Nr. 13

Die Gleichheit

Welchen sittlichen Gefahren sie durch die Erwerbsarbeit ausgesezt werden, zeigt der folgende Fall: Einer kleinen Konfektionswerkstätte stand ein Geschäftsführer vor, der vor einigen Jahren wegen Sitt­ lichkeitsverbrechen eine dreijährige Zuchthausstrafe verbüßt hat. Dem Gewerbeinspektor kam dies zur Kenntnis, als er eine Be­schwerde gegen den Mann verfolgte. Auf seine Veranlassung wurde daraufhin dem Geschäftsinhaber die Beschäftigung von Arbeite rinnen unter 18 Jahren durch eine polizeiliche Verfügung verboten, solange die Geschäftsführung in den Händen des Betreffenden blieb. Diesem selbst ward durch die untere Verwaltungsbehörde die Be­fugnis zum Halten und zur Anleitung von Lehrmädchen entzogen.

Die Anzahl der Konfektionsarbeiterinnen nahm in den Bezirken von Danzig , Berlin , Minden , Bielefeld , Köln und Koblenz zu, in Hannover und Marienwerder ab. Einen besonderen Aufschwung hat die Konfektionsindustrie im Danziger Bezirk genommen, wo die Vermehrung aller industriellen Betriebe und Arbeiterinnen fast ganz auf sie allein fiel. Die Nachfrage nach gelernten Konfektions­arbeiterinnen konnte in Berlin nicht immer gedeckt werden. In der Bielefelder Wäscheindustrie war sie so groß, daß einzelne Be triebsinhaber eine Belohnung von 3 Mt. denjenigen ihrer Arbeite­rinnen zahlten, die ihnen neue Arbeitskräfte zuführten.

Die Verstöße gegen die Arbeiterschutzvorschriften waren 1909 nach wie vor zahlreich. Wie könnte es auch anders sein bei der lächerlichen Geringfügigkeit der Strafen, die über die gesetzesüber­tretenden Unternehmer verhängt werden! Vom Standpunkt des Kapitalisten aus ist der Arbeitgeber doch ein Dummkopf, der, um einer Verurteilung zu ein paar Mark Strafe zu entgehen, einen Verstoß gegen die Arbeiterschutzbestimmungen unterläßt, welcher ihm einen vielfach so hohen Gewinn bringt, als die Strafe be trägt. Die Vorschriften zum Schuhe von Gesundheit und Leben der Arbeiter werden nur dann eingehalten werden, wenn jeder Ver­fioß gegen fie strengste Buße nach sich zieht. Begrüßenswert ist in dieser Hinsicht die Entscheidung des Landgerichtes in Lyck, das einen Unternehmer auf die Anzeige des Gewerbeinspektors hin zu 300 Mt. Geldstrafe verurteilte, in dessen Konfektionswerkstatt die Arbeiterinnen vor Uhr morgens und nach 10 Uhr abends, länger als 11 Stunden täglich, eine ganze Nacht hindurch und an Sonntagen beschäftigt worden waren. Der Staatsanwalt hatte 500 Mark Geldstrafe beantragt. Zur Zahlung dieser Summe wurde der