Nr. 3
21. Jahrgang
Die Gleichheit
Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen
Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder
Die Gleichbett erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jahres- Abonnement 2,60 Mart.
-
Inhaltsverzeichnis.
-
-
Die
Vom guten und bösen Willen. Von J. B. Die Beschlüsse der Reichsverficherungsordnungskommission in der ersten Lesung: I. Der Kreis der Versicherten. Von gh. Zwei Tagungen bürgerlicher Frauenrechtle Zwei Tagungen bürgerlicher Frauenrechtlerinnen. II. Scheidung der Ehe. II. Von Ernst Oberholzer. Arbeiterin in der Gewerkschaftsstatistik für 1909. Von R. S. Der Kampf auf den Seeschiffswerften, ein Warnungssignal für die deutsche Arbeiterklasse. Bon g. b. Das Arbeitsprogramm der österreichischen Genoffinnen. Von a. p.
-
-
-
-
Gewerkschaft
Aus der Bewegung: Von der Agitation. Bericht von der Frauenkonferenz des westlichen Westfalens. Bericht der Kinderschutz kommission für Mügeln Heidenau und Dohna . Vom Deutschen Sozialdemokratischen Leseklub Paris. Politische Rundschau. Von H. B. liche Rundschau. Bewegung in der Holzindustrie. Von fk. der Textilarbeiterbewegung. Bon h. j. Ein Sieg der weiblichen Kettenschmiede in England. Notizenteil: Dienstbotenfrage. Frauenstimmrecht. Verschiedenes.
-
-
Vom guten und bösen Willen.
-
Aus
Daß die Lage der Arbeiterklasse eine traurige und unerträgliche ist, wird heute von unseren Gegnern nicht mehr durch weg bestritten. Zwar gibt es im bürgerlichen Lager auch jetzt noch Leute, die für das wirtschaftliche Elend einfach blind sind. Hat doch sogar der bekannte Professor Delbrück , der im vorigen Jahre so tapfer gegen den Steuerbetrug der Reichen zu Felde zog, und von dem man somit nicht annehmen kann, daß er etwas sagt, was er selbst nicht glaubt hat doch sogar dieser anständige konservative Politiker es fertig bekommen, die Behauptung aufzustellen, daß im Deutschen Reich dank der sozialen Gesetzgebung das wirtschaftliche Elend so gut wie ausgerottet" sei! Mit solchen Leuten ist denn natürlich weiter nicht zu reden. Wer seine Augen mit Gewalt gegen das Licht der Tatsachen verschließt, den kann man nur bedauern. Im übrigen mehren sich aber auch im bürgerlichen Lager die Stimmen, die eine gründliche Besserung der Lage des Proletariats heischen, und wir besigen aus bürgerlicher Feder manch eindringliche Schilde rung der entsetzlichen Zustände, in denen der Arbeiter lebt. Daraus folgt, daß hier ein Unterschied zwischen proletarischer und bürgerlicher Dentweise noch nicht liegt. Man kann die ungeheure Not der Arbeiterklasse bedauern, man kann dringend ihre Beseitigung wünschen und braucht darum noch kein Sozialdemokrat, kein Klassenkämpfer zu sein.
Aber nun ist ja mit dem bloßen Bedauern nichts getan. Der denkende Mensch, der die Beseitigung des Elendes nicht bloß wünscht, sondern auch etwas dazu tun will, wird vor allen Dingen nach der Ursache fragen: Warum geht es denn den Arbeitern so schlecht? Wodurch ist das verschuldet? Sowie man aber nur diesen einen Schritt weiter tut, scheiden sich sofort die Wege der proletarischen und der bürgerlichen Anschauung. Der unbefangene Mensch, der sich diese Frage vorlegt, wird um die Antwort zunächst feineswegs verlegen sein. Den Arbeitern geht es schlecht, weil sie zu sehr ausgebeutet werden, und zwar von den Fabrikanten und Unternehmern, die sie beschäftigen. Daß die Unternehmer dies tun, liegt an ihrer Hart
Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.
herzigkeit, ihrem Eigennut, ihrer Selbstsucht. Jeder denkt nur an sich, nur an den eigenen Vorteil und nimmt feine Rück sicht auf andere. Also die Bösartigkeit, der böse Wille der Unternehmer, das wäre hiernach die wesentliche Ursache des Elendes der Arbeiter.
Dies ist in der Tat die einzige Antwort, welche die bürgerLichen Menschenfreunde auf die Frage nach der Ursache des wirtschaftlichen Elendes geben. Nur daß sie den Arbeitern ebensoviel Schuld zuschieben wie den Unternehmern. Auch die Arbeiter sind nach ihrer Meinung- eigennützig und selbstsüchtig, auch sie denken nur an sich und nehmen keine Rücksicht auf andere, auch sie stellen unerfüllbare" und" unberechtigte" Forderungen, und dieser gegenseitige böse Wille hat die traurigen Zustände geschaffen, die jetzt herrschen.
Diese einfache und scheinbar so selbstverständliche Erklärung erweist sich jedoch bei weiterer Überlegung als ganz und gar unzureichend. Wenn der böse Wille, die Selbstsucht der Men schen das Elend verschuldet haben, dann ergibt sich das Mittel der Abhilfe von selbst: man muß den Menschen die Selbstsucht austreiben; man muß dafür sorgen, daß jeder nicht nur an sich, sondern auch an andere denkt und auf die anderen Rücksicht nimmt. Wie kann das gemacht werden? Durch eine bessere Erziehung, die unseren Kindern von Jugend auf Rücksicht und Nächstenliebe angewöhnt, und durch gutes Zureden bei den Erwachsenen. Mit einem Wort also: durch Moralpredigen. -Und wirklich läuft darauf neben einigen Reformen oder wohl gar Wohltaten allein hinaus, was die bürgerlichen Menschenfreunde zur Linderung oder Beseitigung der Not vorzuschlagen wissen. Die Schilderungen des Arbeiterelendes, die wir aus bürgerlicher Feder besitzen, verfolgen fast ausnahmslos den Zweck, den Reichen ins Gewissen zu reden und dadurch eine Besserung herbeizuführen.
Das Mittel ist aber nicht neu, sondern wird schon sehr lange angewandt. Nicht erst seit heute und gestern wird massenhaft Moral gepredigt, sondern schon seit undenklichen Zeiten. Das ganze Christentum ist ja im Grunde nichts anderes als eine seit 2000 Jahren fortgesetzte Moralpredigt. Da sollte man doch meinen, wenn die Bosheit der Menschen wirklich schuld trägt am sozialen Elend, und wenn gegen diese Bosheit schon seit Jahrtausenden mit dem einzig wirksamen Mittel des Moralpredigens vorgegangen wird, da müßte man doch endlich einmal einen Erfolg sehen! Ja, da müßte eigent lich das Elend schon längst mit Stumpf und Stiel ausgerottet sein. Aber nichts davon ist zu merken. Namhafte Sachkenner behaupten sogar, daß es in den letzten Jahrhunderten noch bedeutend zugenommen habe. Mag dies nun auch eine offene Frage sein, so steht doch zweifellos fest, daß heute noch unnennbares Elend herrscht, trotz allem Moralpredigen.
Das muß stußig und mißtrauisch machen. Sollte da nicht vielleicht der ganze Gedankengang falsch sein, der die Ursache des Elendes im bösen Willen der Menschen sucht? Sollte nicht die Ursache vielleicht ganz anderswo liegen?
Wendet sich nun der Blick, durch dieses Mißtrauen geschärft, der Beobachtung der Dinge zu, wie sie wirklich sind, so findet