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Die Gleichheit

nehmen. Der eigentliche Betrieb der kleinen Unternehmen ist jedoch weit umfangreicher als es beim oberflächlichen Blick er­scheint; auch außerhalb der Werkstätte wird dafür gearbeitet. Wenn 5 bis 6 Näherinnen im Atelier tätig sind, so kann man sicher sein, daß die Firma 8 bis 10 Heimarbeiterinnen durch das Schwitzsystem ausbeutet. 1900 zählte man 21451 Nähe rinnen( Kleider- und Jackettschneiderinnen, Wäsche- und Decken­näherinnen); 12152 von ihnen sollten Arbeiterinnen in Werk­stätten sein, die übrigen 9299 Heimarbeiterinnen. Tatsächlich ist die Zahl der letzteren höher als angegeben, der Umfang der Heimarbeit ist schwer statistisch festzustellen. Tausende und Tausende von selbständigen" Näherinnen werden allmählich von den Warenhäusern angezogen und die freie" Hausarbeit verwandelt sich in das berüchtigte sweating system".

Die Lage der in den Ateliers beschäftigten Schneiderinnen ist eine sehr ungünstige, die Arbeitsbedingungen sind jämmer­lich. Der Arbeitstag dauert 12 bis 13 Stunden, manchmal aber auch volle 16 Stunden. Nachtarbeit und Überzeitarbeit ohne besondere Entlohnung dafür, höchstens gegen ein tleines Geschenk" zu Weihnachten seitens der Prinzipalin- die meisten Schneiderinnen haben einen bestimmten Monatslohn, ist gar zu häufig.1

Die Wohnungsverhältnisse der Atelierarbeiterinnen sind un­erträglich; als Schlafstätte dient ein dunkles Zimmer voll Schmutz und Staub, mit nicht viel mehr Luft als in einem Sarge. Die Arbeiterinnen schlafen auf der Diele, im besten Falle zu zweit in einem Bett. Die Kost ist unzulänglich und wird mit schlechten, selten frischen Nahrungsmitteln bestritten; gegessen wird in der stauberfüllten Werkstatt mit ihrer unge­sunden Luft, die besonders im Winter stickig ist. Der Arbeits­lohn einer Atelierarbeiterin schwankt in Petersburg zwischen 7 bis 15 Rubel pro Monat, nur eingearbeitete Spezialiſtinnen erhalten mehr. In Moskau ist der Lohn noch niedriger: 5 bis 12 Rubel, dabei muß die Arbeiterin oft eine eigene Schlafstelle bezahlen. 20 bis 25 Rubel pro Monat bezahlen nur größere Werkstätten, aber dort sind wieder hohe Geldstrafen üblich. In den Werkstätten, die nicht für feste Kundschaft, sondern für Warenhäuser arbeiten, sind die Arbeitsbedingungen besonders traurig. Die Arbeitszeit ist ganz ungeregelt, der Arbeitslohn ist außerordentlich niedrig, er beträgt 3 bis 8 Rubel pro Mo­nat, wovon sie oft Koft und Logis bestreiten müssen. Dabei ist es hier üblich, für ein monatliches Gehalt ein bestimmtes Quan­tum Leistungen von den Beschäftigten zu fordern; wird das Quantum bis Ende des Monats nicht erreicht, so muß es un­entgeltlich nachgearbeitet werden. Bei diesem raffinierten System muß eine Näherin häufig 2 bis 5 Monate jährlich un­entgeltlich für den Herrn Arbeitgeber" schaffen.

Für die kleinen Lehrmädchen im Alter von 10 bis 15, nicht felten aber auch von 8 Jahren bestehen all die hervorgehobenen Mißstände noch in größerem Maße. Das Leben dieser kleinen Märtyrerinnen übertrifft alle Schrecken der Danteschen Hölle. Ist es da verwunderlich, wenn man in den Zeitungen fast täglich von Selbstmorden solcher im zartesten Alter stehenden Stlavinnen des Rapitals lieft? Der Tod ist für sie häufig der einzige Freund und Erlöser. Ist es ferner erstaunlich, daß sich aus diesen Lehrmädchen der Schneiderateliers hauptsächlich das Heer der Prostituierten rekrutiert?"

Was die Arbeits- und Lebensbedingungen der russischen Heimarbeiterinnen anbelangt, so unterscheiden sie sich wenig von denen in den übrigen Ländern. Das Los der Heimarbeite­

Siehe Die Lage der in der Petersburger und Moskauer Konfektions­industrie tätigen Arbeiterinnen". Referat der Delegierten der Näherinnen auf dem Allruffischen Frauenkongreß.

In einigen Ateliers wird den Arbeiterinnen für jeden versäumten Tag 1% Rubel Strafe abgezogen.

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Ueberhaupt hat die Prostitution von Kindern in Rußland einen un­heimlichen" Umfang angenommen; besondere Ausdehnung hat sie bei den maffenhaften Arbeiteraussperrungen im Westen des Reiches erfahren, so daß selbst die Regierung davon etwas beunruhigt" erschien. Die gleiche Folge hat auch die wachsende Arbeitslosigkeit gehabt, die durch das noch immer andauernde Daniederliegen des Wirtschaftslebens in Rußland her­vorgerufen worden ist.

