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Die Gleichheit

wirklichen, so wendet sich Tolstoi von dem geschichtlichen Wege des Proletariats ab, verabscheut die Revolution und den Klassen fampf und predigt die innere Läuterung des Menschen durch die Lehren des Christentums:

Der von den Revolutionären   vorgeschlagene Ausweg, die Gewalt durch Gewalt zu bekämpfen, ist augenscheinlich unmög­lich. Die Regierungen, welche bereits über eine disziplinierte Gewalt verfügen, werden niemals die Bildung einer anderen ebenso disziplinierten Gewalt dulden. Alle Versuche des vorigen Jahrhunderts( Tolstoi   schreibt dies im Oktober 1900) zeigten, daß sie vergebens sind. Der Ausweg liegt auch nicht, wie einige Sozialisten glauben, darin, daß eine große wirtschaftliche Macht geschaffen werde, welche die gefestigte Macht der Kapitalisten be= fiegen könnte. Niemals werden die Arbeiterverbände, welche über einige Millionen verfügen, gegen die wirtschaftliche übermacht der Milliardäre, welche von der militärischen Gewalt unterstützt werden, lämpfen können. Ebensowenig ist der Ausweg möglich, welchen andere Sozialisten in der Gewinnung der Mehrheit des Parlaments sehen. Eine solche Parlamentsmehrheit wird nichts erreichen, solange das Heer in den Händen der Regierungen sein wird. Auch das Hineintragen von sozialistischen   Prin­zipien in das Heer wird nichts bewirken. Die Hypnotisierung des Heeres ist eine so geschickte, daß auch der freidenkendste und vernünftigste Mensch, solange er im Heere ist, immer das er­füllen wird, was von ihm verlangt wird.".

Welcher ist also der Ausweg? Die Verweigerung des Kriegs­dienstes, noch bevor man unter den betäubenden Einfluß der Disziplin verfallen ist" und-

,, die eigene persönliche Vervollkommnung, das heißt die Er­setzung der eigenen egoistischen Bestrebungen durch das den anderen Menschen liebevolle Dienen, wie es im Evangelium heißt und worin auch der Sinn des Gesetzes und der Propheten besteht: handle den anderen gegenüber so, wie du willst, daß man dir gegenüber handle."

Der kirchliche Bannfluch, der den einzigen wahren Christen in Rußland   nach dem Erscheinen der Auferstehung" getroffen hat, und das ehrende Verbot der Seelenmessen für den Ver­storbenen beweisen genug, wie wenig das Christentum Tolstois mit der offiziellen Kirche zu tun hat, die in Rußland   noch deut­licher wie anderwärts bloß eine geistliche Abteilung der Gen­darmerie ist. Doch tritt ein reaktionärer Zug in der christ­lichen Predigt" Tolstois deutlich hervor, und dieser reaktionäre Bug hängt aufs engste zusammen mit dem eigentlichen schwachen Punkt in der ganzen sozialen Analyse Tolstois: er zerpflückte und verdammte die bestehende Gesellschaft vom Standpunkt der Moral, der Gerechtigkeit, der Liebe zum Volfe, ohne für die historische Berechtigung dieser Gesellschaft Verständnis zu haben, aus der sich auch die geschichtlichen Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus durch den Klassenkampf mit Notwendigkeit er­geben. So ist Tolstoi   in den Ausgangspunkten seiner genialen Kritik wie in seinen Schlußfolgerungen reiner Idealist, auch darin wesensgleich und ebenbürtig den großen sozialistischen  Utopiſten am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, Fourier, Saint- Simon   und Owen.

Freilich, die großen Drei standen erst an der Wiege der fapitalistischen Entwicklung, Tolstoi   starb zur Zeit der krassen Außerungen ihres Verfalls und ihres nahenden Endes. Allein die Umstände seines Lebens erklären zur Genüge die Geistes­richtung, die für sein Leben ausschlaggebend geworden ist. Ge­boren und gereift in dem leibeigenen Rußland Nikolaus' I., war er in seinem Mannesalter Zeuge des Bankrotts erst der schwachen liberalen Bewegung der sechziger Jahre, dann der revolutionären Bewegung der sozialistischen   Intelligenz in den siebziger und achtziger Jahren, um erst im Greiſenalter die Anfänge des proletarischen Klassenkampfes und kurz vor dem Tode die Revolution zu erleben. Was Wunder, daß ihm die historische Wirkung der rapiden kapitalistischen   Entwicklung Ruß lands mit ihrer märchenhaften Machtentfaltung des städtischen Proletariats ein unbegreifliches Phänomen und der altgläubige duldende Bauer der Vertreter des russischen Volkes geblieben ist! Haben doch gar viele durch das westeuropäische Leben ge­Schulte Sozialdemokraten für die russische Revolution und nament­lich für die Aktion der Arbeiterklasse darin kein Verständnis

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aufzubringen vermocht; hat doch jetzt noch die Niederlage der Revolution genügt, um bei vielen deutschen Sozialdemokraten den Glauben an ihre Möglichkeit und ihren Sieg wieder zu erschüttern. Tolstoi hat nie die Sozialdemokratie begriffen und glaubte seine einzigen wahren Jünger in einer armseligen Bauernsekte der Duchoborzen gefunden zu haben, die durch ihre erzwungene Auswanderung nach Amerika   die Wurzellosig feit der Tolstoischen Lehren in tragischer Weise dem Greise vor die Augen geführt hat.

