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Die Gleichheit

rungen der Bevölkerung erfüllt werden, weil das Vieh des Aus­landes durchgehend verseucht ist und den deutschen   Viehbestand gefährden würde, und weil das sämtliche ausländische Fleisch gesund­heitsgefährlich ist obgleich es in England ohne Schaden für die Gesundheit der Engländer seit Jahrzehnten gegessen wird. Außer dem aber, erklärt die Regierung, ist das Vieh und Fleisch im Ausland selbst so knapp und teuer, daß alle Grenzöffnungen und Einfuhrerleichterungen nichts helfen würden. Das ist wieder ein Schwindel. Zwar haben die Preise in der ganzen Welt an­gezogen, was eine Folge der kapitalistischen   Wirtschaftsweise ist, in der die Landwirtschaft in rückständigen Methoden stecken bleibt und daher den Bedarf der immer mehr anwachsenden städtischen industriellen Bevölkerung nicht zu decken vermag, wozu noch die tünstliche Verteuerung der Lebensbedürfnisse durch Kartelle und Trusts fommt. Aber Deutschland   hat doch dank seiner Grenzsperren und Wucherzölle die höchsten Fleischpreise und könnte immer noch große Mengen Vieh und Fleisch aus dem Ausland erhalten. Aber was kümmert die Regierungsvertreter die Jämmerlichkeit ihrer Gründe; fie brauchen ja eigentlich überhaupt keine, denn sie haben die Mehrheit des Reichstags ja auf alle Fälle hinter sich. Die Konservativen, das Zentrum, die Nationalliberalen, die Antisemiten und die Polen   bilden die agrarische Phalang, die für die Interessen der Junker und Großbauern ficht und die Stellung der Regierung deckt. Das haben die dreitägigen Verhandlungen über die Inter­pellationen deutlich genug gezeigt. Die einzigen Parteien, die das System der Grenzsperren und der Wucherzölle angriffen, waren die Sozialdemokraten, für die die Genossen Emmel und Hilden  brand sprachen, und die Freisinnigen. Ganz wohl ist allerdings den anderen Parteien die Junker selber, die Konservativen natür lich ausgenommen bei der Sache nicht. Das ließ sich zum Bei­spiel an den Reden des Zentrumsabgeordneten Trimborn, des Nationalliberalen Paasche   und des Polen   Fürst Radziwill er tennen. Ihre Parteien fürchten die Wirkung der Teuerung und ihrer Teuerungspolitik auf die Arbeiter und kleinen Leute, und so tanzte denn Herr Trimborn, der Vertreter der Stadt Köln  , einen verzweifelten Giertanz, indem er einerseits die Grenzsperr und Wucherzollpolitik verteidigte, andererseits aber um der rheinischen Bevölkerung willen die Öffnung der holländischen Grenze empfahl. Bedeutung hat das weiter nicht, denn die Rede des ersten Zentrums­sprechers Herold war eine echte agrarische und der Giertanz Trim­borns ist nichts als ein auf die Arbeiter und den Mittelstand be­rechnetes Schaustück, das Zentrum wirft als Ganzes weiter neben den Junkern als die zuverlässigste Stüße der Wucher- und Ver­teuerungspolitik. Die aber wird weitergehen, solange die agrarische Mehrheit im Reichstag herrscht. Herr Delbrück   sprach die Hoff nung aus, daß sie auch nach den Wahlen wiederkehren werde- an den Wählern ist es, diese Hoffnung zuschanden zu machen.

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Die Interpellation über die Königsberger Kaiserrede, die an einem Tage erledigt wurde, zeigte dieselbe Parteigruppierung, mit dem alleinigen Unterschied, daß die Nationalliberalen eine Bwitterstellung einzunehmen versuchten. Die Sozialdemokratie war die einzige Partei, deren Redner mit rücksichtsloser Schärfe gegen die absolutistischen Gelüste und Reden des Kaisers vorging. Von den bürgerlichen Parteien wagte es nur der Fortschritt, einen ge­mäßigten Protest zu erheben. Der nationalliberale Redner Basser­mann befleißigte sich einer schmählichen Schaufelpolitif. Die schänd­lichste Rolle aber spielte das Zentrum. Derselbe Redner, der im Jahre 1908 bei den Novemberdebatten in scharfen Wendungen unter Hinweis auf die Stuarts   und Ludwig XIV.   das Selbstherrschertum verurteilt hatte, machte jetzt den Kotau vor dem Absolutismus, ver­leugnete seine eigene Rede vom Jahre 1908 und trieb die Scham­losigkeit so weit, daß er die Novemberdebatten einen sehr beklagens­werten Borgang" nannte. So gibt das Zentrum Volksrechte, Grund­säße und Würde unbedenklich preis, um den Bund mit den Kon­servativen immer fester zu gestalten und Regierungspartei zu bleiben. Es zeigte sich, daß fast alle bürgerlichen Parteien- auch im Fort­schritt gibt es unsichere Kantonisten den Kampf gegen den Ab­solutismus, den sie 1908 feierlich aufzunehmen gelobten, gänzlich aufgegeben haben. Sie erhoffen von der starken Krone die Rettung vor dem Volkszorn, der bei den Wahlen wider sie losbrechen wird. Die Schwarzblauen rechnen zudem darauf, daß das Instrument des Himmels ihr Instrument sein wird. Der Reichstanzler hat sich jedenfalls die Zufriedenheit der Mehrheit und die seines Herrn mit einer Rede erworben. Zu Beginn bestritt sie in einigen unflaren Wendungen absolutistische Wünsche des Kaisers, leugnete dann aber schlankweg das faiserliche Versprechen der größeren Zurückhaltung ab, das einst Bülow dem Reichstag überbrachte, und mündete zum Schluß in einer sehr deutlichen Verherrlichung des Absolutismus aus. Der konservative Führer v. Heydebrand erteilte dem brauch

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baren Instrument denn auch gnädigst eine gute Zensur. Freilich: die volle Zufriedenheit der Junker kann Bethmann Hollweg   nur erlangen, wenn er die Arbeiterbewegung durch ein neues Aus: nahmegesetz zu fnebeln unternimmt. Und ein solches Ausnahme­gesetz forderte v. Heydebrand gebieterisch vom Reichskanzler in einer tollen Scharfmacherrede.

