Nr. 16

Die Gleichheit

Eine derartige Ordnung der Dinge ist gewiß im höchsten Grade unvernünftig und ungerecht. Sie läßt sich nur erklären aus dem heuchlerischen Bestreben des Gesetzgebers, die Auf­deckung der Unehelichkeit eines Kindes möglichst zu verhüten. Gerechtfertigt aber ist sie damit keineswegs. Haben die Ehe­gatten ein Interesse daran, die Aufdeckung der Unehelichkeit eines Kindes zu verhüten, so wird ihnen dies auch bei freieren und vernünftigeren Vorschriften möglich sein; fehlt es aber an einem solchen Interesse der direkt Beteiligten, so ist nicht ein zusehen, warum nicht auch der Mutter das Recht zustehen sollte, die Ehelichkeit des von ihr geborenen Kindes anzufechten. Insbesondere mangelt jeder vernünftige Grund für den Aus­schluß dieses Rechtes dann, wenn der Ehemann mit der Schei dungs- oder Strafflage unzweidentig bekundet, daß er am Ver­tuschen kein Interesse hat. Ernst Oberholzer, Zürich .

Der forporative Arbeitsvertrag

im Spiegel der Statistik.

Der Geltungsbereich der forporativen Arbeitsverträge er­weitert sich von Jahr zu Jahr. Der Tarifvertrag wird mchr und mehr die einzige von den Arbeitern als zeitgemäß aner­fannte Form des Arbeitsvertrags; der Abschluß des Arbeits­vertrage zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem isolierten Unternehmer gilt heute schon in weiten Kreisen als rückständig.

Vom Standpunkt der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter­schaft ist diese Entwicklung zu begrüßen. Das Bestehen be stimmter Regeln über Arbeitszeit und Arbeitslohn usw., die für einen Industriezweig innerhalb eines genau abgegrenzten Wirtschaftsgebiets Geltung haben und von Arbeitern und Unter­nehmern anerkannt sind, ist unstreitig in verschiedenen Be­ziehungen vorteilhaft für die Arbeiter. Das Feilschen um den Preis der Arbeitskraft, die Lohndrückerei durch Arbeitsgenossen hört mit dem Inkrafttreten eines Tarifes auf. Besitzt zudem die Arbeiterschaft genaue Kenntnis der jeweiligen Lage auf dem Arbeitsmarkt, die den Gewerkschaftsmitgliedern in bestimmten Zeitabschnitten durch die Gewerkschaftsleitungen vermittelt werden follte, so ist der Arbeiter stets imstande, auf Grund der ver­einbarten Minimallöhne Lohnforderungen zu stellen, die mög­lichst über diese Löhne hinausgehen. Dadurch kann er zum Teil auch verhindern, daß der vereinbarte Minimallohn zum Normal­lohn wird, eine Befürchtung, die viele Arbeiter teilen. Von der größten Bedeutung ist der Tarifvertrag vor allem zur Zeit der Wirtschaftskrise für die Hochhaltung der Löhne; allerdings müssen in den Krisenzeiten die Gewerkschaften seine Respektierung besonders scharf überwachen.

Die Auffassung, daß das Eingehen von korporativen Ar­beitsverträgen durch die Gewerkschaften den Geist des Klaffen­tampfes in diesen Organisationen schwächen müsse, kann heute wohl nicht mehr ernsthaft vertreten werden. Eine gewisse Ruhe im Gewerbe" tritt selbstverständlich mit dem Abschluß eines Tarijes ein. Diese ist aber für die Entwicklung der Arbeiter bewegung keineswegs ungünstig, denn sie läßt der Arbeiterschaft. Zeit und Muße, sich im politischen Kampfe stärker zu betätigen und an ihrer geistigen Weiterbildung zu arbeiten. Es muß allerdings gefordert werden, daß die Verbände ihre Mitglieder in diesem Sinne erziehen und sie auf diese Pflichten gegen ihre Klasse und sich selbst hinweisen.

Neuerdings versucht nun das Unternehmertum, die Tarif­verträge so zu gestalten, daß sie aus einer Wohltat zu einer Fessel für die Arbeiter und ihre Organisationen werden. Die den Arbeitern vertraute Form soll einen Inhalt bekommen, der dem ursprünglichen Sinne der Tarifverträge geradezu wider spricht. Ein Tarifvertrag muß, um Gutes zu wirken, auf streng paritätischer Grundlage beruhen. Innerhalb seines Geltungs­bereichs müssen beide vertragschließenden Mächte, Arbeiter so wie Unternehmerorganisationen, die gleichen Rechte und Pflichten bei der Durchführung der festgesetzten Bestimmungen haben; in allen für diesen Zweck geschaffenen Institutionen müssen sie in gleicher Stärke vertreten sein und den gleichen Einfluß be

