Nr. 5

Die Gleichheit

verbreiten! Hier sieht man es ja, daß solche Arbeit eine Freude, eine Erquickung für Frau und Mädchen bedeutet. Und sie unterhalten sich leutselig mit den Arbeiterinnen, die feudalen Herren und vornehmen Damen, die das Palais der weiblichen Arbeiten" besuchen, und das superbe" und ma­gnifique" der Franzosen   und Französinnen wechselt ab mit dem ,, wonderful" der Engländer und Engländerinnen und dem reizend", prächtig"," großartig" der Deutschen  . Ach, es ist doch viel Schwindel bei solch einer Ausstellung. Wenn die weibliche Heim- und Fabrikarbeit so wäre, wie sie sich hier vor­stellt, dann könnte man sie sich schon eher gefallen lassen. Aber so ist sie eben nicht. Vor mehreren Jahren haben die deutschen Gewerkschaften in Berlin   ein wahres Bild über Art und Wesen der Heimarbeit ausgestellt, und das war erschrecklich düfter und traurig. Auch in London  , Amsterdam  , Zürich   haben solche der Wahrheit entsprechende Ausstellungen über die Heim­arbeit in England, Holland  , der Schweiz   stattgefunden, und sie ergaben dasselbe Unmaß von Elend und gesundheitlicher Zer rüttung der an sie gefesselten weiblichen Arbeitssklaven.

Auch Brüssel, das sei dem Komitee zu Dank nachgesagt, bietet in seiner Weltausstellung außer dem Palast der weib­lichen Arbeiten" uns noch ein unverfälschtes Bild über bel gische Heimarbeit. Es ist das erstemal, daß man das auf einer Weltausstellung gewagt hat. Weder in Wien   1873, noch auf den Weltausstellungen in Paris   1889 und 1900 habe ich gleiches gesehen. Freilich nicht inmitten des Schaugepränges, sondern in der äußersten östlichen Ecke befindet sich der Elendswinkel; wohl kaum der zwanzigste Teil aller Besucher verirrt sich hier­her. Schon das Plakat, das uns auf diesen verlorenen Teil hinweist, ist glücklich entworfen. Auf dem Plakat ist eine ab­gerackerte, vergrämte alte Spitzenklöpplerin abgebildet, deren müdes Auge durch eine großglasige Brille mit Stahlfassung blickt, und deren fleischlosen Hände uns von lebenslangem Hunger erzählen. Kleine, verfallene Häuschen verkriechen sich unter den Büschen. So trifft man sie in den entlegenen Dörf chen Flanderns   und im wallonischen Teile der Ardennen. Wir treten ein, gebückt, weil die Tür zu niedrig ist. Das ganze Innere bildet einen Raum; an Stelle der Wände teilt eine dünne Strohmatte ihn in zwei ungleiche Hälften. Vergebens suchst du irgend eine Bequemlichkeit, einen Zierat. Der Tisch faum gehobelt; rohe Schemel als Stühle; eine Betttiste muß der ganzen Familie als Nachtlager dienen; wer nicht Platz findet, bettet sich daneben auf Stroh, das auf den ungedielten Lehmboden gestreut ist. Und in diesem Raum müssen tags­über alle arbeiten, Mann, Frau, Kinder. Ein widerlicher, atembeklemmender Geruch strömt aus dem Wollballen entgegen, dessen Bestandteile von der Frau dort oder ist's ein Mäd­oder ist's ein Mäd­chen? man kann es nicht unterscheiden- zerzupft und sortiert werden. Diese Arbeit verrichtet die Arme tagaus tagein. Und wenn sie vom frühesten Morgen bis zur sinkenden Nacht eine Woche lang sich abgequält, sich kaum Zeit zum Essen genom­men hat, dann mag sie 3 Mt. verdient haben, 2,40 Mt. oder auch weniger. Sie braucht sich keine Zeit zum Essen zu nehmen, denn sie hat nichts zu essen. Diese Heimarbeiterin hüstelt. Wie lange noch?

Dort ist eine Strohslechterin bei der Arbeit. Sie hat im Vergleich zu ihrer Nachbarin ein königliches Einkommen: 6 Fr. wöchentlich( 4,80 Mt.). Die hat leicht fröhlich sein! Auch eine Weißnäherin und eine Handschuhmacherin sitzen in ihrem trau rigen Stübchen. Sie nähen und nähen Stich um Stich, Faden um Faden; aber ihr Leben wird eher ein Ende nehmen als ihre Freudlosigkeit. Harte Entsagung und erloschene Hoffnung fünden Wangen und Auge.

