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Die Gleichheit

und sieben, Wohnung, Nahrung, Kleidung zu bestreiten und was sonst noch zu des Leibes und Geistes Notdurft gehört. Bon Pfennigrenten" reden also die aufgeklärten Proletarier mit gutem Recht.

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Nr. 18

nichten. Zunächst ist es nur ein winziger Bruchteil der ver­sorgungsbedürftigen Witwen, der Anspruch auf eine Rente erhält. Man schätzt, daß es in Deutschland   heute 2645 000 Witwen gibt. Viele Zehntausende gerade der Notleidenden von ihnen sind von vornherein von der staatlichen Fürsorge dadurch ausgeschlossen, daß die Invaliditätsversicherung nicht auch auf die Hausarbeiter und andere Schichten Nichtbesitzender ausge­dehnt worden ist. Und nach den Berechnungen der Regierung selbst werden nach langen Jahren nur 174564 von den 1269 600 Witwen der gegen Juvalidität versicherten Personen Renten­

Wie in der Kommission schon, so hat die sozialdemokratische Reichstagsfraktion auch in zweiter Lesung treu für die bitter nötige Erhöhung der Hinterbliebenenrenten gekämpft. Sie beantragte, daß die Witwenrente ein Drittel des Jahresarbeitsverdienstes betragen muß, den der Verunglückte hatte, daß die Rente für alle Hinterbliebenen zusammen diesen Jahresverdienst nicht über­steigen dürfe, und daß der Witwe im Falle der Wiederverenipfängerinnen sein. Denn nicht jede solche Witwe ist ohne heiratung eine Abfindung in der gleichen Höhe auszuzahlen sei. Genosse Kunert blieb mit seinen gehaltreichen scharfen Aus­führungen zur Begründung dieser Forderungen ein Prediger in der Wüste. Die bürgerlichen Parteien hielten sogar eine Be­mäntelung ihrer Arbeiterfeindschaft für überflüssigen Auswand. Sie stimmten die sozialdemokratischen Anträge einfach nieder. Und si..d es denn so wenige Proletarierinnen, die mit samt ihren Kindern schwarzem Elend ausgeliefert werden, wenn zu Nutz und Frommen des kapitalistischen   Mehrwerts der haupt­sächliche Ernährer der Familie von einer Maschine zerstückelt oder zerstampft wird oder vom Baugerüst herabstürzt? 1908 verzeichneten die gewerblichen und landwirtschaftlichen Berufs­genossenschaften zusammen 5903 Witwen und 12342 Waisen von tödlich Verunglückten, mithin mehr als 18000 Personen, über die jäh die Sturzwellen herzzerreißenden Leids und schwer ster Existenzsorgen hereinbrachen.

Freilich: das Bild des Jammers, das diese Ziffern ent­hüllen, verblaßt fast, wenn wir der vieltausendfach größeren Zahl der Witwen und Waisen gedenken, welche Proletarier unversorgt zurücklassen, von denen die allerwenigsten als Alters­rentner" sterben! Man befrage darüber die Statistit. Sie erhärtet, daß für die Arbeiter großer Berufsgebiete, daß für die meisten Arbeiter vorzeitige Invalidität mit vorzeitigem Tod endet. Allzu fühllos, unbarmherzig mahlen die Knochenmühlen der kapitalistischen   Ausbeutung, millionenköpfig ist das Heer proletarischer Witwen und Waisen, das die bürgerliche Ord­mung erstehen läßt. Es war das Schangericht der Reichsver ficherungsordnung, daß auch für diese Opfer gesorgt werden sollte. Fast zehn Jahre haben die Köche der Regierung und des Reichstags an diesem Schaugericht gekocht, und was ist's, das sie nun auf den Tisch der vielen setzen, die arm sein müssen, damit wenige reich, überreich sein können? Eine Bettelsuppe, die obendrein nicht einmal für alle langt, welche der Hunger zwingen könnte, das armselige Mahl hinterzuschlucken.

1902 brachte das Zentrum seinen Antrag zur Witwen- und Waisenversicherung ein, wahrhaftig nicht den Armsten der Armen zuliebe, sondern als Augenblender. Die Witwen- und Waisen versicherung sollte darüber hinwegtäuschen, daß das Zentrum fich auf die Bank der Zollräuber gesetzt und durch seine Zu stimmung zu dem Zolltarif den notwendigsten Lebensbedarf der werktätigen Massen in sträflicher Weise wucherisch verteuert hatte. Die Kosten der Versicherung sollten durch die Mehr­einnahmen des Reichs aus bestimmten erhöhten Zollsätzen ge­deckt werden. Schon bei der damaligen parlamentarischen Be­handlung des Antrags ließ das Zentrum in verdächtiger, kenn­zeichnender Art mit sich schachern. Es gab seinen Segen dazu, daß der Kreis der Zölle, die für die Witwen- und Waisen fürsorge in Betracht kamen, enger und enger gezogen wurde, mit anderen Worten: daß immer kleinere Summen dafür auf­gewendet werden sollten. Es ließ es geschehen, daß das Gesetz die Einführung der Versicherung erst auf das Jahr 1910 feft legte. Es sagte schließlich Ja und Amen dazu, daß die Reform durch ihre Verkoppelung mit der Reichsversicherungsordnung um weitere zwei Jahre bis 1912 verschleppt wurde. Die Regierung bedurfte eines Köders, der die unaufgeklärten Massen ihre Entrechtung in den Krankenkassen und andere Verschlechte­rungen der Versicherungsgesetzgebung noch schlucken läßt, mögen die Witwen und Waisen hungern!

