Nr. 10
Die Gleichheit
gesamte gemeine Kriminalität, die aus der wirtschaftlichen Not oder Bedürftigkeit hervorgeht." Gedankengänge dieser Art führen Wulffen zu dem Schlusse, daß eine Abnahme der Geburten der Gesellschaft nicht schade, und daß dem Proletarier die Kon zeptionsverhütung ebensowenig zu verübeln sei, wie sie die Besitzenden ausüben".
"
Wulffen predigt übrigens der Arbeiterklasse nicht den Neus Malthusianismus als Allheilmittel, das dem Werte von sozialen Reformen gleichfäme. Er empfiehlt den einzelnen die Verhinde rung der Empfängnis als Mittel, besondere ungünstige Umstände zu überwinden.
Wulffen anerkennt durchaus die sozialen Wurzeln und Zus sammenhänge der heutigen Prostitution und bezeichnet diese als eine fapitalistische im engeren Sinne. Das Weib wird in den am meisten gefährdeten Stellen nicht so bezahlt, daß es seinen Lebensunterhalt bestreiten fönnte." Wirtschaftliche Not oder wenigstens Bedürftigkeit treiben viele der Prostitution, erst der heimlichen, dann der öffentlichen in die Arme. Angesichts dessen verlangt er:„ Wir müssen die Frauen, namentlich die der gefährdeten unteren Voltsschichten, zu sozialen Staats bürgern machen." Er fordert weiter, daß die industrielle und sonstige freie Frauenarbeit auskömmlicher zu lohnen sei. Die den Frauen zu bietende Gelegenheit zur besseren und voll tommensten geistigen Ausbildung hat die völlige, jetzt immer nur erst dem Scheine nach vorhandene soziale, wahrscheinlich auch politische, Gleichstellung des Weibes mit dem Manne zu erzielen, welche jenes verhindern soll, ihm als fäufliches, bloßes Sexualobjekt zu dienen."
"
Es ist nichts Neues, was Herr Dr. Wulffen sagt. Aber daß dieser emsige und anerkannte Forscher auf Grund eingehender wissenschaftlicher Untersuchungen und seinen Erfahrungen als Staatsanwalt zu solchen Resultaten kommt, verdient Bes achtung. Denn Wulffen stellt seine Forderungen auf, weil seiner ernsten Überzeugung nach durch ihre Verwirklichung den Sexual verbrechen gesteuert werden kann. Den Abschnitt über die Prostitution läßt dieser Staatsanwalt mit dieser Anflage gegen die heutige Gesellschaft austlingen: Das traurige Kapit.l der Pro stitution schließt aber auch das letzte Glied in der Kette einer anderen, jener furchtbaren sozialen Wahrheit. Der Proletarier schlägt im Kriege die Schlachten. Er bestellt im Frieden den Acker, baut die Straßen und Städte, schafft mit seiner Hand die Ware, die er auf Rädern und Schiffen über die Erde führt. In ruhelosem Zeugen und Gebären erneuern er und sein Weib stetig die martige Volfskraft. Mit den Leibern seiner Frauen und Töchter stillt er die sexuelle Unersättlichkeit der Männer seines Volkes. Und zum Lohne für alle Opfer und Entbehrungen trägt er überdies zum größten Teil ein moderner Atlas mit seinem Leibe und seiner Seele die Kriminalität seiner Nation!"
Es ist dies nichts anderes, als was in anderen Worten die Sozialdemokraten immer gesagt haben. Und da Wulffen auch im wesentlichen zu Forderungen kommt, die bisher fast nur von der Sozialdemokratie vertreten worden sind, so bestätigt dieser Staatsanwalt, daß gegen die Verbrechen im allgemeinen und bie Sexualverbrechen im besonderen nur angekämpft werden fann auf dem Wege, auf dem die Eozialdemokratie vorwärts schreitet und der über Reformen der heutigen Ordnung hinaus zur Verwirklichung der sozialistischen Ideale führt.
Bei den englischen Rettenmacherinnen.
Träge fährt der Zug an ärmlichen Fabrikdörfern, qualmen den Eisenwerken und pechschwarzen Zechen vorüber. Die städtische Wüstenei Birmingham liegt zwar schon längst hinter uns, aber die Trostlosigkeit der Gegend will nicht weichen. Menschen, Landschaft und Behausungen tragen die Naturfarbe des Fabril rauches. Die Sonne scheint den Versuch aufgegeben zu haben, die massive, drückende Qualmdecke zu durchdringen.
