Nr. 24

Die Gleichheit

Jahresbericht der Kinderschuhkommission in Ottensen  . Vor nunmehr einem Jahre wurden im Vierstädtegebiet Hamburg  , Altona  , Ottensen   und Wandsbek   laut Beschluß von Partei und Gewerkschaften gemeinschaftlich Kinderschutzkommissionen ins Leben gerufen. In Ottensen   gehören der Kinderschutzkommission leider nur fünf Genossinnen an, viel zu wenig, um den Kampf gegen das tief eingewurzelte Übel der Kinderausbeutung mit dem rechten Erfolg führen zu können. Dazu kommt noch, daß drei der Genossinnen durch berufliche Tätigkeit verhindert sind, sich ihrer Aufgabe gerade in den Morgenstunden zu widmen, wo so viele findliche Arbeitskräfte beim Austragen ffrupellos ausgebeutet wer­den. Trotzdem ist es gelungen, in mehreren Fällen zugunsten der ausgebeuteten Kinder erfolgreich einzugreifen. Die Eltern der Kleinen lassen sich davon überzeugen, wie schädlich die erwerbende Beschäf tigung ist, namentlich das Treppauf- und Treppabhasten beim Zeitung, Milch und Brotaustragen. Auch blieb es nicht ohne Eindruck auf sie, als die Genossinnen ihnen auseinandersetzten, daß sie den Erwachsenen die Arbeitsgelegenheit erschwerten, wenn sie ihre Kinder für einige Groschen arbeiten ließen. In einigen Fa­milien war aber das Elend so groß, daß die Genossinnen not­gedrungen davon Abstand nehmen mußten, den Eltern weitere Vor­stellungen über die schädliche Erwerbsarbeit ihrer Kinder zu machen. Häufig genug mußten die Genossinnen unverrichteter Sache fort­gehen, weil einsichtslose Eltern taub für all die Gründe blieben, die gegen die Kinderarbeit sprechen. Da es sich dabei um die Be­schäftigung eigener Kinder handelt, die gesetzlich leider erlaubt ist, stand der Kommission auch kein weiteres Mittel zu Gebote, Abhilfe zu schaffen. Die Eltern erklärten einfach: Wir schützen unsere Kinder selbst!" Wie dieser Schutz oft beschaffen ist, zeigt folgender Fall. Ein zwölfjähriges Kind wurde von seiner Mutter früh morgens mit dem Austragen von Brot beschäftigt. Ein Partei­genosse, der in der Nähe wohnt, machte der Mutter Vorstellungen darüber, weil ihm das Kind recht elend und müde erschien. Die Mutter blieb jedoch ganz gleichgültig und kehrte sich nicht daran. Wie richtig unser Parteigenosse gesehen hatte, sollte sich bald zeigen. Das bedauernswerte Kind starb nach kurzer Zeit. Es hatte Dyph theritis gehabt, die nicht zum Ausbruch gekommen war, sondern die Kräfte des kleinen Körpers langsam verzehrt hatte. Wie viele ähnliche Fälle entziehen sich der Öffentlichkeit! Wie viele Menschen leiden unter den Folgen einer harten traurigen Jugend ihr Leben lang oder siechen früh dahin! Die Profitgier unserer heutigen fapitalistischen Gesellschaft macht selbst vor der Jugend nicht Halt. Durch weitreichende gesetzliche Vorschriften zum Schuße der Kinder lönnte vieles gebessert werden. Unsere Parteigenossen im Parla­ment werden nach wie vor mit ganzer Energie für die gründliche Ausgestaltung des Kinderschutzgesetzes eintreten. Die Kinderschutz­fommissionen können die Aktion der Reichstagsabgeordneten wirk­sam unterstützen, wenn sie allerorten Material zur Frage der Kinder­ausbeutung zusammentragen. Die Genossinnen in Ottensen  , welche den Kommissionen angehören, werden trotz aller Schwierigkeiten bestrebt sein, in jeder Richtung für den Schutz der ausgebeuteten Kinder zu wirken. Cäcilie Paurtian.

