere Gleichgültigkeit zurück. Die Zahl der übertretenden war stark genug, um anfeuernd, beispielgebend zu wirken. In die Gleichgültigkeit der ungelernten Arbeiterinnen war für die Dauer Bresche gelegt. Mit frischerem Mut und unter Heranziehung aller agitatorischen Kräfte nahm der Verband seine Werbearbeit auch bei den Arbeiterinnen in noch viel stärkerem Maße auf. Und da es sich immer wieder bestätigte, daß die Frau am wirksamſten aufklärend zur Frau zu sprechen vermag, wurden besonders auch Genossinnen als Verkünderinnen des Organisationsgedankens unter die Massen ge schickt. Die Genossinnen Zietz und Wackwitz vor allem haben sich große Verdienste um die gewerkschaftliche Organisierung der unge­lernten Arbeiterinnen erworben. Sie haben viele Tausende von ihnen dem Fabritarbeiterverband zugeführt, dessen unermüdliche Agitatorin Genossin Wackwith noch heute ist. Erfolg der rührigen Agitationsarbeit schloß sich an Erfolg. Die Arbeiterinnen ließen sich immer mehr vom Wert und der Notwendigkeit des Verbandes überzeugen und stellten bald tüchtige Helferinnen. So hatte

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um zu den Anfängen zurückzukehren der Verband im Jahre 1893 bis 1894 eine Zahlstelle für Landarbeiterinnen in Olvenstedt , die vollständig von Frauen verwaltet wurde und sehr gut funktionierte. Auch an anderen Orten waren schon um diese Zeit Frauen in der Verwaltung tätig. Die Wäscherinnen von Isenburg und etwas später die von Eppendorf und Winterhude konnten bald erproben, daß der Verband ihnen bei Forderungen tatkräftig zur Seite stand. Heute hat der Verband wohl in allen Berufen ungelernter Arbeiter auch weibliche Mitglieder; ihre Zahl ist auf fast 16000 angewachsen. Das mag winzig erscheinen im Verhältnis zur großen Zahl der in Fabriken beschäftigten Arbeiterinnen, die für den Verband in Betracht fommen. Wer aber all die Schwierigkeiten fennt, die sich der Organi sation unter den Arbeiterinnen entgegenstellen, der muß unumwunden die Erfolge des Verbandes auch in dieser Beziehung anerkennen. Aber nicht allein, daß 16000 Arbeiterinnen für die gewerkschaft­liche Organisation gewonnen worden sind, Tausenden von Frauen und Mädchen wurden die Jdeen des Sozialismus erschlossen, Tausende haben als Mütter Gelegenheit, für sie zu wirken, Tausende ehemaliger Arbeitsgenossinnen, die nun lediglich Hausfrauenpflichten erfüllen, stehen ihren Männern als Gesinnungsgenossinnen und Mitstreiterinnen verständnisvoll und opferbereit zur Seite. Sie clle haben die Vorteile der gewerkschaftlichen Organisation, aber auch die Bedeutung des politischen Kampfes kennen gelernt.

In welchem Maße der Verband es vermochte, seinen Mitgliedern in den verschiedensten Lagen Schutz und Hilfe zu bieten, zeigen am besten die von Stufe zu Stufe gestiegenen Ausgaben für Unter­stützungs- und Kampfeszwecke. Ich will nicht alle seine Leistungen aufführen, nur ein paar Zahlen mögen den Fortschritt und den Unterschied der heutigen Leistungsfähigkeit des Verbandes und den bescheidenen Anfängen in seiner Kindheit beleuchten. In den Jahren 1890 bis 1892 wurde ausgegeben: Für Streifunterstüßung 553 Mt., für Gemaßregeltenunterstützung 606 Mt., für Rechtsschutz 74 Mt., für Agitation 674 Mt., für Reiseunterstützung 352 Mt. Daneben stelle man die gewaltige Summe von über drei Millionen, die der Verband in den letzten zwei Jahren für Agitations- und Unterstützungszwecke aufbrachte. Auf dem ersten Verbandstag 1892 waren 42 Zahlstellen vertreten; auf dem zehnten Verbandstag werden 495 Bahlstellen mit 160000 Mitgliedern vertreten sein. Diese Gegenüberstellungen zeigen, daß unter dem Zwang der kapitalistischen Entwicklung der Verband sich gegen alle Widerstände aus kleinen Anfängen zu seiner jetzigen Größe durchgerungen hat. Der Zwang der kapitalistischen Entwicklung verbürgt sein weiteres Fortschreiten, das mit wachsen­dem Verständnis der Massen für ihre Lebensbedingungen gleich bedeutend ist. Die Massen werden den Verband mehr und mehr als eine in der heutigen Gesellschaft notwendige Organisation er fennen, als eine Organisation, die viel Elend abzuwehren vermag und einen Quell der Kraft für den Strom der gesamten Arbeiter­bewegung bildet. Der zehnte Verbandstag wird die Waffen der Organisation schärfen und ihre Einrichtungen vervollkommnen. Möge er der Anstoß werden, neue Tausende um ihre Fahnen zu scharen und vor allem auch das Vertrauen der Arbeiterinnen zur Kraft des Verbandes zu wecken und sie zu veranlassen, durch den Anschluß an ihn seine Macht noch mehr zu stärken. W. Kähler

Aus der Bewegung.

