Nr. 9

Ein Nachwort

Die Gleichheit

zu dem Prozeß der Mieltschiner Greuel.* Unseren Leserinnen ist aus der Tagespresse zur Genüge be­fannt geworden, daß der Prozeß gegen den Prügelpastor Breit­haupt und seine Gehilfen in eine Hölle hineingeleuchtet hat, wie sie schauriger die wildeste Phantasie kaum zu erdenken vermag. Einwandfrei, lückenlos stellen das die Bekundungen fest, die in dieser Beziehung in der zweiten Hälfte Dezember vor der Straffammer des Berliner Landgerichts gemacht wor den sind. An ihnen gibt es nichts zu drehen und zu deuteln, auch nicht für die, welche stets bei der Hand sind, wenn es gilt, die naturwüchsigen, unvermeidlichen Übel der bürgerlichen Gesellschaft zu leugnen oder zu beschönigen; auch nicht für die, welche vom Geiste sozialer Klassenordnung beherrscht das Prügeln als ein unentbehrliches Erziehungsmittel werten. Nicht eine Erziehungsanstalt, eine Hölle ist Mieltschin für die unglück lichen jungen Burschen gewesen, die von verhängnisvollen so­zialen Umständen oder von anormaler Veranlagung zu Lastern, zu Vergehen und zu Verbrechen gestoßen worden sind. Nicht Erzieher haben ihres Amtes an ihnen mit Einsicht und Liebe gewaltet, sondern unfähige, verständnislose Rohlinge und Schwächlinge, Schiffbrüchige der Lebensfahrt und glücksuchende gesellschaftliche Landsknechte vom Schlage Breithaupts; Leute, die selbst der Erziehung bedürften und von denen manche für immer an der Seele verpfuscht sind. Aber was sich da so er­schütternd, so fraß offenbart hat, sind nicht vereinzelte Aus­nahmeerscheinungen. Die Vorgänge von Mieltschin mit ihrem Um und Auf, ihr gerichtliches Nachspiel nicht zu vergessen, haben vielmehr in schärfster Weise typische Wesenszüge der Fürsorgeerziehung beleuchtet und den Blick darüber hinaus auf die letzten Ursachen des aufgerollten Frageknäuels gelenkt.

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Junge Burschen, deren Schwächen und Verfehlungen soweit sie sich nicht als Früchte einer verderbten und verderben­den Umwelt ausweisen offenbar als der Ausdruck geistiger oder sittlicher Minderwertigkeit erscheinen, werden zur Besserung einer Anstalt zugeführt, die noch unfertig aller und jeder Vor­forge für die erziehliche Einwirkung auf die Zöglinge ermangelt. Wohl gibt es Erbauungsstunden, Gottesdienst, Zwangsarbeit und auch geeignete Zeitungen", aber feinen Unterricht, feine Bibliothek. Und schlimmer noch: da sind keine Menschen, die erziehen könnten, die Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hätten und auch nur der Verantwortlichkeit klar bewußt wären, die Erziehung unter den doppelt und dreifach schwierigen Um­ständen zu leiten. Kein Mangel des geltenden Fürsorgesystems, feine Unzulänglichkeit der Anstalt kann durch das Empfinden und Verstehen der bestellten Erzieher" gemildert werden, ihre persönliche Unfähigkeit und Unwürdigkeit muß dagegen alle Ge­brechen des Systems und der Anstalt auf die äußerste Spitze treiben. Statt liebevoller, tiefdringender Beobachtung der ein zelnen Zöglinge durch sachkundige Pädagogen allgemeines De­nunziantentum; die individualisierende erzieherische Behandlung ersetzt durch das brutalste Strafsystem: durch Hunger, Fesselung mit Ketten, Arreſt in dunklen, kalten Löchern, wo die Gesund heit notleiden muß, und vor allem Prügel, 50, 75, 100, 200 Schläge mit dem Weichselstock, mit der Reitpeitsche, mit der doppelt zusammengedrehten Klopfpeitsche, mit so ziemlich jedem Gegenstand, der einem tobenden Wüterich in die Hand fällt. Das alles unter entsetzlichen Begleitumständen, die beim bloßen Nachlesen einen Schauder nach dem anderen über uns jagen, Prügel, die das Leben gefährden und das letzte Restchen Selbst achtung und menschliches Empfinden erschlagen müssen.

Die Kontrolle der nächsten aufsichtführenden Instanzen durch Pastor Matthies in erzieherischer Hinsicht, Dr. Boehnke als Arzt- geschieht nur auf dem Papier. Sie ist gerade

gründlich" genug, um einen angenehmen Eindruck" von der Anstalt und ihrem Leiter mitzunehmen. Ähnlich ist es mit der Revision durch die Beauftragten der Berliner Waisenverwal­tung beziehungsweise Stadtverwaltung bestellt, die ihrerseits für

Wegen Raummangel verspätet.

