Nr. 26

Die Gleichheit

lehnen einige linksfreifinnige Organe diese Sammlung selbst für Stichwahlen entschieden ab, weil sie richtig erkennen, daß sie nur auf die Erhaltung der schwarz- blauen Mehrheit hinausläuft. Je doch stellen diese Blätter gerade den Teil der Fortschrittspartel bar, der auf die Leitung der Partei gar keinen Einfluß hat. Der andere Zeil, der die Meinungen der fortschrittlichen Parteileitung und der Reichstagsfraktion widerspiegelt, hat sich vor einer Klipp und flaren Erklärung gehütet wie der Teufel vor dem Weihwaffer. Eine Meldung der Frankfurter Zeitung  " behauptete, der Reichs kanzler habe den Entschluß gefaßt, die Frage des Schutzolles zur Wahlparole zu machen im Jahre 1912 müssen die Handels. verträge erneuert werden, um die Roalition des Nationallibera lismus und des Fortschritts zu sprengen und die Nationalliberalen zum Anschluß an den schwarz- blauen Block zu zwingen. Da die Nationalliberalen entschiedene Anhänger des Bollwuchers find- so­wohl um der Großindustriellen wie der Groß- und Mittelbauern wegen, bie einen starken Teil ihrer Wählerschaft ausmachen-, so würde das Erempel foweit wohl stimmen. Indessen haben einige rechtsstehende Blätter doch einen Haken in diesem Plan gefunden -fie fürchten, daß die Massen der Wähler sich für die Parole der Lebensmittelverteuerung nicht recht erwärmen werden, und daß also trotz aller Sammlung eine antizöllnerische Mehrheit zustande tommen tönne. Mehr Erfolg scheint ihnen ein hurrapatrio tischer Rummel zu versprechen, eine fräftige Militär- oder Marinevorlage mit lautem Kriegsgefahrgefchrei, das die indiffe renten Spießbürger in Angst versehen und an die Wahlurne treiben foll. Es muß die Aufgabe der sozialdemokratischen Agitation sein, beide Wahlparolen unschädlich zu machen. Dabei darf nicht außer acht gelaffen werden, daß wir selbst vom sogenannten entschiebe nen Liberalismus" nur eine sehr unzuverlässige Seitendeckung haben werden. Der verkrachte konservativ- liberale Block hat dem Fort fchritt den letzten Rest seiner einstigen Gegnerschaft wider den Militarismus genommen. Er ist heute ebenso militär- und marine fromm wie Konservative und Zentrum. Etwas verläßlicher ist der Fortschritt auf dem Gebiet der Zollpolitik. Aber auch da hat der Abfall schon begonnen. Die Hilfe" des Pfarrers a. D. Naumann stellt sich auf die Seite der Agrarier, die gegen die Öffnung der Grenzen zur Linderung der Fleischnot protestieren. Der Wunsch des Fortschritts, mit den schußzölnerischen Nationalliberalen zusammen zubleiben, bringt sie mehr und mehr dahin, ihre Opposition gegen den Zollwucher abzuschwächen. Auch in diesem Kampfe wird sich die Sozialdemokratie nur auf sich selbst verlassent dürfen, und sie muß gewärtig sein, daß, selbst wenn die Handelsverträge in dem Mittel punkt des Wahlkampfes stehen würden, der Fortschritt bei den Stichwahlen ein sehr unzuverlässiger Rantonist sein tann. Bewährt er sich besser, als man nach allen Erfahrungen für wahrscheinlich setzen muß, so kann es der Sozialdemokratie natürlich durchaus recht sein. Ein gegen die Reaktion wirklich kämpfendes Bürgertum muß in solchem Kampf in der gleichen Schlachtlinie wie die Sozial demokratie stehen und wird diese eine Strecke Weges an seiner Seite finden. Es fragt sich aber, ob das deutsche Bürgertum über haupt solchen Kampf will.

Die Fleischnot zeigt uns inzwischen wieder einmal, daß die Herrschaft der Junfer für die große Masse des arbeitenden Volkes immer unerträglicher wird. Die beiden reaktionären Parteien der Ronservativen und Zentrümler erheben wütenden Protest gegen die Forderung auf Öffnung der Grenzen für Vieh und Fleisch, weil sie die Profite der Großgrundbefizer, der Gutsherren und Großbauern, nicht schmälern lassen wollen. Die Regierung Preußens und des Reiches ist mit ihnen natürlich in allen Stücken einig. Dabei ist die Not in einzelnen Teilen des Reiches schon so groß, daß selbst die zentrumsfromme und sonst stets stramm agrarische bayerische   Regierung bei der Reichsregierung für eine Offnung der Grenzen eintritt. Ohne Erfolg, denn dem Vertreter der Berliner  Fleischermeister hat der preußische Landwirtschaftsminister auf die gleiche Forderung ein entschiedenes Nein zu hören gegeben. Nach diesem erleuchteten Herrn wäre die Öffnung der Grenzen ganz zwecklos, weil im Ausland das Vieh auch knapp und teuer ist eine Behauptung, die durchaus nicht für alle Länder zutrifft, welche Deutschland   Vieh liefern könnten und die jedenfalls die Tatsache nicht aus der Welt schaffen kann, daß Deutschland   die höchsten Vieh- und Fleischpreise hat! Der Minister erklärte weiter, daß die geforderte Maßregel auch gefährlich für die Gesundheit des deutschen  Viehes und der deutschen   Fleischesser sei. Es handle fich um Schutz vor dem verseuchten Vieh des Auslandes. Dabei sind die Gesund heitsverhältnisse des Viehes und die tierärztliche Kontrolle in den meisten unserer Nachbarländer nicht schlechter als im Deutschen  Reiche. Für die Einfuhr von Rußland  , wo es in dieser Beziehung allerdings böse bestellt ist, ließen sich leicht wirksame Kontrollmaß

