Nr. 11

Die Gleichheit

Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Umgehung der Gesetzesbestimmungen zum Schutze der Ar­beiterinnen, das ist für manche Arbeitgeber die Losung. Daß die Umgebung auch mit den schäbigsten Mitteln geschieht, haben wieder einmal zwei Verhandlungen vor dem Erfurter Schöffengericht be­wiesen. Am 13. Januar dieses Jahres hatten fich der Kaufmann Hermann Wendel und dessen Ehefrau Franziska Wendel aus Erfurt vor Gericht zu verantworten, weil sie die in ihrem Geschäft tätigen Puhmacherinnen an verschiedenen Sonnabenden noch nach 5 Ühr abends und an den Wochentagen länger als zehn Stunden beschäftigt hatten. Die Inhaberin des Geschäftes, Franziska Wendel, wurde zu 20 Mt. Geldstrafe verurteilt. Bereits einige Wochen vorher, am 25. November vorigen Jahres, war der Kaufmann Wilhelm Franz aus Erfurt , ebenfalls Besizer eines Puzgeschäftes, au 10 Mt. Geld­strafe verurteilt worden, weil er seine Arbeiterinnen an den Wochen­tagen zwei bis dreimal über die gesetzliche Arbeitszeit hinaus und Sonnabends fast regelmäßig bis 8 Uhr abends arbeiten ließ. Beide Firmen wandten denselben Kniff an, um den kümmerlichen Arbeite­rinnenschutz wirkungslos zu machen. Da das Gefeß es zuläßt, daß in Betrieben mit weniger als zehn Personen an sechzig Tagen im Jahre ohne die besondere Erlaubnis der Behörden über die gesetzliche Ar­beitszeit hinaus gearbeitet wird, die beiden Geschäftsinhaber aber je etf Personen beschäftigen, so nannten sie einfach zwei ihrer Ar­beiterinnen nicht Puhmacherinnen, sondern Direktricen". Mithin beschäftigte jedes dieser Geschäfte außer diesen beiden Direttricen" nur noch neun Puhmacherinnen. Doch vor Gericht wurde fest­gestellt, daß diese" Direktricen" in Wirklichkeit genau so arbeiten müssen wie die übrigen Putzmacherinnen und höchstens als Vorarbeite­rinnen angesehen werden könnten. Auch besteht kein großer Unter­schied in der Höhe des Lohnes zwischen einer solchen ,, Direttrice " und einer Puhmacherin. Letztere werden in Erfurt gegen festen Monats= John beschäftigt, und das macht es verständlich, daß die Geschäfts­inhaber bestrebt sind, durch möglichst viel überstunden aus der Arbeitskraft der Arbeiterinnen herauszuholen, was herauszuholen ist. In der Verhandlung gegen den Kaufmann Wilhelm Franz be fundete der Gewerbeinspektor Niemeyer, daß die Puhmacherinnen während der Saison bis zum höchsten Grade ausgenügt werden, um in der flauen Zeit ihre Entlassung zu erhalten. Herr Franz habe, indem er die zwei geschicktesten seiner elf Puhmacherinnen Direk tricen" nannte, das Gesetz umgehen wollen. Der Angeklagte Wendel meinte, seine" Direttricen" würden nur zu kleinen Abänderungs­arbeiten" herangezogen, die in einem abgetrennten Arbeitsraum vor­genommen werden, wo die beiden mit den anderen Buhmacherinnen nicht in Berührung kämen. Diese Arbeit sei also nicht als gewerb liche Arbeit anzusehen. Der Gewerbeinspektor erwiderte darauf, daß solche Abänderungsarbeiten, wie sie Herr Wendel geschildert habe, als gewerbliche Arbeit anzusehen seien, denn sonst würden sich die Geschäftsinhaber einfach Abänderungsstuben" einrichten und so das Gefeß umgehen. Solange nur Geldstrafen und dazu noch solch lächerlich niedrige über die Gesegesbetrüger verhängt werden, wird es sich unserer Meinung nach für die Unternehmer immer noch verlohnen, das Gesetz zu hintergehen. Was tut's, wenn fie die Straffumme riskieren? In ihrem Konto wird diese doch von dem Profit aus der gesetzwidrig geforderten Arbeit weit übertroffen,

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Frauenstimmrecht.

H. M.

Das Frauenwahlrecht für Elsaß- Lothringen war eine der Losungen, die gelegentlich der fraftvollen Rundgebungen für eine wirklich demokratische Verfassung der Reichslande Anfang Januar ertönten. In den Demonstrationsversammlungen wurde die Forde­rung begründet, die auch in der allerersten angenommenen Reso­lution ihren Ausdruck sand. Die besonders imposante Demonstration in Mülhausen erreichte ihren Höhepunkt in einem Zug, in dem 20000 Personen marschierten. Hier wurden unter den Bannern usw. auch solche mitgeführt, die das Frauenwahlrecht proklamierten.