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die Zöglinge verantwortlich ist, die sie nach Mieltschin über wiesen hatte. Wie hätten diese Beauftragten eine peinliche,

tiefgreifende Sorgfamkeit betätigen sollen angesichts der Leicht­fertigkeit, um nicht zu sagen Gewissenlosigkeit, mit welcher die Berliner Stadtverwaltung einen Teil ihrer Fürsorgezöglinge von Lichtenberg nach Mieltschin abschob? Da ist ein Evange lischer Verein für Waisenpflege in den Ostmarken", der in Mieltschin eine Anstalt errichten möchte, durch die er die Ger­manisierungspolitik fördern will. Schon dieser wesensfremde Zweck müßte das Unternehmen von vornherein verdächtig machen oder mindestens ihm gegenüber zur äußersten Vorsicht mahnen. Die Stadtverwaltung Berlin aber schließt mit dem offenbar politisch sehr geschäftskundigen Verein einen Vertrag, der die Errichtung der Privatanstalt dadurch ermöglicht, daß er ihr auf zehn Jahre hinaus die überweisung von 100 bis 200 Bög­lingen sichert. Trotz der wiederholten nachdrücklichen Warnungen sozialdemokratischer Stadtverordneten überträgt sie die ihr selbst zustehende Aufsicht über die noch gar nicht vorhandene Institu tion dem besagten Verein und ihrem erst noch zu suchenden Leiter das Prügelrecht, wie es für die Lichtenberger Fürsorge­anstalt gilt. Es kommt, wie es unter den Umständen kommen muß. Und nun gesellt sich zu der Sorglosigkeit des Beginns die absichtliche Nichtbeachtung erwiesener scheußlicher Mißhand­lungen einzelner Zöglinge, das bewußte Widerstreben gegen das dringliche entschiedene Einschreiten. Erfolglos bleiben die beiden Versuche, die zur Untersuchung und Abstellung der Greuel ver­pflichtete Behörde aufzurufen. Der Vorwärts" muß vor der breitesten Offentlichkeit Anklage erheben, damit die Stadtver­waltung sich endlich auf ihre Pflicht besinnt, nicht ohne daß vorher die ihr ergebene Freisinnspresse die verdienstvolle Tat des sozialdemokratischen Organs mit Kübeln gehässiger Verdäch­tigungen überschüttet und die Aussagen der gefolterten Zöglinge als Lügen erklärt hätte. Der Schleier, der die Scheußlichkeiten deckte, sollte nicht gelüftet werden. Erscheint Magistratsrat Voigt, der Führer der mit Hängen und Würgen eingesetzten Untersuchungskommission, vor Gericht nicht mehr als Angeklagter, als moralisch Mitschuldiger, denn als Zeuge? Die Sozialdemo fratie muß in der Stadtverordnetenversammlung heiß und zäh dafür kämpfen, daß der Vertrag mit der Anstalt Mieltschin sofort gelöst wird.

Die Gerichte verschleppen den Prozeß gegen die Menschen­schinder Breithaupt und Kompanie 1% Jahre. Die Staats­anwaltschaft kommt auf Grund der Verhandlungen zu dem Schlusse, daß der Verkündiger von Gottes Wort " allein sich in 6 Fällen der gefährlichen Körperverlegung schuldig gemacht hat, in 19 Fällen der Anstiftung zu solcher und in 4 Fällen der Freiheitsberaubung; seine Gehilfen sind überführt, zusammen 43 mal Zöglinge so mißhandelt zu haben, daß deren Gesundheit bedroht war. Die Staatsanwaltschaft plädiert trotz allem von vornherein auf mildernde Umstände" wegen der Unfertigkeit der Anstalt und der persönlichen Untüchtigkeit und Untauglich­feit Breithaupts als Leiter; mildernde Umstände das wenn man will für die Angeklagten, schwerste Beschuldigungen jedenfalls gegen die Gründer der Anstalt und alle zu ihrer Aufsicht Berufenen. Sie proklamiert feierlich Prügel als ein durchaus brauchbares und manchmal ein durchaus erforderliches Erziehungsmittel". Schließlich bleibt der empörend milde Ur­teitsspruch mit acht Monaten Gefängnis und 990 Mr. Geld­strafe gegen Breithaupt noch hinter der milden Sühnungs­forderung der Staatsanwaltschaft von einem Jahre Gefängnis zurück. Und das, obgleich er in der Begründung die vorsätz liche und auch die gefährliche Körperverlegung anerkennen und zugeben muß, daß es sich zum mindesten bei der Verprügelung Mauthes zweifellos um eine das Leben gefährdende Körper­verlegung handelt".

Wie ist das alles möglich in einer Zeit, die sich mit ihrer Pädagogik, mit ihrem Rechtsgefühl, ihrer Humanität, ihrer Kultur und noch etlichem mehr brüstet? Um die Antwort kann nur verlegen sein, wer das Wesen der kapitalistischen Ordnung und ihre Begleiterscheinungen nicht kennt oder nicht kennen will. Der Fürsorgeerziehung, wie wir sie heute haben, ist das Brand­