Nr. 13

Die Gleichheit

Weib, gegeben, will nicht, daß sie in irgend einem Individuum, noch viel weniger in einem ganzen Stand, verloren gehen, sondern in allem Volfe das Leben erhalten."

Eine Schülerin Pestalozzis war es denn auch, Rosette Rasthofer, die mit Feuereifer die Anschauung des großen Volks erziehers über die Stellung des weiblichen Geschlechts vertrat. In ihrer Eigenschaft als Leiterin eines Mädcheninstitutes in Yverdon ( 1809) verstand sie es, diese Überzeugung in Tat und Wort( Blicke in das Wesen der weiblichen Erziehung", 1828), vor allem aber in der Führung ihres eigenen Lebens zum schön­sten Ausdruck zu bringen. Sie bedauert es tief, daß den Frauen das Gebiet des Gemeinwohls verschlossen ist und ihr Sinnen nicht geweckt und geläutert wird zur Beteiligung an der Lösung ernster Kulturfragen. Sie erkennt mit zukunftklarem Blicke, daß mit der Organisation der Frauen eine Menge Kräfte freigelegt und fruchtbringend für die Menschheit werden.

Aber weder die französische Revolution( 1789 bis 1793), die ihren Donnerruf: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, in alle Welt hinaus erschallen ließ, noch unsere eigene Staatsumwälzung von 1848 haben vermocht, in den Schweizerfrauen jene revo­lutionäre Kraft auszulösen, die auf neue Wege, neue Lebens bahnen hindrängt. Es waren vielmehr drohende gesundheitliche Gefahren und Naturereignisse- das Näherrücken der asiatischen Cholera 1831 und die Wassersnöte in den inneren Kantonen 1839, welche für praktische soziale Hilfsarbeit eine Frauen vereinigung schufen, die allerdings äußerst lose war. Desgleichen traten in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts in der französischen Schweiz vereinzelte Frauenvereine auf zur Unterstützung armer Kranfer, verwahrloster Kinder und zur Ausbildung armer Mädchen, denen sich in den Städten Genf , Lausanne , Bern und Zürich weitere Gründungen zur Fürsorge für weibliche Gefangene anreihten. Mit der Ausge­staltung des schweizerischen Schulwesens auf kantonalem Boden in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erfuhren die Frauenbestrebungen vermehrte praktische Förderung auf den Gebieten des Handarbeitsunterrichtes und der Gemeinnüßigkeit ( Müttervereine der Urfantone).

Bu gleicher Zeit begann eine eifrige prinzipiell theoretische Erörterung der Frauenfrage von der Westschweiz aus, beein­flußt durch die damals vielgelesenen Romane der französischen Schriftstellerin George Sand , die mit glühender Begeisterung die Ideen der Befreiung der Frau in ihren persönlichen Be­ziehungen darlegte. Nunmehr traten die Frauen in der Öffent­lichkeit für ihre Rechte selbst ein. Die erste Vorkämpferin der Frauenbewegung in der Schweiz war Marie Gögg , die Grün­derin der internationalen Frauenvereinigung. Ihr schlossen sich andere an, auch Männer, die der Mitarbeit des weiblichen Ge­schlechts in den Verwaltungszweigen des Staates das Wort redeten, die Sitz und Stimme verlangten für die Frauen in den Schulpflegen. Ja, ein Mann, J. Binder in Zürich , ur­sprünglich dem Lehrerstand angehörend, forderte in Wort und Schrift das Stimmrecht der Frauen von Rechts und Staats wegen( siehe dessen Schriften aus den Jahren 1866 bis 1868).

Zwar vermochte im Kanton Zürich , der damals mehr wie heute an der Spike der politischen Bewegung in der Schweiz marschierte, die Frage der Einführung des Frauenstimmrechts in den sehr bewegten Zeiten der Verfassungsänderung( 1868 und 1869) feine hohen Wellen zu werfen. Sie wurde damals überhaupt nur wenig erörtert. Unter den 400 vom Volfe ein­gebrachten Petitionen stammten nur drei aus Frauenkreisen. Die eine, unterzeichnet mit: Mehrere Frauen aus dem Volke", verlangte Wahlberechtigung und Wahlfähigkeit für das weib­liche Geschlecht in allen sozialen und politischen Angelegenheiten und Beziehungen". Eine andere begehrte Ausdehnung des Stimmrechts auf die Bürgerinnen", und endlich die dritte wünschte Erteilung des Stimmrechts in Kirchen- und Schul­gemeindeversammlungen an das Frauengeschlecht".

