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Die Gleichheit
Je idealer die Lehrerin ihren hohen Beruf im Dienste der Boltswohlfahrt auffaßt, je schmerzlicher fie die lähmende Unzulänglichkeit der heutigen Volksschule empfindet und je heißer ihr Streben ist, an der Hebung der Volkserziehung mitarbeiten zu dürfen, desto flarer muß ihr werden, daß sie sich politischen Einfluß erringen muß. Wie soll denn die Volksschule aus der Armenschule zu einer Pflegestätte wahrer Volksbildung werden, wenn die politische Macht der Volksfeinde nicht gebrochen wird? Wähler und Wählerinnen, Parlamente aus Männern und Frauen zusammengesetzt, müssen ihren Willen bei der Neugestaltung der Volksschule zum Ausdruck bringen, und die Volfserzieherinnen dürfen dabei nicht fehlen. Alle die materiellen und geistigen Nöte, von denen die Lehrerinnen bedrückt werden, sie sind ja nur Ingredienzien des heutigen unfreien Schulsystems, der bewußten Vernachlässigung der Voltsschule durch die Herrschenden. Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnen, das bedeutet neben vielem anderen auch: Beseitigung des Zwangszölibats, Abschaffung des religiösen Gewissenszwanges durch die Einführung der Weltlichkeit der Schule, Anbahnung eines besseren Verständnisses der Geschlechter durch Gemeinschaftserziehung, endlich die unentgeltliche Einheitsschule oder richtiger- als Krönung aller Reformbestrebungen- die allgemeine Bellsschule, die alle Bildungsstätten von den Elementarfächern bis zu den Leistungen der Hochschulen jeder Art organisch in Unterricht und Erziehung für die gesamte Nation umfaßt.
So ergeht auch an die Lehrerinnen in Stadt und Land der Ruf, dem Frauenwahlrecht auf demokratischer Basis den Boden bereiten zu helfen, nicht aus einseitigen und unfruchtbaren frauen rechtlerischen Gewägungen heraus, sondern fußend auf dem fest gegründeten Boden der eigenen mirtschaftlichen Selbständigkeit und durchdrungen von der überzeugung, duß das Interesse ihres Berufsgebiets, der Volkserziehung und damit der Zukunft des Bolles, jede Förderung des Kampfes für das Frauenwahlrecht von ihnen erheischt. 1. Kt.
Um Wissen und Bildung.
Aus Millionen sehnsuchtgepreßter Herzen ringt sich ein Schrei und steigt mit der brausenden Symphonie des Wahlrechtstampfes empor aus den Tiefen des sozialen Lebens. Der Schrei des schönheits- und wiffenedurstigen Proletariats nach den reichen Schäßen der Kultur, für die die Bienen der Gesellschaft seit Jahrtausenden die materiellen Bedingungen geschaffen haben, und die bis heute nur einem Häuflein übersättigter Drohnen zum gedankenlosen Genuß dienen. Noch stets haben jene Kasten und Klassen, die die wirtschaftliche und politische Macht in ihren Händen ver einigten, den unterdrückten Massen die Pforten des Wissens verschlossen gehalten, wohl erkennend, daß geistige Finsternis das festeste Vollwerk jeder materiellen Knechtung ist. Sie trachten auch heute noch, dem Volke die Morgenröte der neuen Zeit mit Purpurmänteln und mit dunklen Kutten zu verhängen, mit tückischer List und brutaler Gewalt suchen sie es an der bewußten selbsttätigen Gestaltung einer freien Zukunft zu hindern. Deshalb wehren sie sich mit Nägeln und Zähnen dagegen, dem aufstrebenden Proletariat die politischen Rechte als Waffen für den Klassenkampf in die Hände zu legen. Und es gilt ihnen als der Scheuel und Greuel größter, daß auch die Frauen dieser Klasse in wachsenden Massen heraustreten aus der dunklen und dumpfen Enge des Haussflaventums das ihrem Geiste die Schwingen brach, ihrem Charakter den Stempel des Kleinlichen aufdrückte- in den Lichtkreis des öffentlichen politischen Lebens. Denn diese Frauen kommen nicht als demütig Bittende, die um ein Gnadengeschenk winseln, sie kommen als truzig Fordernde, als Kämpferinnen für der Menschheit höchstes Recht: das Recht auf Wissen und Bildung. Eine neue fühnere Generation ersteht in diesem Geschlecht, die nicht länger als Paria darbend vor Den ernsten Tempeln der Wissenschaft, vor den sonnigen Blütenhainen der Kunst stehen will. Sie heischt das Recht auf volle Entfaltung aller Triebe und Fähigkeiten des Weibes, die Freiheit auf Betätigung seiner Persönlichkeit. In den Seelen dieses Frauengeschlechts glüht und bohrt das Verlangen, am
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kastalischen Duell sich zu lezen, Schönheit zu trinken und geistige Kraft, um wachsen und reifen zu können für die hohe Mission die das Weib als Mutter, als schmerzgeheiligte Trägerin der Zukunft zu erfüllen hat. Jahrtausendelang hat man den Frauen gepredigt, und ungeachtet der gewaltigen Revolution, die der Rapitalismus im Leben des weiblichen Geschlechts vollbracht hat, predigt man ihnen heute eifriger denn je, die Mutterschaft sei des Weibes einziger und heiligster Beruf. Nun wohl- auch diese fordernden und kämpfenden Frauen wollen Mütter sein, nur in einem unendlich tieferen, inhaltschwereren Sinne als die natterzüngigen Lobredner der herrschenden Klassen und die be schränkten Philifter es meinen. Nicht fuechtselige Schwächlinge wollen fie gebären und erziehen, die eine wohlfeile Herrenbeute- feige auf den Kampf um des Daseins Licht und Freude verzichten, sondern freie und starke Menschen, in deren Adern die Gluten des Lebens lohen, deren kühnem Forschergeist kein Himmel zu hoch und keine Hölle zu tief ist, Rebellen, die in stolzem Titanentro Blize vom Himmel reißen, um die Erde damit zu erhellen.
