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Die Gleichheit

Es gibt ja so viele schöne Erzählungen christlicher Schriftsteller, wie zum Beispiel Funke, Fries, Frommel  , daß Sie in den wenigen Stunden, die Sie etwa für Lektüre frei haben, niemals in Ver­legenheit kommen können. Haben Sie einmal Lust, ein gutes Ge­dicht zu lesen, so ist auch hier vor den Klassikern für Sie zu warnen. Halten Sie sich an die vielen lieblichen geistlichen Lieder, an denen wir ja so reiche Schäße haben!"

Ich will mit diesen paar furzen Erinnerungen für heute schließen. Sie ließen sich leicht um das Zehnfache vermehren. Und immer würde das gleiche daraus klar werden: in vielen Anstalten ist in schmählicher Weise für das leibliche und geistige Wohl der Schwestern gesorgt, die hier ihre Kraft und Jugend zur Verfügung stellen. Es zeigt sich auch auf diesem Gebiet noch gar wenig Anstrengung, Wandel zu schaffen und die Mißstände abzuändern. In den Reihen der Schwestern selbst ist noch zu viel Gleichgültigkeit und Unwissen heit betreff des Schadens, den man ihnen antut. Jede Regung in dieser Richtung ist freudig zu begrüßen; in viel höherem Maße sollten Einzelheiten aus diesen Verhältnissen an die Öffentlichkeit gebracht und viel lauter sollte nach Abhilfe gerufen werden. Auch hier kann nur der Zusammenschluß der Ausgebeuteten helfen; die Befreiung von der Vormundschaft gewissenloser Unterdrücker muß burchgesetzt werden. Hannah Lewin- Dorsch.

Säuglingsernährung und Säuglings­ sterblichkeit. III  

.

Man könnte meinen, daß wir die größere Kindersterblichkeit bei Ernährung mit Kuhmilch in genügender Weise erklärt haben. Aber was heißt etwas erklären? Eine Erscheinung erklären, heißt sämtliche Tatsachen ausfindig machen, die dieser Erscheinung zugrunde liegen. Wollen wir die größere Kindersterblichkeit bei Ernährung mit Kuhmilch erklären, so müssen wir vorerst alle Tatsachen berücksichtigen, die von Einfluß auf die Kindersterblichkeit überhaupt sind, und dann diejenigen von ihnen heraussuchen, welche bei Ernährung mit Kuhmilch zu größerer Wirksamkeit gelangen fönnen.

Sehen wir zu. Wir wissen, daß die Sterblichkeit bei den Armen größer ist als bei den Reichen. Namentlich gilt das für die Kinder, besonders für die kleinsten von ihnen, für die hilflosen Säuglinge. Alle Schäden, an denen das Leben des Proletariers in gesundheitlicher Beziehung so reich ist, treffen mit vermehrter Kraft den Säugling. Man kann das aus Zahlen ersehen, die über die Kindersterblichkeit in verschiedenen Schichten der Bevölkerung vorliegen. Die Kindersterblichkeit in der ärmeren Bevölkerung, namentlich in Fabritarbeiterkreisen, ist zwei, drei-, ja viermal so hoch als in den Kreisen der Wohlhabenden!

Man kann nun einwenden, daß es nicht die Armut sei, die das Elend der Kindersterblichkeit hervorrufe: es sei der Unwille der Arbeiterfrauen zu stillen, der Unverstand der Massen", der immer herhalten muß, wenn es gilt, das Elend der Volks­maffen zu verleugnen und sie zu Nutz und Frommen der Herr schenden noch stärker in ihrer Lebenshaltung herabzudrücken. Doch ein solcher Einwand ist ganz unbegründet: es ist fest gestellt, daß die Zahl der stillenden Frauen unter den Armen höher ist als bei den Reichen. Eine ältere Statistik aus Berlin  ( 1895) besagt zum Beispiel, daß die Zahl der mit Muttermilch ernährten Kinder in den Familien der Armen ( Familien mit wenig Wohnräumen) beinahe fünfmal so hoch ist als bei den Reichen. Es werden von je hundert Kindern des ersten Lebensjahres ernährt mit Muttermilch:

In Familien mit 1 Wohnraum... 50 Kinder,

:

M

M

M

M

2 bis 3 Wohnräumen

45

M

.

M

4

M

6

=

25

M

7

V

10

#

11 und mehr=

13 10

*

Dasselbe besagen Zahlen aus anderen Städten.