Von den Organisationen. Aus dem lange Jahre in Arbeiter­freisen wirkenden Fortbildungsverein des Gewerkschaftskartells hat sich seit 24. Juni 1909 die unter gemeinsamer Leitung von Partei

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und Gewerkschaft stehende 3entraltommission für das Ar­beiterbildungswesen für Hamburg und Umgegend" gebildet, die am 1. September 1909 ein Sekretariat eröffnete. Der Zweck dieser Organisation ist, eine Zentrale zu schaffen, von der aus alle Veranstaltungen im Interesse des Arbeiterbildungs­wesens sowie der Jugendorganisation geregelt und geleitet werden. Nach dem jetzt veröffentlichten Bericht der Tätigkeit der Zentral­fommission für das erste Geschäftsjahr ist dieser Versuch einer Ver­einheitlichung der genannten Bestrebungen als gelungen anzusehen, und es ist mit ziemlicher Sicherheit eine gute Entwicklung auf diesem Gebiet für die Zukunft zu erwarten. In den früher unkontrol lierten Lehrgang der Fortbildungskurse sucht man jetzt dadurch System zu bringen, daß man die Lehrkurse klassifiziert und die Teilnehmer vor Beginn eines Kursus auf ihre Fähigkeiten und Vorkenntnisse prüft. Der Unterricht erstreckt sich auf folgende Lehrfächer: Deutsche Sprache( dreistufige Kurse), Rechnen( dreis stufige Kurse), Geschichte und Nationalötonomie( zweistufige Kurse). Die Teilnehmer an diesen Kursen, Genossen und Genossinnen, werden je zur Hälfte von Partei und Gewerkschaft delegiert. Auch werden den Mitgliedern des Jugendbundes einige Plätze zum Unter­richt freigestellt. Die Gesamtteilnehmerzahl am Unterricht des Winters halbjahres betrug 277. Durch den jezigen geregelten Lehrgang und die planmäßige Absolvierung der Unter- und Oberkurse wird unserer wissensdurstigen, lerneifrigen Arbeiterschaft die Möglichkeit einer systematischen Ausbildung auf sozialwissenschaftlicher und historischer, also materialistischer Grundlage gewährleistet. Die Einrichtung ermöglicht die unserer Arbeiterbewegung im heutigen Klassenkampf so notwendige theoretische Vertiefung durch den wissenschaftlichen Sozialismus, und sie verdient Nachahmung in Arbeiterkreisen. In allen Stadtteilen werden von der Zentralfommission Vortrags­zyklen nationalökonomischer, historischer und naturwissenschaftlicher Art, wo solche gewünscht werden, veranstaltet. Diese Vorträge sind besonders als Vorbereitung für fünftige Unterrichtsteilnehmer gedacht. Im Winterhalbjahr wurden zu diesem Zweck insgesamt 93 Vorträge veranstaltet, woran zirka 9000 Besucher teilnahmen. Neben dem wissenschaftlichen Unterrichtswesen sucht die Zentral kommission auch das Verständnis für Kunst in den Kreisen der organisierten Arbeiterschaft durch musikalische und literarische Unters haltungsabende zu heben. Der glänzende Befuch aller 13 Verans staltungen dieser Art im letzten Winter beweist das wachsende Interesse der Arbeiter an künstlerischen Darbietungen. Viele Mühe verursachte der Ausbau des Jugendbundes, die jedoch durch den bisherigen Erfolg mehr denn aufgewogen wurde. Heute umfaßt die Jugendorganisation in 31 Abteilungen mehr denn 1700 Teil­nehmer, die außer an allen Veranstaltungen des Jugendbundes un­entgeltlich auch an denen der Arbeiterturnvereine teilnehmen können. Eine Misere für unsere Jugendbewegung ist, wie noch überall in Deutschland , wo sich proletarische Jugendorganisationen gebildet haben, die Lokalfrage. Behagliche, geräumige Jugendheime, ohne Zehrzwang, sind das Rückgrat einer gesunden Entwicklung der Jugendbewegung. Fünf eigene Heime, von Genossenschaften uns überlassen, denen sich im Herbst wahrscheinlich noch einige von Freunden unserer Jugendbewegung bereitwilligst zur Verfügung gestellte Räume anreihen werden, lassen uns für die Zukunft die schönsten Hoffnungen hegen.

Das Amt der Jugendleiter und-leiterinnen ist nicht einfacher Art. Es erfordert viel Geduld, Takt und Opferfreudigkeit, die durch das Bewußtsein belohnt werden, am großen Werk mitzuhelfen: die proletarische Jugend zu einem würdigen Nachwuchs für unsere große Arbeiterarmee im Klassenkampf reifen zu lassen. Und in der Regel schlingt sich zwischen den Jugendlichen und ihrem Leiter das Band einer herzlichen, kameradschaftlichen Freundschaft. Wir wünschen aus vollem Herzen, daß es mit der Jugendbewegung in gleichem Tempo wie bisher vorwärts geht, dann muß sich in nicht allzu ferner Zukunft das Freiligrathsche Wort bewahrheiten: Unser die Welt, trotz alledem!"

e. g.

Jahresbericht der Genoffinnen in Braunschweig . Die proletarische Frauenbewegung in Braunschweig hat im verflossenen Jahre erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen. Die politische Dr­ganisation zählte am Jahresschluß 1056 weibliche Mitglieder. Gemäß dem Leipziger Parteitagsbeschluß wurden auch in Braun­ schweig in die einzelnen Vorstände und Kommissionen Frauen zur Mitarbeit gewählt. Damit glaubten viele Genossen ihrer Pflicht gegen die Frauen genügt zu haben. Dagegen find die Genossinnen der Ansicht, daß für die Agitation unter den Frauen und für ihre Weiterbildung bei weitem zu wenig getan wurde. Vor allem empfinden es die tätigen Genossinnen als Mißstand, daß sie zu wenig Fühlung miteinander haben. Der Frauenbildungs­verein, der die Genossinnen durch regelmäßige Zusammenkünfte