Bei der Einfahrt in die Stationen wird der Zug mit lautem, freudigem Hallo begrüßt. Ungewöhnlich reges Leben herrscht heute auf den Bahnhöfen. Die schmalen Bahnsteige sind mit
151
Bündeln, Koffern, Säcken und Hausgeräten überladen. Frauen jeglichen Alters mit Säuglingen in den Armen stehen schwatzend am Bahndamm; Jungen und Mädchen springen jubilierend zwischen den ausgestapelten Habseligkeiten herum. Trüge dieses Volf bunte Kleidung, wären die Gesichter nicht so schrecklich blaß, abgehärmt und blutleer, so fönnte man glauben, es seien galizische oder polnische Auswanderer, die vor der Einschiffung stehen.
„ Sind das Auswanderer?" fragte ich einen Mitreisenden. -Nein, sie fahren nur nach Worcester, aufs Land."- Zum Sommeraufenthalt?"" Nein, zum Hopfenpflücken."-„ Das wird wohl gut bezahlt?"- Eher noch schlechter als die Fabrifarbeit hier, aber die Leute gehen jedes Jahr und gerne dorthin, weil's die einzige Möglichkeit für sie ist, aufs Land hinauszukommen."
"
Nach fast einstündiger Fahrt meldet ein verräuchertes Brett: Cradley Heath. Der schwärzeste Punft des Schwarzen Landes" ist erreicht. Vom Bahnhof aus will es scheinen, als ob der Ort nicht so schlecht sei, wie ihn die Kunde malt. Die holprige, staubige Landstraße, die zum Dorfe führt, ist fast unbelebt, Masch nengetöse ist kaum zu hören, und nur wenig rauchende Schornsteine sind zu sehen. Aber diese Ruhe ist, wie ich gleich erjahren sollte, nur zufällig, zeitweilig: Es herrscht Streit in den Kettenschmieden!
-
Die englischen Fabrikstädte sind zum größten Teil äußerst schmutzige, scheußlich verräucherte Steinwüsten, unwiderlegliche Zeugen verbrecherischer Nachlässigkeit und Profitwut der herr schenden Klasse, beschämende Beweise der sträflichen Gleich gültigkeit der Arbeiterklasse. Ist Sheffield - der Hauptort der Metallwarenindustrie der Typus einer englischen Fabril stadt, so ist Cradley Heath der Typus eines Fabrikdorses: Zwei Reihen ein- oder zweistockige Backsteinbauten mit schmucklosen Kaufläden bilden die Hauptstraße. Auf Anstrich und dekorative Gestaltung der Fassaden dieser Häuser haben die Erbauer großmütig verzichtet. Den aus schlechtestem Material zusammen. gefügten Behausungen haben nur Wetter, Rauch und Zeit ihr Gepräge aufgedrückt. Hier und da unterscheidet sich ein Haus von seinen Nachbarn dadurch, daß seine Ecken und Eingänge noch mehr ausgebrochen und verschlissen sind als bei den übrigen. Und das ärmlich garnierte Innere des„ süßen Heims" hat der Reize auch nicht viele. Straßenniveau und Zimmerboden bilden eine Fläche. Die Engländer halten sich für die praktischsten Menschen von der Welt. Und daß sie damit nicht unrecht haben, fonnte ich in Chesterfield sehen. Dort ist zuweilen der Zimmerboden nur eine Verlängerung des Straßenpflasters.
In Cradley Heath erweitern sich die engen Seitengassen zu Back Yards, zu Hinterhösen, die eingefaßt sind von proleta rischen Behausungen. In der Mitte stehen kleine, windschiefe, oft halbzerfallene oder in den Boden hineingesunkene Buden mit spigem Giebeldach: die Kettenschmieden. Diese Schmieden mieten die Arbeiter mit ihrer Wohnung( oder getrennt) von einem Zwischenmeister oder Unternehmer. Hohe Aschenhausen umgeben die Kettenschmieden wie Bollwerke und dienen der jungen Brut der Kettenmacherinnen als Spielplatz. Die Höfe sind mit Unrat und Schlackenhausen überladen. Während die Mutter oder Schwester nebenan in äußerster Hast hämmert, schweißt und den Blasebalg zieht, sitzen die Kinderchen auf dem Unrathausen schreiend und spielend, oder sie probieren den Ge schmack der Schlacken und wühlen sich immer tiefer in die Aschenhausen hinein. Das Auge der Mutter wacht hinter den vergitterten Fensteröffnungen. Selten jedoch nimmt sie sich die Zeit, die Schreihälse aus dem Treibsand der Aschenhausens heraus auf festen Boden zu sezen. Time is money!" Zeit ist Geld! Noch gebieterischer als Kinderstimmen rufen Blajebalg, Hammer und Amboß. *
Im„ Schwarzen Lande", dessen Zentrum Cradley Heath bildet, wird der größte Teil der leichteren englischen Ketten gemacht. Diese Ketten werden von Frauen, Mädchen und Jungen so billig hergestellt, daß selbst eine rationell arbeitende elektrische Kettenschweißmaschine dem Unternehmer noch zu teuer fommt.