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Die Gleichheit
1910 eine Witwen- und Waisenversicherung mit den aus der Lex Trimborn fließenden Geldern aufbauen zu können, ist verflogen, das Geld, das wir für diese Versicherung zu haben glaubten, ist nicht da." Was nunmehr als Entwurf zur Hinterbliebenenversicherung vorliegt und noch diesen Winter zur Verhandlung kommen soll, ist ein Hohn auf eine wirkliche Witwenund Waisenversicherung. Denn um in den Besitz elender Bettelpfennige zu gelangen, muß eine Frau nicht nur verwitwet, sondern auch dauernd invalide sein. Invalide ist eine Witwe nach dem Gesetz erst dann, wenn sie nicht mehr imstande ist, ein Dritte! bessen zu erwerben, was förperlich und geistig gesunde weibliche Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in der gleichen Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen". Um aber überhaupt Anspruch auf die Invalidenrente machen zu können, muß der verstorbene Ehemann mindestens 200 Wochenbeiträge( Selbstversicherte 500 Wochenbeiträge) geleistet haben. Was in Zukunft Witwen- und Waisenrente genannt werden soll, bleibt hinter jeder städtischen Armen unterstützung weit zurück. Die höchste Rente für invalide Witwen, wenn der Mann 50 Jahre lang in der höchsten Lohntlasse versichert war, also bei einem Jahresarbeitsverdienst von über 1150 Mt., beträgt 170,40 mt. jährlich gleich 14,20 Mt. monatlich gleich 47% Pf. täglich. Aber diese„ Höhe" dürfte nur äußerst selten erreicht werden. Als Durchschnitt ist an= zunehmen, daß bei einem Jahresverdienst des verstorbenen Ghemannes von 850 bis 1150 M. und zehn Beitragsjahren die in= valide Witwe eine Rente von 92,40 Mt. jährlich gleich 7,70 Mt. monatlich gleich nicht ganz 26 Pf. täglich erhält. Die Waisenrente ist genau so erbärmlich, obwohl im Entrourf für sie ein möglichst hoher Betrag herausgerechnet wird. Es heißt da unter anderem: Hat der verstorbene Water volle 50 Jahre in der höchsten Lohnflaffe Beitrag geleistet, so erhält seine 15 Jahre alte Waije 85,20 Mark jährlich. Das heißt dem arbeitenden Wolfe Sand in die Augen streuen wollen. Wo wäre wohl in der Arbeiterklasse der Mann zu finden, der nach 50 Beitragsjahren, also in einem Alter von mindestens 66 Jahren noch unter 15 Jahre alte Waisen hinterläßt? In Wirklichkeit sieht die geplante Waisenrente so aus: In der niederften Lohntlaffe bei zehn Beitragsjahren des verstorbenen Vaters. erhält ein Kind 36 Mt. jährlich, die mittlere Durchschnittswaisenrente beträgt nach dem Entwurf bei 35 Beitragsjahren für eine Waise 58,80 Mt., bei zwei Waisen 89,40 Mt. und bei drei Waisen 120 Mt. jährlich. Bei sechs Kindern unter 15 Jahren stellt sich die denkbar höchste Rente auf 260 Mt. jährlich, das heißt für ein Kind auf 12 Pf. täglich. Mit diesen Bettelpfennigen ist es einer proletarischen Frau und Mutter ganz unmöglich, sich und ihre Kinder anständig durchzubringen. Sie ist gezwungen, ihren Haushalt und ihre Kinder zu vernachlässigen, um auf Erwerbsarbeit zu gehen. Die Kinder, sich selbst überlassen, müssen verivahrlofen. Schon heute erhebt die bürgerliche Gesellschaft ein großes Geschrei über die Zuchtlosigkeit der proletarischen Jugend. An dieser Verwahrlosung ist nach Auffassung dieser satten Bürger aber nicht etwa der die Familie zerstörende Kapitalismus schuld, sondern der Mangel an frommer und patriotischer Gesinnung. Wahrlich, die herrschende Klasse kann gar nicht besser zur Untergrabung dieser Gefühle beitragen als durch eine Gesetzgebung, wie sie hier für Witwen und Waisen geplant ist.
