54 Die Gleichheit Nr. 4 beutung" in all den Ansirengungen, die man uns zumutete, dazu war jene Anschauungswelt noch viel zu lebendig in mir selbst. Erst nachher, als ich mich zu einer anderen Betrachtungsart durchge- kämpft hatte, ist es mir klar geworden, was man damals an uns gesündigt hat. Und mit Jammer denke ich jetzt daran, welcher Raubbau noch heute alle Tage an Tausenden von jungen weib­lichen Wesen getrieben wird. Ich bin wahrhaftig die letzte, zu behaupten, man dürfe nicht Opfer verlangen und andere zu freu­diger Opferwilligkeit erziehen, wo eine gute und grobe Sache ge­fördert werden soll. Aber hier liegen Schäden vor, die mit leichter Mühe gebessert werden könnten, sobald der Krankenpflege- beruf in richtiger Weise organisiert wäre; und die Vergeudung, die heute auf diesem Gebiet mit jungen, reichen Kräften getrieben wird, ist geradezu haarsträubend! Im ersten Krankenhaus, in dem ich arbeitete, hatten wir sozu­sagen von morgens b'/» Uhr bis abends um 9 Uhr Dienst. Es fand keine andere Unterbrechung statt als die paar Mahlzeiten; und diese waren als Erholung kaum anzusprechen, denn sie wurden gewöhnlich in aller Hast hinuntergeschlungen; zum Teil waren sie auch derart schlecht zubereitet, daß sie den Appetit nicht zu reizen und also auch die verbrauchten Kräfte nicht zu ersetzen vermochten. Früh um'/»6 Uhr mußten wir auf der Station antreten und gleich, mit nüchternem Magen, mit der ekelhaftesten Arbeit beginnen, die sich denken läßt: nämlich die Urin- und Speigläser auswaschen! Wie oft hat sich mir bei diesem Werke derMagen umgedreht" und durch energische Explosionen gegen solche Behandlnng rebel­liert. Leider immer vergeblich, denn die Oberschwester, der ich mein Leid zu klagen wagte, meinte nur lächelnd, daran würden wir uns schon gewöhnen! Um 6 Uhr gab es Frühstück für uns Schwe­stern. Übermüdet von der Last des vorigen Tages und ungestärkt durch ausreichenden Schlaf, schon in nervöser Hast im Gedanken an die nun folgende» arbeitsvollcn Stunde», war es uns fast allen nicht möglich, auch nur eine halbe Semmel zu verzehren; und der schlechte Kaffee, der uns kochend heiß aus den großen Kesseln in die Tassen geschöpft wurde, blieb meist stehen, da es an Zeit mangelte, ihn gehörig erkalten zu lassen. Frau Oberin und einige der älteren Schwestern, die sich besonderer Würde erfreuten, lagen unterdessen meist noch in den Federn und bekamen eine Stunde später ihren guten Kaffee, mit Semmeln und Butler zierlich ver­ziert, auf ihre Zimmer gebracht. Wenn wir eben glaubten, unsere Kaffeetassen zum Munde führen zu können, so erscholl der Ruf der Oberschwester, welche in Vertretung der Oberin die Morgenandacht zu halten hatte:Die Schwestern sind wohl fertig, damit wir die Andacht lesen können?" und sogleich begann auch die Verlesung aus dem uns wohlbekannten Buche, das täglich viermal an unserem Tische als Nachspeise erschien. Nach der Verlesung wurde ein freies Gebet von der leitenden Schwester gesprochen, währenddessen wir alle vor unseren Stühlen auf den Knien lagen. Dies Gebet be­nutzte die Schwester mit Vorliebe zur Entfaltung ihrer Beredsam­keit dem lieben Gott gegenüber, wir Schwestern hingegen zu einem nachträglichen kleinen Schläfchen. Das war gar so bequem, wenn wir den Kopf verstohlen in die auf den Sitz unseres Stuhles ge­stützten Arme legten. Hin und wieder ist es auch passiert, daß eine der jungen Schwestern während eines in die Länge gezogenen Ge­betes plötzlich aus tiefster Seele schnarchte; sie erhielt dann schleunigst «inen gelinden Rippenstoß von der mitfühlenden Nachbarin; und nie verriet nachher jemand von uns, wer die Schnarcherin ge­wesen war. Den ganzen Vormittag hindurch waren wir aufs äußerste an­gestrengt; und die Freude, welche die Arbeit gewiß oft hätte in hohem Maße bieten können, ist vielfach ertötet worden durch die unmenschliche Hast, in der sie stets vollführt werden mußte. Zum zweiten Frühstück um 19 Uhr gab es aufgewärmtes Gemüse vom Mittag vorher, das gehörig verdünnt worden war, so daß es aus Tassen getrunken wurde! Es ist dort das einzige Mal in meinem Leben gewesen, wo ich zum Beispiel Sauerkraut, Wirsing   und der­gleichen aus Tassen habe trinken müssen. Das schönste war, daß uns dazu kein Löffel gestattet wurde; das wäre Luxus gewesen, und Sparsamkeit in jeder Hinsicht war doch- unser vornehmstes Gebot. Jeden Vormittag von 11 bis 12 Uhr hatten wir Probeschwestern Religions- und Berufsunterricht beim Pfarrer. Dieser wurde mit größter Peinlichkeit und Strenge eingehalten, und ein Fehlen wegen zu viel Arbeit, großer Ermüdung oder schlechten Befindens fast niemals erlaubt. Viel wichtiger wäre es allerdings gewesen, man hätte uns mit gleicher Sorgfalt guten fachlichen Unterricht in