Auch männliche Heimarbeit wird ohne Beschönigung ge­zeigt: vom Flickschuster, vom Korbflechter, vom Tischler, vom Schneider. Diese alle bewohnen gemeinsam ein Haus, das in einzelne Gelasse geteilt ist, die nach innen zu offen sind, so daß man sechs, acht Heimarbeiterhäuser sozusagen auf einen Blick überschauen kann, da die Vorderwände dieser Häuschen fehlen. Der eine hat sein Heim mit einem Marienbild oder einem Kruzifig geschmückt. Er ist gläubiger Katholik. Der andere hat ein

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Napoleonbild oder seinen König an die Wand gehängt. Der dritte setzt seine Hoffnung auf den Sozialismus: sein Zimmer" wird durch das Bild Anseeles oder anderer sozialistischer Führer geschmückt, das er aus einer Zeitschrift geschnitten hat, um es immer vor Augen zu haben. Trostlos ist der Eindruck, den eine kleine Dorfschmiede hinterläßt. Der Schmied schlägt emsig mit seinem großen Hammer auf das glühende Stück Eisen, das er von Zeit zu Zeit ins offene Feuer auf seinem Herde hält, um ihm endlich die gewünschte Form geben zu können. Das Gebläse wird in Gang gehalten durch ein Rad, in dessen Ge häuse ein mittelgroßer Hund gesperrt ist. Der arme Köter muß unaufhörlich das Rad treten und kommt doch nicht von der Stelle. Er hat sich offenbar in sein Schicksal stumpf ergeben. Die Zunge hängt ihm aus dem Rachen, aber er muß treten und treten, bis die Arbeit fertig ist und der Schmied ihn her­ausläßt. Wenn er so stundenlang im gleichen Schritt im Rade trotten muß und er draußen andere Hunde frei herumlaufen und miteinander spielen sieht, ob ihm dann wohl die läster­liche Empfindung aufsteigt, warum denn gerade er verurteilt sein soll, sein Lebtag im Tretrad zu stecken? Er mag sich trösten. Auch unter den Hunden gibt es Proletarier und im Überfluß lebende Nichtstuer. Und der Schmied? Sein ausdrucksloses Gesicht läßt vermuten, daß er ohne jede Erregung sein Weib oder sein Kind in das Tretrad sperren würde, wenn der Hund ihm trepiert. Der Blasebalg muß das Schmiedefeuer schüren. Das ist die Hauptsache. Macht's der Hund nicht mehr, so mag's die Frau tun oder das Kind. Ihm gilt das gleich.

Die Hilflosigkeit des Klein- und Zwergbetriebs gegenüber der Großindustrie und die zwecklose Kraftverschwendung beim Kleinhandwerk treten selten so klar vor das Auge, als wenn man soeben die gewaltigen Maschinenhallen besucht hat und dann unvermittelt an diese Stelle des verlassenen Elends ge­langt ist. Was der Schmied, der Tischler, der Schneider in einer ganzen Woche zustande bringen, hätte mit den vorhan­denen Hilfsmitteln der Technik in wenigen Stunden gefertigt werden können. Auch sie, die hilflosen Kleinhandwerker, die vielfach noch in uns Sozialdemokraten die Vernichter ihrer eine Existenz wirtschaftlich selbständigen Existenz erblicken übrigens, die sie in Wirklichkeit gar nicht haben werden uns als ihren Errettern und Befreiern dankbar sein, wenn erst die heutige Produktions- und Besitzordnung beseitigt sein wird, die Männer wie Frauen zum freudeleeren Dasein verdammt.

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In der Abteilung für Erziehung und Unterricht tritt die Frauenarbeit wiederum deutlich hervor. Deutschland  , Belgien  und Holland   haben diesem Zweige des Ausstellungswesens be sondere Sorgfalt gewidmet. Vor allem ist die deutsche Unter­richtshalle gar prächtig herausgeputzt worden. Auch hier viel falscher Schein! Wie in der Wirklichkeit die Heimarbeit absticht vom Palast der weiblichen Arbeiten", so unterscheidet sich die durchschnittliche deutsche Landschule, namentlich die ostpreußische, von den gefälligen, nach allen Regeln der Pädagogik und Hygiene eingerichteten Klassenräumen, die hier zur Schau stehen. Welche Landschule hat alle die Anschauungsmittel, die dem Lehrer das Lehren, dem Schüler das Lernen erleichtern, wie sie hier in erstaunlicher Schönheit und Mannigfaltigkeit zu sehen sind? In welchem Dorfe gibt es einen Kindergarten mit gut vor gebildeten Lehrerinnen wie hier? Vor allem ist auch nicht mit ausgestellt der finstere Geist des Gewissenszwanges und des hurrapatriotischen Drills, der auf der deutschen   Volksschule lastet. Unendlich viele Schülerarbeiten aller Art sind ausgelegt; aber vergeblich sucht man unter den zahlreichen Tabellen nach einer, die dem Beschauer zeigt, ein wie unsinnig hoher Prozentsatz aller Unterrichtsstunden auf religiöse Einpauferei fällt und das, was drum und dran hängt. Was nutzt am Ende alle die äußere Mache, wenn die Kinder des Volkes systematisch zu geistigen Kastraten erzogen werden?

Keinen Teil der deutschen   Ausstellung habe ich so unbefriedigt verlassen wie den für Unterricht und Erziehung. Gerade weil hier der Staat ohne weiteres durchgreifend bessern könnte, wenn er nur wollte, fällt der Reklameschwindel, der in Brüssel   mit dem deutschen   Volksschulwesen getrieben wird, auf die Nerven.