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fizzen. Das Unternehmertum verfolgt aber das Ziel, die for­porativen Arbeitsverträge zu einem neuen Mittel zur Aufrecht­erhaltung oder Wiederaufrichtung der Alleinherrschaft der Aus­beuter und ihrer Organisationen über wichtige Teile des Ar­beitsvertrags zu machen. Bei den Verhandlungen über die Tarife der Bauarbeiter im Frühjahr 1910, die zu der bekannten großen Aussperrung führten, ist dieses Sireben für jedermann flar zutage getreten. Über diesen Kampf, seine Entstehung und seinen Verlauf ist seinerzeit in der Gleichheit" ausführlich be­richtet worden. Der Angriff des Unternehmertums fonnte von den Bauarbeiterorganisationen wohl abgeschlagen werden, aber die Unternehmer haben trotzdem ihre Absichten feineswegs auf­gegeben. Und gerade im Baugewerbe rüstet man bereits wieder zu neuen Kämpfen: der Arbeitgeberbund für das Baugewerbe bemüht sich, eine Verschmelzung mit den Unternehmerverbänden der verwandten Berufe zustande zu bringen. Mit verstärkten Mitteln werden die Unternehmer zu gelegener Zeit losschlagen, um ihr Ziel zu erreichen, den Tarifvertrag zu einer Fessel für die Arbeiterorganisationen zu gestalten. Diese Bestrebungen, die feineswegs nur den Bauunternehmern eigen sind, bringen eine ständige Unruhe und Spannung in das gesamte Wirtschaftsleben.

Einem solchen Mißbrauch des an sich gesunden Gedankens des Tarifvertrags muß mit allen Mitteln entgegengearbeitet werden. Das kann auch geschehen durch Verbreitung von Auf­klärung über die Bedeutung, welche Tarifverträge, die diesen Namen verdienen, heute schon erlangt haben. Sie spiegelt sich unter anderem wider in der Ausdehmung des Geltungsgebiets der Tarife. Ausschluß über die weite Verbreitung der Tarif­vertragsidee gibt uns eine Statistik, die im Dezember 1910 im Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands " erschien. Einige Zahlen dieser Statistik mögen daher an dieser Stelle Naum finden. Daneben wollen wir ver­suchen, aus der Statistik einige Aufschlüsse über den Anteil der Arbeiterinnen an den Tarifen zu gewinnen.

Die Zusammenstellungen des Korrespondenzblatts" beruhen auf Erhebungen des Kaiserlichen Statistischen Amites. Diese Behörde richtete zuerst im Jahre 1903 Umfragen über die be­stehenden Tarifverträge an Arbeiter- und Unternehmerorganis sationen; weitere Ermittlungen folgten 1905 und 1906 und dann alljährlich bis zum Jahre 1909. 1903 wurden 882, 1905 1577 Verträge eingereicht und bearbeitet; für das letztgenannte Jahr wurde die Zahl der wirklich vorhandenen Tarife jedoch bereits auf 3000 geschäßt. Die Ergebnisse der offiziellen Erhebungen waren also recht lückenhaft; das gilt auch noch für 1906, wo nach dieser Statistik 1468 Tarife neu abgeschlossen wurden. Im Jahre 1907 entschloß sich das Statistische Amt erst, be­sondere Fragebogen auszugeben, eine Methode, die zu bedeutend besseren Ergebnissen führte als die einfache Aufforderung zur Einsendung der Verträge. Wieviel Verträge durch diese Um­fragen in den verschiedenen Jahren zur Kenntnis der Behörde gelangten, zeigt die folgende fleine Tabelle, die auch Ausschluß über die Anzahl der Betriebe und Personen gibt, für die die Tarife Geltung hatten.

1. Januar 1907. Ende 1907. Ende 1908. Ende 1909.

Bahl der

Bahl der Personen

Tarife

Betriebe

3564

97410

817445

4

5324

111050

974564

5671

120401

1026435

6578

137214

1107 478

Von diesen Ergebnissen müssen einige unvermeidliche Doppel­zählungen in Abzug gebracht werden. Und so schätzt denn das Korrespondenzblatt" die Summe der Personen, die 1907 zu tariflich geregelten Bedingungen arbeiteten, auf 950000. Bis 1909 steigerte sich diese Zahl auf 1020000. Wieviel Arbeite rinnen darunter sind, gibt die Statistik nicht an. Setzt man jedoch voraus, daß es hauptsächlich Mitglieder der freien Ges werkschaften sind, die im Geltungsbereich der Tarife arbeiten - und diese Voraussetzung ist feineswegs unberechtigt, wie wir noch sehen werden, so kann man daraus schließen, daß der