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Die Gleichheit

Weberin trotzdem nur 86 Prozent des jährlichen Einkommens eines Webers: ein Weber verdient pro Jahr ungefähr 322 Rubel, eine Weberin 277 Rubel. Eine Weberin erhält aber einen verhältnismäßig höheren Lohn als die Arbeiterinnen in vielen anderen Zweigen des Gewerbes. Die Kremplerinnen, Spulerinnen erhalten pro Tag 30 bis 45 Ropeken oder zirka 9 bis 13 Rubel pro Monat. Die an den Watermaschinen tätigen Arbeiterinnen verdienen 80 bis 90 Ropeken pro Tag, nur ausnahmsweise bringen es einige bei Affordarbeit auf 1 Rubel 20 Ropeken.

Auch in der Metallindustrie finden wir einen klaffenden Unterschied in der Lohnhöhe für Frauen und Männer; dieselbe Arbeit, die einem Manne mit 1 Rubel 20 Kopefen pro Tag gelohnt wird, gibt gegenwärtig einer Arbeiterin nur 80 bis 90 Ropeken Verdienst. Kein Wunder, daß die Unternehmer sogar in diesem Industriezweig so gern, die Männer durch Frauen ersetzen.

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Daß man bei derartig niedrigen Löhnen kein menschen würdiges Leben führen kann, zeigt uns das Budget der Ar­beiterinnen. Werfen wir einen Blick auf das einer verhältnis mäßig gut gelohnten Textilarbeiterin in St. Petersburg . Sie verdient pro Monat 22 Rubel( zirka 42 Mt.), pro Jahr 270 Rubel. Für die Schlafstelle ein Winkel in einer Arbeiter familie zahlt sie Rubel pro Monat; die Kosten für die Ernährung- Tee, Roggenbrot, gesalzener Fisch, Wurst, Fleisch und warme Speisen nur ausnahmsweise stellen sich pro Monat auf 10 bis 12 Rubel; für Kleider, Stiefel muß sie durchschnittlich 3 bis 4 Rubel verausgaben. Es sind noch eine Reihe von unumgänglichen Bedürfnissen zu decken, wie Seife, Licht, Bad usw. Für kulturelle Zwecke: Zeitungen, Korre spondenz usw. wie für Mitgliedsbeiträge zu den Gewerkschaften bleibt nichts übrig. Sie können nur bestritten werden, wenn die Arbeiterin mit Nahrung, Licht usw. fargt, wenn sie ihre Kleider im Trödlerladen kauft, die oft die Keime ansteckender Krankheiten enthalten, wenn sie die Schlafstelle noch armseliger wählt usw. So ist es schwarze Not, was uns das Budget einer allein lebenden Arbeiterin enthüllt. Doch die meisten Ar­beiterinnen haben noch Familienangehörige zu ernähren; wenn sie keine Kinder haben, so ist fast stets ein Schwesterchen, eine alte Mutter, ein franker Vater da, der unterstützt und ver­sorgt werden muß. Wie soll die Arbeiterin da auskommen?'

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In Petersburg sind die Löhne wie in jeder Großstadt ver­hältnismäßig höher; in der Provinz, ja sogar in Moskau ist ihr Durchschnitt niedriger. In einer Reihe von Textilfabriken verdienen die Arbeiterinnen von 6 bis 8 Rubel pro Monat. Wie sollen wir leben," klagen die Frauen, wenn eine Schlaf­stelle allein 3 Rubel pro Monat fostet, wenn für die Ernäh­rung 4 Rubel und noch mehr ausgegeben werden muß, wenn man einen Winkel für die Familie nicht unter 6 Rubel pro Monat bekommen kann? Ohne Nebenerwerb' kommt man nicht aus!" Bum bekannten Nebenerwerb" der Frau greifen in diesem Falle sogar verheiratete Proletarierinnen, Familien­mütter. So verteidigt die kapitalistische Gesellschaft die Heilig keit der Familie"!

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In der Provinz Wladimir ist ein Tagelohn von 20 bis 25 Koperen für die Textilarbeiterinnen- das heißt von höchstens 6 Rubel pro Monat recht häufig. Und doch sind es nicht die Textilarbeiterinnen allein, die eine entsprechend elende Eri­stenz dahinschleppen. Nehmen wir zum Beispiel die Tabak­arbeiterinnen. Bei einem 10 bis 10% stündigen Arbeitstag ver­dienen sie 40 bis 60 Kopeken pro Tag, nur ausnahmsweise

1 Es wurde vom Kriegsministerium ein Normaltarif", das heißt ein Minimaltarif" für die Arbeiter festgesetzt, welche in den Unternehmungen beschäftigt werden, die ihm unterstellt sind. Ein Mann sollte danach im Minimum 21 Rubel, eine Frau 17 Rubel pro Monat erhalten. Es liegt auf der Hand, daß diese Sätze nicht zu reichlich" bemessen sind, sondern nur eine bescheidene Eristenz sichern. Welches Hundeleben müssen da wohl die vielen Arbeiterinnen führen, die mit ihrem Verdienst weit hinter 17 Rubel monatlich zurückbleiben, ja zum Teil taum 8 Rubel erreichen?