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Entschädigen wenigstens die Wohltaten" der Reichsver­ficherungsordnung für die bösartige lange Nasführung? Mit

weiteres unterstüßungsberechtigt, wie der gesunde Menschen­verstand annehmen muß, wie die sozialen Verhältnisse es ge­bieterisch heischen. Mit einer Rente wird vielmehr nur die dauernd invalide Witwe bedacht, die außerstande ist, durch ihre Arbeit ein Drittel dessen zu verdienen, was förperlich und geistig gesunde Frauen ihrer Art mit ähnlicher Ausbildung in der gleichen Gegend erwerben können. Die Reichsversicherungs­ordnung geht nichtachtend an dem großen, schweren Pflichtkreis der Mutter vorüber, den doch sonst die" Gutgesinnten" mit breiter Rührseligkeit als den einzig wahren Beruf des Weibes preisen. Sie versagt Hilfe der Witwe, die diesen Pflichtfreis unter tausend Angsten und Schwierigkeiten erfüllt, und läßt sie durch die Not in die Fabrik und Werkstatt peitschen. Mögen die Kinder der Witwe sterben und verderben, das Kapital wird aus der Arbeit hungernder Witwen gleißende Zwanzigmark­stücke münzen!

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Wie tief aber wird das kapitalistische Deutschland   für die begnadeten Witwenrentnerinnen in die Tasche greifen? Vor den Augen der Massen hatten die Zentrümler und ihre Spieß­gesellen die Verheißung spiegeln lassen, daß von den Mehr­einnahmen des Reichs aus den erhöhten Getreidezöllen von 1906 bis 1910 rund 450 bis 500 Millionen Mark für die Witwenversicherung flüssig geworden seien. Jedoch siehe da: Als das Volk den Schaden besah, waren in der Reichsfasse nur ungefähr 56 Millionen Mark überschüsse. Die agrarische: t Schnapphähne Schnapphähne die katholischen wie die protestantischen hatten mit echt blaublütiger Noblesse mittels der Einfuhr­scheine das Reich um den Löwenanteil der erwarteten Mehr­einnahmen aus Getreidezöllen geprellt. Immerhin war berechnet worden, daß nach der Reichsversicherungsordnung schon 1912 die dauernd invalide Witwe vorausgesetzt, daß ihr Mann zehn Jahre lang geklebt hatte 20 Pf. Rente pro Tag ers halten sollte, für jede Waise wurde eine Tagesrente erwartet von 10 Pf. bei einem Kinde, 9 Pf. bei zwei und 8 Pf. bei drei Kindern. Das Einführungsgesetz zur Reichsversicherungs­ordnung bringt es fertig, sogar diese Bettelpfennige noch zu fürzen. Nach§ 59 dieses Gesetzes sollen für die Hinterbliebenen renten neben dem Reichszuschuß nur die Beiträge angerechnet werden, die nach dem 1. Januar 1912 geleistet sind. Da 200 bis 500 Wochenmarken geklebt sein müssen, damit der Anspruch auf Rente wirksam wird, so können die Witwen- und Waisen renten erst 1917 beziehungsweise 1924 die entsprechende Er­höhung erfahren. Bis dahin erhält die Witwe jährlich 50 Mr., das ist nicht ganz 14 Pf. täglich, die Waise gegen 7 Pf. Diese schamlose Verhöhnung der hilfsbedürftigen Witwen und Waisen wird aber noch durch eine direkte Beraubung übergipfelt. Das Einführungsgesetz nimmt den Frauen, Witwen, Waisen und Unfallrentnern das Recht auf Rückerstattung der Beiträge. 1912 würde eine Witwe und ihre Kinder zusammen 120 Mf. ver lieren, mithin mehr, als sie empfangen. Eine Art der Fürsorge, die der Wahnwitz gepaart mit dem Verbrechen ist.

Die Sozialdemokratie verteidigte auch in der zweiten Lesung das Recht dieser Witwen und Waisen. Genosse Leber wies eins leuchtend das schreiende Unrecht nach, nicht invalidcu, aber in­folge von Kindersegen erwerbsunfähigen Witwen die farge Rente vorzuenthalten; er befürwortete, bei Ablehnung dieses Antrags allen über 70 Jahre alten Witwen die Unterstützung zu gewähren. Wenigstens die eingeschränkte Gleichberechtigun zwischen ehelichen und unehelichen Waisen, wie sie die Unfall versicherung anerkennt, versuchte Genosse Molkenbuhr der Mehr­