Solcher Kinder würdige Mütter zu werden, lehrend und lernend mit ihnen für höhere Ziele zu wachsen, das ist die schwere, gewaltige Sehnsucht, die in Tausenden Proletarierinnen den kraftvollen Willen gebiert zum Kampfe gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung und deren Sachwalter, den Klaffenstaat, der ihnen und ihren Kindern den Weg zu den Bildungsquellen verschließt. Sie heischen die politischen Rechte- das freie und gleiche Wahlrecht als wertvolle Mittel, den kulturellen Aufstieg ihrer Klasse zu beschleunigen, und nicht rasten werden sie, noch ruhen, bis sie den goldenen Schlüssel zum Reiche des freien Geistes, dem Reiche der Schönheit und des Wissens sich errungen haben. Berta Selinger.
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Aus der Bewegung.
Von der Agitation. Auf einer Agitationstour in Mecklenburg be handelte Genoffin Reichert- Berlin „ Die Reichstagswahlen und die Aufgaben der Frauen" in folgenden 15 Drten: Stargard , Staven, hagen , Neukalen , Dargun , Gülzow, Malchi, Teterow , Gnoien , Gr. Wodern, Güstrow , Ribniz, Leffin, Sülze , Sohwan und Laage . Außer Güstrow mit seinen 17 000 Einwohnern tragen alle diese Orte, die nur 2000 bis 4000 Einwohner haben, et ländliches Gepräge. Es sind meist Acerbürger, die sie bevölkern. Die Arbeiter der Gegend, welche die ganze Woche bei dem Gutsbesitzer oder in Ziegeleien fronden, find gezwungen, nach Feierabend und Sonntags ihr Stückchen gepachtetes Land zu bestellen. Mit dem fargen Lohne , den sie erhalten, wäre es ihnen nicht möglich, ihre Familie zu ernähren. Der Geist, der überall die Versammlungen beherrschte, ließ erkennen, welch lebhaftes Interesse die Arbeiterschaft Mecklenburgs dem behandelten Thema entgegenbringt. Bor allem die Landbewohner rückten in größeren Gruppen an; sie waren nicht selten zwei bis drei Stunden marschiert, um zur Versammlung zu kommen. Diese schwer arbeitenden Proletarier mußten die gleiche Entfernung wieder zurüdlegen; fie mußten außerdem in den Ber fammlungen meist stehen, weil die vorhandenen Stühle den Frauen überlassen wurden. Solche Umstände lassen erkennen, welch zäher Wille die doppelt gefnechteten Landproletarier beseelt, ihre Lage zu verbessern und abzurechnen mit der heutigen Mehrheit des Reichstags. So ist das Beste für die kommenden Reichstagswahlen zu hoffen. Die Versammlungen waren außer zweien alle überfüllt, dank der fleißigen Vorarbeit, welche die tätigen Genoffen überall geleistet hatten. In den einzelnen mecklenburgischen Orten find es noch wenig Genossen, die es wagen, öffentlich für die Partei zu wirken, weil die Arbeiter befürchten müssen, die Beschäftigung und damit ihr farges Brot zu verlieren. In einigen Orten hatte der Bertrauensmann mit seiner Frau ganz allein das Städtchen und zwei bis drei Dörfer mit Handzetteln belegen müssen. Die fleißige Arbeit war nicht vergeblich geschehen. Gegen 150 Mitglieder, davon 100 Frauen, und viele Abonnenten für unsere Presse wurden gewonnen. Der Erfolg zeigt, daß es auch in Mecklenburg sicher, wenn auch langfam vorwärts geht. Das Bedürfnis nach weiterer Aufflärung machte sich starf geltend. überall wurde der Wunsch ausgesprochen, es möchten öfter Vorträge gehalten werden, und fast immer waren es Frauen, die ihn äußerten, ein hocherfreuliches Zeichen für die Zukunft. Ganz besonders gut war Besuch und Verlauf der Berfammlungen in Gülzow und Gr. Wodern, zwei größeren Dörfern.