2 Siehe Die Arbeiterin in der Großindustrie". Referat von A. Kiriloff, Delegierte der Fabrikarbeiterinnen auf dem Alrussischen Frauenkongreß des Jahres 1908.

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sind einige wenige imstande, bei Affordarbeit einen Tagesver dienst von 1 Rubel zu erzielen. Die Jammerlöhne werden noch durch hohe Geldstrafen gefürzt je 10 versäumte Mis nuten werden zum Beispiel mit 25 Kopeken geahndet- fo daß der Durchschnittsverdienst einer Tabafarbeiterin nicht 12 Rubel im Monat, sondern weniger ist. Dieser Durchschnitts­verdienst wird überdies nur in St. Petersburg erreicht, wo das für der Lebensunterhalt fast so teuer wie in Berlin ist. In der Provinz ist das Einkommen der Arbeiterinnen durchweg niedriger. In einer südrussischen Tabatfabrik verdienten die Frauen 2 Rubel 50 Kopeken( weniger als 5 Mt.) pro Monat!

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In den Papierfabriken zu St. Petersburg steigt der Durch­schnittslohn einer Arbeiterin selten über 12 Rubel im Mo nat. In den Konfektfabriken, die verhältnismäßig viele Frauen beschäftigen, schwankt der Tagesverdienst zwischen 35 und 60 Kopeken pro Tag oder 9 Rubel 30 Ropefen bis 16 Rubel 80 Kopeken pro Monat; nur ausnahmsweise erreicht bei Affordarbeit der Tagesverdienst einer Arbeiterin der Kon­fettfabriken eine Höhe von 80 bis 90 Kopeken. In der Gummiwarenindustrie, unter den gesundheitschädlichsten Bedin­gungen und bei einem 12 stündigen Arbeitstag, bringt es eine Arbeiterin auf höchstens 20 Rubel im Monat. Als Regel kann gelten, daß die Mehrzahl der in der Fabrifindustrie tätigen Frauen in den Großstädten pro Monat von 8 bis 12 Rubel erwirbt; in den kleineren Industrieorten aber noch weniger. Ungemein niedrig ist der Verdienst der in den Bergwerken, zum Beispiel im Uralgebiet beschäftigten Frauen- 20 Kopeken pro Tag, also weniger als 5 Rubel pro Monat.

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Die Arbeiterin in der Gewerkschafts­statistik für 1907 und 1908.

II.

Wenden wir uns nun den Kämpfen der Gewerkschaften in den Jahren 1907 und 1908 zu, um zu sehen, in welchem Umfang und mit welchem Erfolg die Arbeiterinnen Anteil an ihnen hatten. An den Angriffstreiks des Jahres 1907 be teiligten sich insgesamt 11517 Frauen gegen 13132 im Vor­jahr; 1907 verloren die Arbeiterinnen dadurch 129 150, 1906 dagegen 260078 Arbeitstage. Bei den Abwehrstreits 1907 standen 2513 organisierte Arbeiterinnen im Kampfe, die einent Verlust von 33140 Arbeitstagen erlitten, während die Statistic für 1906 von 2679 ftreifenden Frauen und Mädchen und einem Verlust von 51 349 Arbeitstagen berichtet. Bei den Zahlen für 1907 ist noch eine Anzahl Arbeiterinnen eingerechnet, derent Kämpfe am 1. Januar 1908 nicht beendet waren. Trotzdem sind die Zahlen für 1906 durchweg höher, was beweist, daß 1907 die Wirtschaftskrise schon lähmend auf die Gewerkschafts­fämpfe einwirfte. 1908 waren an den Angriffstreits ins­gesamt 1934 Arbeiterinnen beteiligt, die 45 508 Arbeitstage ver­loren. Im Abwehrstreik standen 1985 Arbeiterinnen; sie hatten einen Verlust von 67941 Arbeitstagen. Bei Angriff­sowie bei Abwehrstreiks ist also die Zahl der kämpfenden Ar­beiterinnen gegen 1907 wiederum bedeutend zurückgegangen. Die Zahl der verlorenen Arbeitstage ist dagegen bei den Ab­wehrstreiks sehr in die Höhe geschnellt, ein Umstand, der auf eine größere Hartnäckigkeit der Kämpfe schließen läßt.

Noch deutlicher tritt diese Erscheinung zutage, wenn wir die Zahl der in den Jahren 1907 und 1908 verlorenen Arbeits­tage auf den Kopf der streifenden Arbeiterin berechnen, wobei wir von der Trennung in Angriff- und Abwehrstreit abschen. Dann erhalten wir für 1907 einen Verlust von 11,5 Tagen pro Arbeiterin, für 1908 einen solchen von 28,9 Tagen.

1 Bei der Berechnung des Monatslohnes kommen die vier Sonntage als arbeitslose" Tage in Wegfall; wenn es noch andere Feiertage im Monat gibt oder wenn die Arbeiterin einige Werktage versäumt, so ist das Monatseinkommen noch geringer.

Siehe Die sozialen Ursachen der Frauenfrage". A. Kollontay, Seite 158. Materialien zur Beleuchtung der Lage der Bergarbeiter Rußlands ."

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