Geschäftsführer eines großen Konfettions- und Ausstattungs­geschäftes im Aachener Bezirk verurteilt. Doch war sie bei weitem feine ausreichende Sühne, ihm hätte eine Gefängnisstrafe ge= bührt. Er hatte mehrere Arbeiterinnen an zwei aufeinanderfolgen­den Tagen bis 8 Uhr nachts beschäftigt und nach dreistündigen Ruhepaufen morgens um 6 Uhr wieder zur Arbeit herangezogen, so daß sie erst am Abend des dritten Tages um 8 Uhr nach Hause gehen konnten. Im gleichen Bezirk erhielt die Inhaberin eines Konfettionsgeschäftes wegen verbotener überarbeit Jugendlicher und erwachsener Arbeiterinnen eine Geldstrafe von 100 mt. Jedoch find Strafen in solcher Höhe Ausnahmen, wie die nachfolgenden Angaben bestätigen. In Berlin bestanden die meisten Zuwider­handlungen gegen die gesetzlichen Bestimmungen in der uner­laubten Verkürzung der Mittagspause und in Überschreitungen der zulässigen Arbeitszeit an den Vorabenden der Sonn- und Festtage wie auch an den übrigen Werktagen. Die deshalb ver hängten Strafen schwankten zwischen 3 und 200 Mt., gingen je­doch nur ausnahmsweise über den Betrag von 20 Mt. hinaus. Die Inhaberin einer Konfektionswerkstatt, die am Vorabend des Bußtages zwei erwachsene und eine jugendliche Arbeiterin nach 1/26 Uhr nachmittags beschäftigt hatte, ohne die Überarbeit der Erwachsenen auf der vorgeschriebenen Tafel zu verzeichnen, er hielt nach dem Antrag des Amtsanwaltes 10 Mt. Strafe, trotz­dem sie 1903 und 1905 in der gleichen Höhe vorbestraft worden war. Als strafmildernd wurde das Geständnis der Angeklagten und der Umstand angesehen, daß es sich um verhältnismäßig ein­fache Fälle handelte". Am gleichen Tage und unter denselben Ver hältnissen hatte die Inhaberin einer anderen Konfektionswerkstatt vier erwachsene und eine jugendliche Arbeiterin bis 6 Uhr be schäftigt. Auch sie war 1901 mit 10 Mt. und 1905 wegen genau derselben Vergehen mit 30 Mt. vorbestraft worden, aber sie kam ebenfalls mit einer Buße von 10 Mt. davon. Zu 25 Mt. verurteilte das Schöffengericht einen Arbeitgeber, der Arbeiterinnen bis nachts 3 Uhr und nach Abzug der Pausen 19% Stunden lang beschäftigt hatte. 10 Mt. wurden einem Werkstattinhaber auferlegt, der von feinen Arbeiterinnen wiederholt überarbeit hatte leisten lassen, ein­mal bis 12 Uhr nachte, ohne sie einzutragen. Zu diesen Urteilen bemerken die Berichte: Solche Beispiele für eine auffallend milde Beurteilung von zum Teil schweren Verstößen gegen die Arbeiter­schutzbestimmungen ließen sich noch in größerer Zahl nachweisen.