Ana­tomie, Hygiene, Verbandlehre und ähnlichem zuteil werden lassen. Damit sah es aber mehr als traurig aus. Offiziell fand zwar in jedem Winter ein Kursus in diesen Fächern statt, der vom leiten­den Arzt der Anstalt erteilt werden sollte. Es sollten, glaube ich, zwei- oder dreimal wöchentlich während der Dauer von vier oder fünf Monaten abends Unterrichtsstunden sein. Während desjenigen Winters, da ich unterrichtspflichlig war, haben aber sage und schreibe! ganze zwei Stunden stattgefunden; und die eine der­selben mußte ich noch versäumen, da man mich, die ich noch gar nichts konnte, aus Mangel an Kräften in eine Privatpflege ge­schickt hatte! Ich stehe nicht an, zu sagen, daß es in vielen an­deren Krankenhäusern mit der Ausbildung der Schwestern besser bestellt ist als in dem, von dem ich eben rede. In den Diakoniffen- häusern aber war es bis vor ganz kurzer Zeit in dieser Hinsicht noch durchaus schlecht bestellt; und es ist geradezu ein Skandal, wie wenig geschult man die jungen Schwestern manchmal hinaus­sandte, in Privatpflegen, wo sie doch ganz auf sich selbst gestellt sind und der Leitung entbehren, die sie im Krankenhaus von seilen der älteren Schwestern immerhin haben. Ich selbst war bei meiner ersten Privatpflege wie verraten und verkauft. Im August einge­treten, hatte ich gleich zu Anfang sechs Wochen an einem gastrischen Fieber krank gelegen, dann acht oder neun Wochen, wie das so bei uns Sitte war, als Vorprobe im Küchendienst gearbeitet. In den letzten Tagen des November kam ich auf die Kinderstation, wo außer mir drei ältere Probeschwestern unter der Leiterin arbeiteten. Es war üblich, daß die jüngsten Probeschwestern immer zuerst hauptsächlich mit Zimmerputzen, Windelwaschen, Nachtgeschirre aus­gießen usw. beschäftigt wurden, aber noch nicht mit der eigentlichen Krankenpflege. So kain es, daß ich nach vierzehn Tagen noch nicht ein einziges Mal selbständig eine Temperaturmessung ausgeführt, vielmehr nur so beiläufig gesehen hatte, wie es die anderen machten. Wo das Fieber beginnt wie die Messungen an an­deren Körperstellen als in der Achselhöhle ausgeführt werden wie man sehr unruhige Kinder bei der Temperaturmessung zu be­handeln hat: davon hatte ich noch keine blasse Ahnung. Als die Leitung des Hauses um Mitte Dezember eine Privatpflegerin zu einem Kinde nach der Stadt schicken sollte und in großer Verlegen­heit war, da wählte man mich sicherlich nicht deswegen aus, weil ich schon etwas verstanden hätte. Man wählte mich vielleicht, weil ich ein ernstes, gesetztes Wesen hatte, und weil ich, aus einem so­genanntenguten Hause" stammend, den meisten anderen an Bil­dung voraus war. Ich mochte also nach außen hin den besten Eindruck machen. Wieviel ich dort in der Pflege leisten konnte, bei einem Kinde, das soeben eine schwere Diphtherie überstanden hatte und noch an ihren Folgen litt, das mag sich jeder selbst sagen; ebenso auch, wieviel ich hätte verderben und schaden können, wenn mir nicht gerade das Glück günstig gewesen wäre, so daß ich ohne böse Zwischenfälle jene Zeit beenden konnte. Wenn ich heute daran zurückdenke, muß ich über die Gewissenlosigkeit der Leiter den Kopf schütteln, die mich damals so unvorbereitet an einen verant­wortungsvollen Posten schickten.(Schluß folgt.) Kinderausbeutung auf dem Hohenwald. In der Ersten Kammer der badischen Landstände kam der bekannte Geheime Kommerzienrat Pfeilsticker auf die Un­stimmigkeiten zu sprechen, die zwischen der Handelskammer Konstanz   und dem Vorstand der badischen Fabrikinspektion be­stehen. Er bezog sich auf den Aufsatz einer ausgeschiedenen Assistentin der Fabrikinspektion über ihre Erhebungen betreffend dieHeimarbeit auf demHotzenwald und rügte insbesondere die Bemerkung, daß dasKnöpfeaufnähen der Fluch von über tausend badischcn Kindern sei, und daß an diesen Kartons Kindertränen und Kinderseufzer das Bindemittel seien". Er habe der Sache nachgeforscht und in Erfahrung gebracht, daß die betreffende Fabrik für das Knopfaufnähen in einem Jahre 100000 Mk. ausgegeben habe. Dabei sei dies eine Arbeit, die auf dem Hotzenwald hauptsächlich in den Wintcrmonaten ver­richtet werde.Jetzt," so fuhr der Herr Kommerzienrat fort, bei dem flaueren Geschäftsgang und zumal die in Frage stehende Fabrik die Absicht hat, überhaupt aus dem badischeu Laude wegzuziehen und nach Aachen   überzusiedeln, kommen be­trübliche Berichte von der Höhe des Hotzenwaldes, und es wird gejammert, man möchte doch diese Knöpfe wieder hinaus- schickeu, um der Bevölkerung während des Winters Beschäfti­gung zu geben." Ter Jahresbericht der Fabrikinspektion für 1909 läßt die Sachlage wesentlich anders erscheinen. Er führt aus, daß die Hausindustrie des Knöpscaufnähens vor 3 Jahren in 24 Ge-