Der große Moabiter Tendenzprozeß, den die Berliner  Staatsanwaltschaft nach dem Wunsche der Reaktion eingeleitet hat, wird ihr selbst nachgerade unheimlich. Obgleich erst kaum ein Zehntel des Riefenmaterials der Verteidigung vorgetragen ist, ist die Polizei schon aufs äußerste bloßgestellt. Es ist bereits eine Menge von brutalen Mißhandlungen vereinzelter friedlicher Straßen­passanten erwiesen, Mißhandlungen, an denen nicht nur die unteren Organe, sondern auch höhere, Wachtmeister und Polizeileutnants, teilgenommen, oder bei denen sie untätig zugeschaut haben. In feiner Verzweiflung über die Brandmarkung seiner Polizei hat sich der Polizeipräsident Herr v. Jagow zu einem Schritt verstiegen, der seine Notlage erst recht vor aller Welt aufdeckt. Er sucht per Annonce und Säulenanschlag polizeifromme Zeugen, die die Be­kundungen der Zeugen der Verteidigung wettmachen sollen! Er sucht Zeugen, die keine Sympathie mit den Aufrührern" verspürt haben, aber er will feine Zeugen, die Säbelhiebe, Püffe, Be schimpfungen von der Polizei ausgeteilt bekamen. Das heißt, er will durch Leute, die aus guter Gesinnung die Polizei herausreißen, die es doch wahr­die Wahrheit korrigieren" und die Richter

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lich nicht nötig haben, vor allem aber die Öffentlichkeit im Sinne der Polizei beeinflussen. Gleichzeitig geht das Regierungsblatt, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung", in unverschämter Weise gegen die Verteidigung los, beschuldigt sie wider besseres Wissen, den Prozeß zu einem politischen Tendenzprozeß zu machen- was be fanntlich die Staatsanwaltschaft getan hat, und spricht den Be­fundungen der Beugen, die die Polizei belasten, jede Beweiskraft ab. So gibt die Regierung durch das Sprachrohr ihres Blattes den unabhängigen" Richtern Direktiven und versucht, die Öffent­lichkeit über die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen zu täu­schen. In scharfem Kontrast zu der Zeugennot des Polizei­präsidiums steht die Tatsache, daß den Verteidigern täglich An­gebote von Zeugenaussagen gegen die Polizei zugehen, Angebote, die nicht nur aus der Arbeiterschaft und von Anhängern der Sozial­demokratie, sondern aus allen Bevölkerungskreisen und von Leuten jeder, auch konservativer Parteirichtung stammen, die empört sind über das Treiben der Polizei. Dabei hat die Verteidigung schon jetzt an 500 Zeugen für etwa 300 Fälle! Die Reaktion wird noch erkennen müssen, daß die Einleitung dieses Tendenzprozesses, der Material zur Vernichtung der Sozialdemokratie liefern sollte, eine Riesendummheit war.

Der Wahlsieg der Sozialisten in Amerika   reduziert sich, nach­dem die genaueren Meldungen vorliegen, auf die Wahl eines Ge nossen   in den Bundeskongreß; die beiden anderen als gewählt ge meldeten Sozialisten sind unterlegen; dem einen fehlten nur wenige Stimmen am Siege. Indes ändert diese Einschränkung nichts daran, daß die Wahlen ein erhebliches Anwachsen der Sozialdemokratie anzeigen; bei den Wahlen zu den Parlamenten der Einzelstaaten und anderen Körperschaften hat sie in mehreren Teilen des Landes sehr erfreuliche Gewinne an Mandaten und Stimmen erzielt.

In England stehen Neuwahlen vor der Tür. Die Liberalen wollen den Widerstand des aus erblichen Gesetzgebern bestehenden Oberhauses gegen seine Umwandlung in teilweise gewähltes Parla­ment durch einen Appell an die Wähler brechen. Die Wahlen werden aber zugleich ein Kampf für und wider den Freihandel beziehungsweise den Schutz" zoll sein. Die Arbeiterpartei steht in beiden Fragen auf der Seite der Liberalen, wenn sie auch in der Oberhausfrage weiter geht, das heißt die völlige Beseitigung dieses Hemmschuhs der Gesetzgebung fordert. Den Hauptwert aber muß sie darauf legen, die besonderen Forderungen der Arbeiterschaft durchzusetzen. Und da hapert's bei den Liberalen. Die liberale Regierung weigert sich, den Arbeitern die Aufhebung des Osborne­Urteils zu versprechen, das den Gewerkschaften die Verwendung ihrer Gelder für politische Zwecke, das heißt für die Arbeiterpartei verbietet und damit die Grundlage ihrer Existenz angreift. Die Regierung möchte sich mit halben Zugeständnissen Parlaments­diäten und dergleichen aus der Klemme ziehen, aber damit können H. B. die Arbeiter nicht zufrieden sein.

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Gewerkschaftliche Rundschau.

In welch strupelloser Weise das Leben der Arbeiter im Inter esse des kapitalistischen   Profites aufs Spiel gesetzt wird, davon geben einige sträfliche Unfitten in der Schiffahrt beredtes