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Nun trat ein langer Stillstand ein. Jahrzehnte hindurch fam die Frage nicht weiter. Die öffentliche Tätigkeit der Frauen beschränkte sich einzig wie im achtzehnten Jahrhundert auf die Wahl der Hebammen in der Frauengemeinde. Dagegen hat

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das Erwerbsleben der Frau in dieser Zeit eine bedeutende Er­weiterung erfahren und griff hinüber auf Arbeitszweige, die bislang der Mann allein beherrscht hatte. Seit 1870 verwendet der Bund im Verkehrsdienst auch Frauen, allerdings nur in untergeordneten Stellungen. Im Lehrerberuf amtet neben den Männern eine stetig wachsende Zahl von Lehrerinnen. 1878 machten im Kanton Zürich die Lehrerinnen 17, 1902 ½ der gesamten Lehrerschaft aus, und heute stellt sich die Verhältnis­zahl auf 1%. 1898 wurde im neuen zürcherischen Gesetz betreffend Zulassung zum Advokatenberuf auch den Frauen das Recht gewährt zur Übernahme von gerichtlichen Funktionen. Ebenso sind den Frauen einzelne Gebiete der eidgenössischen und kanto­nalen Verwaltung erschlossen. Durch Bundesbeschluß wurden 1895 der Mädchenfortbildungsschule drei Frauen als eidgenös­sische Expertinnen für hauswirtschaftliches Unterrichtswesen zu­gebilligt. Ablehnung erfuhr dagegen eine Eingabe, welche die Anstellung von Fabrikinspektorinnen forderte. Es hieß, das Postulat solle anläßlich der Revision des Fabrikgesetzes wieder aufgenommen werden. Damit wurde die Frage auf kantonalen Boden verwiesen, und es ist insofern ein Erfolg zu verzeichnen, als in Zürich und Basel je eine Gewerbeinspektorin seit einigen Jahren ihres Amtes waltet.

Gegen Ende des neunzehnten und zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts taucht indessen die Forderung des Frauenstimm rechts und der Wählbarkeit der Frauen bald da und dort im Schweizerland wieder auf. Einige Fortschritte wurden auf firch­lichem Gebiet errungen, so 1898 im Kanton Waadt , wo die Eglise libre "( Freie Kirche) den Frauen die Ausübung des passiven und aktiven Wahlrechts zuerkannte. Seither ist man in Neuenburg und Genf diesem Beispiel gefolgt. Im Jahre 1900 war es der gemeinnützige schweizerische Frauenverein, der an die Kantonsregierungen das Gesuch der Wählbarkeit der Frauen in Armen- und Waisenbehörden stellte. Im Zuteilungsgesetz ( betreffend Verwaltung) der Stadt Zürich , 1903, fand diese Forderung etwelche Berücksichtigung durch Zulassung der Frauen in Kommissionen der städtischen Schul- und Armenpflege. La Chaux- de- Fonds und Neuenburg gewährten hingegen den Frauen das aktive und passive Wahlrecht für diese Behörden. Gelegent­lich sind noch verschiedene Anläufe unternommen worden, den Einfluß der Frau besonders im Schulwesen zu fördern, jedoch ohne größere Erfolge. Bis auf den heutigen Tag konnte sich beispielsweise der Kanton Bern nicht dazu verstehen, die Wähl­barkeit der Frauen in die Schulbehörden zu gewähren, troh kräftiger Vorstöße von seiten der bernischen Frauenvereine.

Anders wie in der Westschweiz liegen die kirchlichen Ver­hältnisse in den Kantonen, wo die evangelische Kirche ausdrück­lich als Landes- beziehungsweise Staatskirche organisiert ist, wie in Zürich und Bern . Es wurde darum dem Begehren nach dem kirchlichen Frauenstimmrecht im Kanton Zürich 1902 keine Folge gegeben. Hier muß die Revision der kantonalen Gesetz­gebung vorausgehen. Dies ist num am 29. Januar 1911 im Kanton Zürich geschehen, nachdem zu wiederholten Malen Ein­gaben von seiten der Züricher Frauen um Gewährung der Wählbarkeit in die gewerblichen Schiedsgerichte, in das Schwur­gericht und andere Behörden dem Kantonsrat unterbreitet wor den waren. Zugleich mit der Annahme der Verfassungsände­rung brachte die Volksabstimmung über das Gesetz betreffend das Gerichtswesen die Wählbarkeit von Schweizerbürgerinnen als gewerbliche Schiedsrichter für die Stadt Zürich . Bereits im Jahre vorher, am 27. Februar 1910, hatte das Volk des Kantons Genf sich in bejahendem Sinne sowohl für die Wähl= barkeit der Frauen als auch für ihr Stimmrecht in bezug auf die gewerblichen Schiedsgerichte ausgesprochen.

Mehr und mehr schwinden die Vorurteile gegen die Be­tätigung des weiblichen Geschlechts in der Öffentlichkeit. Eifrige Aufklärungsarbeit und entschiedener Wille werden viel dazu beitragen, uns Frauen Schritt um Schritt dem Ziele der vollen staatsrechtlichen Gleichberechtigung näher zu bringen. Überall wächst die Frauenbewegung! Sie marschiert in allen Landen unaufhaltsam vorwärts. In unserer kleinen Schweiz wird es unter den Frauen mit jedem Tage lebendiger. Der 19. März.