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regeln schaffen, die die Gefahr der Seuchenverschleppung bannen Die Einfuhr des wohlfeilen gefrorenen Fleisches aus Argentinien  und Australien   darf anscheinend dem deutschen   Volte aus Sorge um seine Gesundheit auch nicht erlaubt werden, obgleich man in England, Holland   und anderen Ländern noch niemals von schäd­lichen Einflüssen dieses Fleisches auf die Wolfsgesundheit gehört hat. Allerdings ist das gefrorene Fleisch nicht ganz so wohl schmeckend wie das Fleisch vom besten Mastvieh, das nicht mit Eis in Berührung tam. Aber die Herren Junker und Kommerzien räte werben ja nicht gezwungen, das gefrorene Fleisch zu essen. Den minder verwöhnten Gaumen großer Massen von Proletariern wird es immer noch besser behagen als das finnige Fleisch von ber Freibank oder das Pferde- und Hundefleisch, das jetzt in vielen Gegenden des Reiches sehr stark verbraucht wird. Es ist bezeichnend, baß der preußische Landwirtschaftsminister und das heißt in biefem Falle die preußische und die Reichsregierung sich mit den jämmerlichsten Gründen gegen jede wirksame Maßregel zur Linde­rung der Fleischnot sträubt, während in Österreich   bereits die Er laubnis zur Einführung wenigstens einer gewiffen Menge argenti nischen Fleisches in nahe Aussicht gestellt worden ist. Nirgends übt die Junterklasse so brutal und rücksichtslos ihre Herrschaft aus, nirgends wagt fle die Ausbeutung der Volksmassen so weit zu treiben und nirgends erleichtert ihr die Waschlappigkeit des Bürger tums ihr Treiben so sehr wie in Deutschland  , dem Land, das dank biefes Buftandes jezt die höchsten Lebensmittelpreise hat!

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Nirgends in aller Welt- Rußland vielleicht ausgenommen- wagt auch die herrschende Klasse so wie in Deutschland   ein mündiges Bolt immer aufs neue zu bütteln und herauszufordern. Wie eine Aufforderung an die Polizeibeamten, blutige Schlachten gegen das Bolt zu liefern, erscheint die Verleihung zahlreicher Orden an die Polizeibeamten der verschiedensten Städte, die sich bei den Wahlrechtsschlachten des verflossenen Winters und Frühjahrs ausgezeichnet" hatten. Der besondere Dant des Raisers für ihr tattvolles und entschiedenes" Verhalten ist ihnen ausgesprochen worden. Derweil wird ein sozialdemokratischer Redakteur, der Ges nosse Albert von der Breslauer Volkswacht", zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil er das Vorgehen der Waldenburger Polizei gegen eine friedliche Wahlrechtsdemonstration beim rechten Namen genannt hat. Er wird zu der hohen Strafe verurteilt trog ber gravierendsten Aussagen über die Taten der Polizei. Den ausländischen Genoffen, die auf einer internationalen Rund. gebung der Frankfurter   Sozialdemokratie reden, wird lächerlicherweise der Gebrauch ihrer Muttersprache verboten, und im benachbarten Hessen   verbietet gar die Behörde eine Versamm lung, die Protest erheben soll gegen den Aufenthalt des russischen Blutzaren auf deutschem Boden, in der hessischen Stadt Friedberg  , und verziert das Verbot mit einer Begründung, die sich wie blutiger Hohn auf das Vereinsgesetz lieft. Die beiden Maßregeln haben freilich nur ihre Urheber blamiert, denn sie haben die beiden Kundgebungen, die sie verhindern wollten, doch nicht aus der Welt schaffen können. Sie haben stattgefunden und sind großartig vers laufen, eine Tatsache, die indessen nicht den aufreizenden Eindruck der Maßnahmen vermindert.

In Griechenland   zeigen sich die ersten Anfänge sozialistischer Bewegung. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung wurden H. B. vier Männer gewählt, die sich als Sozialisten bezeichnen.

Gewerkschaftliche Rundschau.

Durch die Gewerkschaftsstatistik über die Lohnkämpfe im Jahre 1909 wird die Tatsache neuerlich erhärtet, die uns fura vorher die Statistik über die Gewerkschaftsbewegung gezeigt hatte: Das Jahr 1909 stand noch stark unter dem Einfluß der Krise; erst in der zweiten Hälfte des Jahres wich die wirtschaftliche Depreffion allmählich, während diese in den zwei ersten Quartalen noch ebenso schwer laftete wie im Jahre vorher. Natürlich standen die Lohn tämpfe im Zeichen dieser Tatsache. Aber trotz alledem wurde auch die allgemeine Wahrnehmung bestätigt, daß die Kämpfe zwischen Rapital und Arbeit an Intensivität zunehmen. Das geht zahlen­mäßig daraus hervor, daß die Lohnkämpfe des Jahres 1909 beinahe 6 Millionen Mark tosteten, das sind nahezu 1 Millionen mehr als im Jahre 1908. Mit einem Betrag von 45,22 Mt. pro Kopf der Beteiligten übertrifft das Jahr 1909 alle früheren Berichts­perioden. Die Erfolge der Bewegungen find jedoch im allgemeinen viel günstiger als im Jahre 1908. Bezeichnend ist, daß die Aus­Sperrungen nicht den großen Erfolg für das Unternehmertum gebracht haben, den dieses davon erwartet hat. Die Herren Kapitalisten haben nicht allein herzlich schlecht bei ihrer brutalen Scharfmacher­praxis abgeschnitten, sondern die Aussperrungen selbst haben eine