* Mit der Wohlhabenheit nimmt natürlich die Zahl der Kinder zu, die Ammenmilch erhalten. Aber trotzdem wird bei den Wohlhabenden nicht die Zahl der Brustkinder erreicht, die wir bei den Armen antreffen. So be­trägt bei den höheren Stufen der Wohnungen die Zahl der Mutter brust­und Ammenkinder zusammen je 35 bis 37 von hundert Kindern.

Nr. 5

So find wir vor die Tatsache gestellt: die Kindersterblichkeit ist bei den Armen höher, trotzdem die Zahl der mit Mutter­milch ernährten Kinder bei den Armen höher ist als bei den Reichen. Es folgt daraus, daß die Lebensbedingungen des Proletariers die Kindersterblichkeit bei den Armen erhöhen.

Fragen wir uns nun, an welchen Krankheiten nament­lich die Kinder der Armen sterben? Darüber sind Zahlen in verschiedenen Städten gesammelt worden, und es hat sich heraus­gestellt, daß Todesfälle an Magen- und Darmkatarrh bei den Kindern der Armen sehr häufig, bei den Kindern der Reichen sehr selten sind. Dabei ist es sehr interessant, daß in vier unter­suchten Städten die Verhältnisse in dieser Beziehung ganz gleich­mäßig waren. Von hundert an Magen- und Darmkatarrh ge­storbenen Kindern des ersten Lebensjahres gehörten:

Zu den Notdürftigen

V

Armen

Zum Mittelstand.

Zu den Reichen

60 Kinder

36

=

4

M

4

V

Bei den Reichen sterben also nur sehr selten Kinder an Magen- und Darmkatarrh, trotzdem bei ihnen verhältnismäßig viel mehr Kinder mit Kuhmilch ernährt werden als bei den Armen.

Wir sehen also, daß die Lebensbedingungen des Proletariers die Sterblichkeit der Kinder erhöhen, und daß unter den Todes­fällen die an Magen- und Darmkatarrh eine bedeutende Rolle spielen dieselben Krankheiten, an denen, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, namentlich Flaschenkinder zugrunde gehen. Dabei ist die Zahl der Flaschenfinder bei den Armen verhältnismäßig geringer als bei den Reichen! Es folgt aus all diesen Tatsachen, daß die Ernährung mit Kuhmilch für die Armen noch ihre besonderen Schäden haben muß, die für die Kinder der Reichen nicht in Betracht kommen, und daß diese besonderen Schäden in den Lebensbedingungen des Proletariats zu suchen sind.

Eine Wanderung

Dr. A. Lipsius.

durch die Weltausstellung in Brüssel  .

II.

# 1

Bisher sahen wir die Frau mehr hinter als auf der Welt­ausstellung, das heißt wir erkannten an den zur Schau ge­stellten Waren die fleißige und geschickte Mitwirkung der Frau im Produktionsprozeß aller Länder und aller Industrien. Unser geistiges Auge erblickte sie in den staubgeschwängerten Sälen von heimischen Spinnereien und Webereien, in den Fabriken für Herstellung von Spielwaren, Musikinstrumenten, buchgewerb­lichen Erzeugnissen, feincren Metallwaren, furz überall, wo Waren erzeugt werden. Aber die Brüsseler   Weltausstellung zeigt uns die Frau auch näher. Da hat Belgien   ein Palais des travaux feminins errichtet, einen Palast der weib, lichen Arbeiten". Hier sind Frauen und Mädchen in allen Arbeiten tätig, die als speziell weibliche bezeichnet werden. Im lichten, luftigen Saale fißen sie da bei kunstvollen Sticke reien, beim Nähen von Hüten, als Modiftinnen, als Spitzen­flöpplerinnen, bei Buchbinderarbeiten, bei der Posamenten­fabrikation, beim Teppichsticken, als Handschuhnäherinnen, bei Kartonnagearbeiten, bei der Fabrikation fünstlicher Blumen, bei Tapisserien, bei der Zigarren- und Zigarettenfabrikation, bei der Renovierung gebrauchter Gegenstände aller Art; kurz in allen den verschiedenen Heim- und Fabrikarbeiten, an denen die Frau hervorragend beteiligt ist.

Das sieht sich so lieblich an. Munter, leicht und unge­zwungen werden die Arbeiten verrichtet; kein Aufpasser steht hinter den Arbeiterinnen; faum sechs Stunden täglich dauert die Arbeit. In schmucker Kleidung sizen oder stehen die Ar­beitenden da. Und wollen sie ausruhen, hindert sie niemand daran. Munter plätschert das Brünnlein lustiger Rede von Tisch zu Tisch. Es muß das reine Vergnügen sein, eine wahre Erholung für Leib und Seele, solche Arbeit zu verrichten. Wie können die Hetzer nur über das Elend von Heimarbeit Lügen