Jm April 1908 befanden sich 3652 Kinder der Stadt Berlin in Fürsorgeerziehung, von denen nur etwa 40 Prozent äußerlich nor= malen Verhältnissen entstammten. 104 Kinder waren Vollwaisen, 629 vaterlos, 515 mutterlos und von 488 ehelichen Nichtwaisen lebten die Eltern getrennt oder geschieden. Als Gründe für die Überweisung in Fürsorgeerziehung wurden angegeben bei 310 3öglingen mißliche häusliche Verhältnisse und bei 3821 Anlagen und Gewohnheiten der Kinder". Daß diese Anlagen und Gewohn heiten", soweit es sich wirklich um anormal Geborene, erblich Belastete handelt, wiederum Folgen der elenden wirtschaftlichen Verhältnisse mit ihren Folgen sind, daß diese Kinder weit mehr unter die Aufsicht eines Psychiaters, eines verständnisvollen Arztes überhaupt als in eine Zwangserziehungsanstalt gehören, ist zwar längst tlar. Da aber Arzt und Anstaltspflege infolge unserer göttlichen" Weltordnung nur von Wohlhabenden, nie aber von Besitzlosen bezahlt werden können, glauben viele proletarische Eltern ihrem Kinde Gutes zu erweisen, wenn sie Antrag auf Fürsorgeerziehung stellen. Nach all den Vorkommnissen der letzten Zeit, die in der„ Gleichheit" entsprechende Würdigung fanden und daher hier nicht wieder holt zu werden brauchen, können Eltern gar nicht dringend genug davor gewarnt werden, ihre Kinder freiwillig diesen Gefängnissen und Marteranstalten, genannt Fürsorgeerziehungsanstalten, auszuliefern. Soweit unter der Herrschaft des Kapitalismus der Verwahr losung der Jugend erfolgreich entgegengetreten werden kann, ist
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vor allem auch ein ausgiebiger Schutz der Witwen und Waisen durch die Gesellschaft ein wichtiges Mittel dazu. Er wird der Ver lotterung wirksamer vorbeugen als Traftätchen, Prügel und Ents rechtung der Jugend und andere ähnliche soziale Medikamente der bürgerlichen Gesellschaft. Die Sozialdemokratie hat zu der Witwen und Waisenversorgung Mindestforderungen aufgestellt, die in Form folgender Resolution in sämtlichen Versammlungen zum Ausdruck gebracht wurden:
" Die Versammelten erblicken in der Reichsversicherungsordnung ein reaktionäres, arbeiterfeindliches, knickeriges Bureaufratenflick werk, das nicht im entferntesten den Anforderungen einer einheitlichen, großzügigen Sozialgesetzgebung entspricht. Vor allem bleiben die Bestimmungen des Entwurfes der Hinterbliebenenversicherung weit hinter den berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft zurück. Als Minimum einer wirksamen Hinterbliebenenversicherung fordern die Versammelten:
1. Die Versicherungspflicht ist auszudehnen auf alle gegen Lohn oder Gehalt Beschäftigten und diesen sozial und wirtschaftlich gleichgestellten Personen, deren Jahresarbeitsverdienst 5000 Mt. nicht übersteigt.
2. Jede Beitragsklasse hat den vollen Jahresarbeitsverdienst des Versicherten zu erfassen. Die Zahl der Beitragsklassen ist entsprechend zu erhöhen.
3. Witwenrente ist allen Witwen der Versicherten zu gewähren in der Höhe von mindestens 20 Prozent des versicherten Jahresarbeitsverdienstes des Verstorbenen. Invaliden Witwen ist die Rente auf 33% Prozent zu erhöhen.
4. Für jedes hinterbliebene, unter 16 Jahre alte Kind ist eine Waisenrente ebenfalls in der Höhe von mindestens 20 Prozent des versicherten Jahresarbeitsverdienstes des Verstorbenen zu ge währen.
5. Bei mehreren Kindern findet die Gesamtrente ihre Grenze, sobald sie die Höhe von 100 Prozent des versicherten Jahres arbeitsverdienstes des Verstorbenen erreicht hat.
6. Uneheliche Kinder sind den ehelichen gleichzustellen. Den ehe lichen Müttern sind die Mütter unehelicher Kinder gleichzustellen, wenn deren Unterhalt größtenteils von dem Verstorbenen bestritten worden ist.
7. Den Hinterbliebenen eines Ausländers, die zur Zeit seines Todes im Inland nicht ihren gewöhnlichen Wohnsitz haben, steht ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente zu."
Diese Resolution fand einstimmige Annahme. Die zahlreichen neuen Mitglieder, die in den Versammlungen für die Wahlvereine gewonnen wurden, zeigen, daß die proletarischen Mütter den Wert der Organisation für ihre Interessen erkennen und einsehen, daß nur die Sozialdemokratie die Sache aller Unterdrückten, Entrechteten Mathilde Wurm . und Ausgebeuteten vertritt.
Aus der Bewegung.
Von der Agitation. In Nr. 8 der„ Gleichheit" fonnten wir von einer Reihe erfolgreicher Versammlungen in Mecklenburg berichten, und gleich zu Beginn des neuen Jahres waren bereits wiederum vier Genossinnen dort tätig, die insgesamt 54 Versamm lungen abhielten. Die Unterzeichnete sprach in Neubutow, Kröpelin , Doberan , Neustreliz, Gehlsdorf, Kessin, Rostock und Bühow. Alle Versammlungen waren gut, namentlich von Frauen besucht. In Rostock waren gegen 2000 Personen anwesend, und der Saal erwies sich als viel zu klein, um alle Erschienenen zu faffen; viele, sehr viele Frauen mußten wieder umfehren. Die Referentin sprach in allen Orten über„ Die Aufgaben der Frau bei den nächsten Reichstagswahlen". Die Versammlungen brachten der Parteiorganisation 115 neue Mitglieder, und außer dem wurden Leser für die„ Mecklenburgische Volkszeitung" und Mitglieder für die Landarbeiterorganisation gewonnen. In Neu strelitz gab es eine rege Debatte mit zwei Vertretern des Reichs verbandes, Herrn von der Decken und Herrn Landrichter Gund lach . Die zwei waren mit dem Handbuch des Reichsverbandes zur Bekämpfung der Sozialdemokratie bewaffnet, und bald mußte eine Außerung Liebknechts, bald ein Wort Bernsteins, bald ein aus dem Zusammenhang gerissener Satz der Referentin herhalten, um die Verderblichkeit der Sozialdemokratie zu beweisen. Es lohnte sich eigentlich faum, mit folchen Größen die Waffen zu freuzen, immerhin konnten wir als unmittelbaren Erfolg der Versammlung 16 neue Mitglieder für den Wahlverein buchen.
Am 6. Februar fand in Halberstadt und am 7. Februar in Aschersleben je eine gut besuchte Frauenversammlung statt. Die Unterzeichnete sprach in beiden Orten über„ Steuerbedrückung und