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Es ist daher auch wohl verständlich, daß einerseits die weniger ges wissenhaften Arbeitgeber sich durch derart geringfügige Strafen nicht zurückschrecken laffen, immer wieder den gesetzlichen Vorschriften zuwiderzuhandeln, und daß andererseits die Gewerbeaufsichtsbeamten sich zuweilen im Zweifel befinden, ob sich die Anzeige der fest­gestellten Verstöße und die häufig damit verbundenen Weiterungen überhaupt noch lohnen."

Nicht besser als in Berlin ist es in den anderen Bezirken. Der Königsberger Aufsichtsbeamte schreibt:" Vergehen gegen die gesetz lichen Bestimmungen wurden vornehmlich in Ziegeleien, Meiereien und in Konfektionswerkstätten zahlreich festgestellt und meist zur Bestrafung gebracht. Das gerichtliche Strafmaß blieb vielfach in den üblichen, verhältnismäßig niederen Grenzen." Im Posener Be zirk wurden Inhaber von Kleider- und Wäschekonfektionsgeschäften in 14 Fällen mit 1 bis 6 Mt. bestraft, weil Arbeitsbücher und Aushänge fehlten. 3 Mt. Strafe trug der Inhaberin einer Kon fektionsschneiderei im Breslauer Bezirk die Weigerung ein, das Verzeichnis der jugendlichen Arbeiter ordnungsgemäß zu führen. Der Bericht über den Bezirk Hildesheim bemerkt, daß in den Ge­schäften, die mit Läden verbunden sind, die Ruhezeit der Arbeite rinnen in steigendem Umfang beeinträchtigt wird. Die Arbeite rinnen wurden in diesen an Sonnabenden nach 5% Uhr und Sonns tags während der für das Handelsgewerbe freigegebenen Zeit als Berkäuferinnen beschäftigt. Ein Osnabrücker Pugatelier hielt die Arbeiterinnen an einem Sonnabend bis nachts 1212 Uhr zur Arbeit an. Die Inhaberin, die zudem die Überzeitarbeit nicht in das vor­geschriebene Verzeichnis eingetragen hatte, erhielt 20 Mt. Strafe. Wieviel aber mag sie durch ihre Gesezesübertretung verdient haben! Die Inhaber einer fabrikmäßig betriebenen Anlage der Konfektions­industrie in Düsseldorf mit 70 Arbeiterinnen hatten die einzelnen Abteilungen ihres Betriebs, wie Puhmacherei, Änderungsatelier, in getrennten Räumen untergebracht und hielten sich aus diesem Grunde für berechtigt, wie die Konfektionswerkstätten an 60 Tagen im Jahre ohne besondere Erlaubnis überarbeiten zu lassen. Das Strafverfahren führte in erster Instanz zur Freisprechung; die Strafkammer als Berufungsinstanz sah aber die einzelnen Ab­teilungen nicht als getrennte Betriebe, sondern die gesamte Anlage als Fabrik an und verurteilte die Inhaber wie die Abteilungsvor­steherinnen. Nach dem Schleswiger Bericht wurde der Juhaber der Anderstube eines Verkaufshauses für fertige Damenkonfektion in der Berufungsinstanz wegen Sonntagsbeschäftigung von Arbeite­rinnen in zwei Fällen zu je 5 Mt.(!), wegen Nachtbeschäftigung und Unterlassung einer polizeilichen Anzeige zu der gleichen Summe verurteilt.

Häufig wurden ungeeignete Arbeitsräume angetroffen. In Danzig erwiesen sich besonders die Arbeitsstuben der Zwischenmeister in hygienischer und sittlicher Hinsicht vielfach als recht mangelhaft. Die Arbeitsräume mehrerer Konfektionsbetriebe im Bezirk Minden waren namentlich während der Saison so überfüllt, daß auf die Person nur ein Luftraum von 5 Kubikmetern fiel. In einer Berliner Puhmacherei tamen 6 Rubikmeter auf die Arbeiterin. Erforderlich sind laut Bundesratsvorschrift für einen Gefangenen in Einzelhaft mindestens 22 Kubifmeter, für einen Gefangenen in gemeinsamer Haft mindestens 16 Rubikmeter. Die Arbeitsstube einer Blusen­näherei am gleichen Orte stand in unmittelbarer Verbindung mit einem Wohnraum, in dem drei an Influenza erkrankte Kinder lagen. Auch in Wiesbadener Konfektionsgeschäften wurden wieder holt Arbeitsräume angetroffen, die beanstandet werden mußten. Erfreulicher klingt eine Meldung des Stettiner Berichtes, nach der in zwei Konfektionswerkstätten die Gasplättöfen mit Dunstfängern oder Kästen versehen wurden, aus denen die Gase durch Rohre ins Freie entweichen.

Zu der Nichtachtung der gesetzlichen Bestimmungen und der Zn­fammenpferchung der Arbeiterinnen in ungefunden Arbeitsräumen tritt schlechte Bezahlung. Der Stundenlohn einer Konfettions arbeiterin in Halle a. d. S. erreichte in den meisten Geschäften nicht einmal eine Höhe von 10 Pf., so daß der Tagesverdienst bei zehnstündiger Arbeitszeit weniger als eine Mark betrug. Und bei solchem Einkommen wird den Arbeiterinnen noch Zufriedenheit gepredigt! Im Nürnberger Bezirk kam es vor, daß der Inhaber einer Konfektionswerkstätte seiner Arbeiterin den Lohn nicht in barem Gelde auszahlte, sondern in der Form von Kleidungsstücken, was ihm ein Strafverfahren zuzog, da derartige Zahlungsmethoden durch Gesetz verboten sind.

Von einer unerhörten Bevormundung der Arbeiterinnen meldet der Kölner Berichterstatter. Mehrere Unternehmer lassen dort den Lohn erst Montags auszahlen und geben als Grund an, daß die Arbeiterinnen wegen ihrer Vergnügungssucht" Montags öfter gav nicht zur Arbeit kämen. In der Puz- und Konfektionsinduſtrie