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rinnen ist noch viel bitterer als das der Lohnstlavinnen in den Werkstätten. Die Dauer ihres Arbeitstages? Bis ihre vor Müdigkeit blinden Augen sich von selbst schließen, ohne daß die Hand die Arbeit fahren läßt und ein unruhiger Schlaf die erschöpften Kräfte zur neuen Erzeugung von Mehrwert fümmer­lich wieder herstellt. Der Arbeitslohn? Die schön ausgestatteten Läden mit feiner Damenwäsche, mit koketten Blusen und Ju­pons zahlen der Näherin für ein Duhend Hemden, die minde stens sechs Tage Arbeit fosteten, 80 bis 90 Ropeten, für einen Damenrod 75 Ropeken, für ein Dutzend seidener Blusen oder Jupons, die mindestens zwölf Tage Arbeitszeit erfordern, wird 6 Rubel gezahlt. Die zu zweit arbeitenden Deckennäherinnen erhalten bei der bekannten internationalen Firma Esders& Schefels bei einem sechzehnstündigen Arbeitstag 18 Rubel pro Monat.

Im höchsten Grade ungünstig ist auch die Lage der 192000 Handlungsgehilfinnen. Bei einem Arbeitstag, der nach einer in den letzten Jahren erschienenen Verordnung 12 Stun den nicht überschreiten soll, tatsächlich aber 15 bis 16 Stunden dauert, verdienen sie 10 bis 20 Rubel pro Monat, selten mehr. Ruhepausen am Tage gibt es nicht; anständige" Toilette usw. wird verlangt. In den Bäckereien und Konditoreien werden als Verkäuferinnen nur junge, 17 bis 20 jährige und möglichst hübsche" Mädchen angestellt, die einen Lohn von 12 bis höch stens 25 Rubel pro Monat erhalten, wovon sie eigene Schlaf­stätte bezahlen müssen. Gerade von den Verkäuferinnen in den Bäckereien und Konditoreien fallen viele der Prostitution an­heim.

Aus der Bewegung.

Die Frauenbewegung im Kreise Waldenburg. Die Be völkerung des Kreises Waldenburg ist in der Hauptsache im Berg­bau tätig, jedoch beschäftigt auch eine starte Porzellan- und Textil­industrie Tausende von Frauen und Mädchen. Die Lohnverhält nisse sind in Niederschlesien allgemein sehr schlecht; der Durch­schnittslohn der Bergleute beträgt 3,21 Mt., bleibt also pro Schicht um zirka 1,50 Mt. hinter den Durchschnittslöhnen des Ruhrberg­baues zurück. Bei den schlechten Löhnen der Familienväter bleibt schließlich nichts anderes übrig, als daß die Ehefrau und die der Schule entwachsenen Mädchen in der Fabrit Arbeitsgelegenheit und Brot suchen, damit die Familie sich zur Not durchschlagen tann. Das Angebot von weiblichen Arbeitskräften ist aber im Kreise Waldenburg so groß, daß viele Hunderte von Mädchen in die Nachbarkreise hinauswandern und in den umliegenden Textilfabriken Beschäftigung suchen. Töchter von Bergarbeitern kann man in großer Zahl im Kreise Landeshut und in den Ortschaften Friedland, Wüstegiersdorf , Freiburg usw. antreffen. Die Mädchen hausen dort vielfach in sogenannten Mädchenheimen, welche die Kasernen an Ungaftlichkeit noch weit übertreffen. Unter diesem großen Angebot von weiblichen Arbeitskräften sinkt natürlich der Lohn für die Frauenarbeit soweit herab, daß sich ein menschenwürdiges Dasein mit solchen Löhnen gar nicht mehr führen läßt. Am Montag früh sind die Züge mit Arbeitermädchen überladen, die sie für die Woche über in die Pesthöhlen der schlesischen Textilbarone entführen. Am Sonnabend kommen diese weiblichen Lohnsklaven dann wieder ins Elternhaus zurück. Die Löhne betragen vielfach nur 80, 90 Pf. bis 1 Mt., höchstens 1,30 Mt. Der Fluch tapitalistischer Aus­beutung lastet schwer auf der niederschlesischen Arbeiterschaft, ins,

besondere drückt er die proletarischen Frauen und Mädchen. Ein Bild von der sozialen Not in diesem Kreise kann man sich machen, wenn man hört, daß die Säuglingssterblichkeit fast doppelt so groß ist als im Reichsdurchschnitt. Von hundert neugeborenen Kindern sterben an Lebensschwäche hier im ersten Lebensjahr 84, währenddem im Reichsdurchschnitt nur 18 von hundert sterben. Diese Elendsziffern lassen einen Schluß zu auf die Ausbeutung und Ernährung der Mütter im besonderen und der Arbeiterschaft im allgemeinen. Natürlich sind auch die Wohnungsverhältnisse ganz schlecht; unsere niederschlesische Arbeiterschaft führt ein Leben, bas taum mehr erträglich ist.

Man merkt aber troß dieser tiefstehenden Lebenshaltung nichts von stummer Resignation und Verzweiflung. Im Gegenteil, unsere Arbeiterschaft befibt eine Jahrzehnte alte gewert

1 Siehe Die sozialen Ursachen der Frauenfrage", Seite 154.