I. K. Ein bebentfamer Sieg der Sache des allgemeinen Wahlrechts aller Erwachsenen in England ist im Gegensatz zu der Forderung eines beschränkten Frauenwahlrechts auf der fechsten Jahreskonferenz der Women's Labour League( Liga für die Interessen der erwerbstätigen Frauen) erfochten worden. Der Konferenz, von der wir noch an anderer Stelle berichten, lagen zwei Resolutionen zur Wahlrechtsfrage vor. Die eine davon sprach fich für das Frauenwahlrecht überhaupt aus und forderte die Er­ledigung einer entsprechenden Bill noch in der laufenden Barlaments­feffion mit anderen Worten, sie erklärte sich für das Damen­wahlrecht. Die zweite heischte ausdrücklich das allgemeine Wahl­recht für alle erwachsenen Männer und Frauen, wollte diese Forde rung zu einem Gegenstand praktischer Betätigung gemacht wissen

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und ersuchte die Mitglieder der Arbeiterpartei, ihre ganze Macht für ihre baldige Verwirklichung einzusehen. Es kam zu sehr ein gehenden und lebhaften Debatten über die umstrittene Frage. Ge­nossin Harrison Bell begründete die Resolution zugunsten des allgemeinen Wahlrechts. Sie hob hervor, daß das in Aussicht ge­stellte beschränkte Frauenwahlrecht für die politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts nur geringen praktischen Wert habe. Worauf es ankomme, daß sei die wahrhaft demokratische Maßregel des Wahl rechts für alle erwachsenen Frauen und Männer. Jede Wahlrechts­reform müsse auch der politischen Rechtlosigkeit des weiblichen Ge­schlechts ein Ende machen. Für uns ist jede Reform unannehmbar, die noch mehr Männern, aber keiner Frau das Wahlrecht bringt." Genoffin Tomlinson unterstützte den Antrag, der von Genossin Robinson energisch bekämpft wurde. Diese vertrat den Stand­punkt bürgerlicher Frauenrechtelei zu der Frage. Das wichtigste ist ihrer Auffassung nach, daß zunächst die Schranken fallen, die das weibliche Geschlecht vom Wahlrecht ausschließen. Die" Liga" müsse sich mit den Frauenorganisationen der ganzen Welt verbünden, die lediglich für die sofortige Einführung des Frauenwahlrechtes ein­treten, ohne zu fragen, ob es allgemein oder beschränkt sei. Besonders erfreulich und wichtig waren die Ausführungen von Genoffin Phillips und Dr. Bentham, die noch auf der Kopenhagener Konferenz das beschränkte Frauenwahlrecht verteidigt hatten. Die erstere erflärte, die Parlamentsverhandlungen über die sogenannte Versöhnungs­bill" hätten sie davon überzeugt, daß die bisherige Tattit im Kampfe für das Wahlrecht nicht mehr zeitgemäß sei. Wenn Lloyd George seine Gegnerschaft gegen die Bill damit rechtfertigte, daß sie un­demokratisch sei, so wäre es Zeit, daß die organisierten Frauen in der Liga und der Arbeiterpartei auf jeden Fall einen Schritt weiter in ihren Forderungen gingen. Genossin Dr. Bentham äußerte sich ähnlich. Sie meinte, noch vor einem Jahre würde sie für die Forderung des Frauenwahlrechtes allein gestimmt haben. Seither hätten jedoch die Ereignisse beweiskräftig dargetan, daß es eine Oberflächlichkeit sei, für irgend etwas weniger als das allgemeine Wahlrecht aller Erwachsenen zu arbeiten. Einen weiteren Gesichts­punkt zu dessen Gunsten machte auch Genoffin Ward geltend. Sie wies darauf hin, daß eine entsprechende Beschlußfassung der Liga" fich mit der Nesolution decke, die der Jahreskongreß der Arbeiter­partei" angenommen habe, der die Liga doch angegliedert sei. Die Abstimmung besiegelte den Umschwung, der sich in der Auffassung der englischen Genossinnen vollzogen hat, die der wichtigen Orga­nisation angehören. Der Antrag für das Frauenwahlrecht wurde mit 32 gegen 4 Stimmen abgelehnt, die Resolution für das all­gemeine Wahlrecht gelangte dann zur Annahme, ohne daß eine Stimme dagegen fiel. Dieser Ausgang der Verhandlungen wird ein einheitliches Zusammenarbeiten der englischen Genossinnen der verschiedenen Richtungen fördern.

Sozialistische Frauenbewegung im Ausland.

I. K. Die sechste Jahreskonferenz der Liga für die Juter­essen der erwerbstätigen Frauen in Großbritannien hat am 31. Januar in Leicester getagt. Der Jahresbericht der Organi sation meldet große Fortschritte der äußeren und inneren Entwick­lung. Die Liga hat an Ausdehnung und Ansehen gewonnen, ihre Tätigkeit war auf den verschiedensten Gebieten eine sehr rührige und erfolgreiche. Die Konferenz behandelte die- folgenden Fragen: Die Frauen und die Abrüstung; das Osborne- Urteil gegen die Aufwendung von Gewerkschaftsgeldern zu politischen Zwecken; die Ehe- und Scheidungsgesetzgebung; Arbeitsnachweise; die Wahl­rechtsfrage; Schülerspeisung, Kliniken und ärztliche Überwachung für Schulkinder; unentgeltliche Geburtshilfe, Altersrente, Frauen­arbeit im Postdienst usw. Wir werden in der nächsten Nummer noch ausführlich auf die Verhandlungen zurückkommen, bei denen eine Ehrung für unsere Genossin Ihrer die internationale Solis darität der englischen Genoffinnen belundete, wie auch die Sympathie, deren sich die Verstorbene dank ihrem Wirken im Ausland erfreute.

Fürsorge für Mutter und Kind.

Die Lebenskraft der Säuglinge. In Nr. 8 der Gleichheit" haben wir darauf hingewiesen, daß die Lebensaussichten des Neu­geborenen schlechter sind als die eines 5, 10 oder 15jährigen Kindes. Die bedeutende Höhe der Kinder- und Säuglingssterblichkeit ist aber keine natürliche Erscheinung, sondern die Folge der elenden sozialen Verhältnisse. So werden uneheliche Kinder durch die Not ihrer Mütter zahlreicher dahingerafft als eheliche. Und unter den ehelichen ist wieder die Sterblichkeit der Säuglinge begüterter Eltern geringer als bei Proletarierkindern. Man fann fich daher die Zahlen nicht feft genug einprägen, die ehern die Unnatur unserer Gesell­