Politische Rundschau.

Wiederum einmal sind wir in Deutschland   in eine Periode der Fleischteuerung eingetreten. Die Fleischpreise sind im Reiche schon im allgemeinen von einer Höhe, die die Arbeiterklasse zwingt, den Fleischgenuß sehr einzuschränken. Dank den Fleisch- und Vieh­zöllen, besonders aber infolge der angeblich im Interesse der Ge­sundheit des nationalen Viehs erlassenen Viehgrenzsperren und schifanösen Quarantänevorschriften, müssen die deutschen   Proletarier das Fleisch bedeutend teurer bezahlen, als die Arbeiter der Nachbar­länder. Die deutsche Landwirtschaft ist aber nicht imstande, das stetig wachsende deutsche Volt ausreichend mit Schlachtvieh zu versorgen. Tritt nun irgend ein Umstand ein, der auf Einschränkung der Vieh­zucht hinwirft, wie schlechte Viehfutterernte, Teurung des Vieh­futters, so wird der Fehlbetrag an Fleisch noch schlimmer, und wir haben die gesteigerte Fleischteurung, wie sie im letzten Jahrzehnt schon mehrfach zu verzeichnen war. So war's 1905 und 1906- jetzt aber kommt es noch schlimmer. Die Notstandspreise von 1906 sind teilweise schon überholt, und wir stehen erst am Anfang. Die Regierung aber bleibt taub gegen die Forderung auf Öffnung der Grenzen für die Vieheinfuhr, denn die Großgrundbesitzer sacken bei diesem Zustand Riesengewinne ein, und wenn's denen gut geht, was schiert die Herren dann der Hunger der Arbeiter, Angestellten, Beamten und kleinen Gewerbetreibenden. Sie alle müssen sich scheeren lassen durch die Junker und Junkergenossen. Es fümmert diese und die ihnen dienstbare Regierung verflucht wenig, daß die

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Lebenshaltung der arbeitenden Bevölkerung auf ein niedrigeres Niveau sinkt, daß die Volksgesundheit schon Not leidet. Der Fleisch­verzehr ist in Deutschland   der hohen Preise wegen ohnehin geringer als in England und Amerika  , ist im letzten Jahre weiter herab­gegangen und wird jetzt noch mehr eingeschränkt werden.

Die Herrschenden und Regierenden erachten es als selbstver­ständlich, daß die große besitlose Mehrheit der Nation sich von einer geringen Minderheit die Nahrung bis aufs Außerste ver­teuern und beknappen lassen muß. Es ist Zeit, daß die ausge wucherten Massen gegen den Mundraub protestieren. Insbesondere die Frauen sollten in eine kräftige Bewegung gegen die Fleisch­teurung eintreten. Es ist das um so nötiger, als dadurch dem Wahlkampf wichtige Vorarbeit geleistet wird. Denn die ungesunde Politik des Zollwuchers wird um mehr als ein Jahrzehnt ver­längert werden, wenn das deutsche   Volk bei den kommenden Reichs­tagswahlen nicht dafür sorgt, daß die Zollwuchermehrheit des Reichstags gründlich zerschmettert wird, die Konservative, Anti­semiten, Zentrümler und Nationalliberale bilden.