Wenn aber die ethische Propaganda Tolstois und seine schroffe Verurteilung des Klassenkampfes und der Revolution im zarischen Rußland   ihre reaktionäre Seite hatten, so sorgte gerade dieselbe historische Entwicklung, die Tolstoi verkannte, dafür, daß von seinen Lehren die Schlacken des christlichen In­dividualismus ungenutzt und unschädlich verfümmern, während das pure Gold seiner großen sozialen Gedanken in die Schatz­kammer des modernen geistigen Lebens aufgenommen wurde. Die Propaganda Tolstois hat eine Zeitlang ein paar Dutzend Studenten zu wunderlichen Einfällen verleitet, seine machtvolle Kritik aber gekleidet in geniale Kunstwerke weckte in Hundert­tausenden von Herzen und Köpfen den Gedanken, den Funken des bewußten Lebens und die Liebe für die Massen der Ent­erbten. Sein Lebenswerk ist ein Stück Kultur, und die klassen­bewußte Arbeiterschaft, die künftige Erbin der Kultur, senkt ihre Fahnen mit Dankbarkeit und Verehrung am Grabe des großen Künstlers und des großen Menschen, der in seiner Weise bis aufs Messer gegen die Ausbeutung und Unterdrückung kämpfte und bis zum Tode keine Kompromisse kannte. Rosa Luxemburg  .

Julie Bebel+

Es ist ein Leben voller Güte und Treue, das mit Julie Bebels leztem Atemzug erloschen ist. Außerlich schien es ganz eingeschlossen in den engen Kreis herkömmlicher weiblicher Fa­milienpflichten. Jedoch wie weitete es sich, wie wuchs es zu schlichter Größe für den empor, der über das Außerliche hin weg einen Blick in den Inhalt dieses Lebens tat. Denn mit dem Manne zusammen, dem Julie Bebel   fast ein halbes Jahr­hundert lang die verständnisvollste, aufopferungsfähigste Ge­fährtin gewesen ist, hatte sie auch die große Sache erkoren, der er sich ganz zu eigen gegeben hat. Die Heilsbotschaft des Sozialismus, die sie zuerst und immer wieder mit dem gleichen Feuer innerster Überzeugung aus seinem Munde gehört, be­hielt sie und bewegte sie in ihrem Herzen". In ihrem Herzen, das so warm, so mitfühlend mit allem menschlichen Leid schlug, in ihrem Herzen, das groß und start genug war, sich über das persönliche Erleben hinaus an dem proletarischen Befreiungs­kampf, an den hehrsten Menschheitsidealen zu erheben! In der Tat: wenn Julie Bebel   dem Vorkämpfer, dem Führer der Sozialdemokratie mehr sein konnte als ein vorbildlich sorgendes Hausmütterchen, eine Genossin seines Lebens und Strebens, wenn sie ihm verstehend in einer persönlichen Aufwärtsentwick lung ohnegleichen zur Seite zu bleiben vermochte: so hat sie die Kraft dazu sowohl aus ihrer Liebe für das reine, reiche Wesen des Mannes geschöpft wie aus ihrer Hingabe an die emportragenden Ideen des Sozialismus.

Die äußeren Umstände haben es ihr wahrhaftig nicht immer leicht gemacht, der inneren Stimme zu folgen. Julie Bebel   hat mit mancherlei bitteren Lebensnöten um das ringen müssen, was sie geworden ist. Als Tochter eines Bodenarbeiters an der Bahn, als Puhmacherin in einem größeren Geschäft hat sie jung, wenn auch nicht das schwarze Elend, so doch die Enge einer proletarischen Existenz kennen gelernt. Erst nach zweijähriger Brautschaft konnte ihr August sie 1866 heimführen, weil die Voraussetzung der geschäftlichen Selbständigkeit, die Naturalisation in Leipzig   dem Ausländer" aus Wetzlar   mehr fostete, als er sein eigen nannte, und schließlich doch noch mit Schuldenmachen erfolgen mußte. Vom ersten Tage ihrer Ghe an hatte Julie Bebel   die Sorgen und Miseren des Kleinhand­werkertums mit zu tragen, die noch durch die politische Betäti­