Diese Parteien dürften bei den Wahlen übrigens im allgemeinen einträchtig zusammenwirken, trotz der Verärgerung, die die Reichs­finanzreform und der Zerfall des konservativ- liberalen Blocks zwischen Konservativen und Zentrum einerseits und den National­liberalen andererseits erzeugt hat. Von dem Kampf gegen die Rechte ist es ganz still geworden im nationalen Lager, die rechts­nationalliberale Rheinisch- Westfälische Zeitung" fordert sogar die Unterstützung der Konservativen gegen die Fortschrittler. Es mehren sich die Anzeichen, daß es im rheinisch- westfälischen Industriebezirk zu einem Kartell zwischen Zentrum und Nationalliberalen gegen die Sozialdemokraten kommen wird. Ein Pfarrer Luft hat sich in einer Zentrumsversammlung zu Wanne für ein Stichwahlabkommen zwischen Nationalliberalen und Zentrum im Wahlkreise Bochum  ausgesprochen. Die Westfälische Volkszeitung", das Zentrumsorgan in Bochum  , aber geht aufs Ganze und empfiehlt eine Einigung der beiden Parteien auf einen gemeinsamen Kandidaten schon für die Hauptwahl. Die Kölnische Volkszeitung", das führende rheinische Zentrumsblatt, hat dem Vorschlag des Pfarrers Luft bereits seinen Segen gegeben, unter der Bedingung von Gegenleistungen der Nation alliberalen für das Zentrum in anderen rheinisch- west­fälischen Wahlkreisen.

Das Zentrum tritt als die um die Nationalliberalen werbende Partei auf. Es fühlt sich offenbar sehr unsicher und hat allen Grund dazu. Denn es ist in der letzten Zeit zu viel geschehen, was die proletarischen Wähler des Zentrums zum Nachdenken an= regen muß. Zu dem Artikel des Reichstagskandidaten für War­burg- Hörter, des Straßburger Spahn, gegen die Übertragung des Reichstagswahlrechts in Preußen ist jetzt eine sehr offenherzige Erklärung der Germania  " gekommen, die da zeigt, daß das Zentrum in Wahrheit ein erbitterter Feind einer wirk lichen Wahlreform in Preußen ist. Zu einem Artikel des Professors Schmoller, der von der preußischen Regierung eine Wahlrechts­vorlage mit dem direkten und geheimen Wahlrecht unter Beibe­haltung der Dreiklassenteilung fordert, hat das Berliner   Zentral­organ des Zentrums bemerkt: Will Herr v. Bethman Hollweg seinen früheren Entwurf in dem Maße preisgeben, daß er, den Forderungen Schmollers entsprechend, die direkte und geheime Wahl bewilligt, so ist es uns gewiß auch recht. Zu bedenken ist aber auch, daß der Staat nicht allein dadurch erschüttert werden kann, daß der Acheron sich in Bewegung setzt. Wir möchten ein Wahlrecht, das begründete und zeitgemäße Ansprüche der, Demo­fratie befriedigt, ohne den Konservativen gewaltsam aufge­zwungen werden zu müssen." Das heißt, das Zentrum ist zwar grundsätzlich für das gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, aber es wird diesen Grundsatz nur soweit vertreten und durchzusetzen versuchen, als es die Konservativen erlauben! Daß das den nackten Verrat jeder wirklichen Wahlreform bedeutet, begreift ein kleines Kind. Denn die konservativen Junker werden natürlich nie und nimmer freiwillig einer Wahlreform zustimmen, die auch nur halbwegs ihren Namen verdient. Also wird das Zentrum auch lieber an der Seite der Konservativen dafür sorgen, daß keine wirt­liche Verbesserung des Wahlrechts zustande kommt, als daß es den Konservativen ein ihnen nicht genehmes demokratisches Wahlrecht aufzwingen würde. Das Zentrumswahlkomitee für Warburg­Hörter hat inzwischen etwas getan, um die durch den wahl­rechtsfeindlichen Artikel des Reichstagskandidaten Spahn beun­ruhigten Zentrumswähler zu beruhigen. Sie hat den Herrn Pro­fessor erklären lassen, daß er für die Einführung des Reichstags­wahlrechts in Elsaß- Lothringen   sei, und daß er bezüglich der Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen mit der Zen­trumsfraktion übereinstimme. Das ist für die Dummen berechnet,

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