276

Die Gleichheit

bitterer Erfahrung gewonnene Überzeugung, daß es so nicht weiter gehen kann. Zwar wird die sozialdemokratische Agi tation nicht ständig und planmäßig, vielmehr nur zeitweise be trieben, unter der Einwirkung eines besonderen Ereignisses, außerordentlicher Verhältnisse. Und bloß in seltenen Fällen führt sie zur Gründung einer Organisation, weil es in den ein zelnen Orten an proletarischen Elementen fehlt, die die Worte und den Einfluß des Agitators in Taten umfeßen können. Aber ein anregender, fruchtbarer geistiger Niederschlag bleibt trotzdem von jeder sozialdemokratischen Versammlung in den Herzen und Köpfen der Frauen zurück. Wenn Ausbeutung, unwürdige Be­handlung und Not gar zu toll werden, wenn der berüchtigte Tropfen den Eimer der Geduld endlich zum Überlaufen bringt, dann erinnern sich auch die Armsten unter den Armen, daß sie Menschen sind und Anforderungen an das Leben haben.

*

*

In einem kleinen Gebirgsort des grünen, poetischen Umbriens  - das den Vergnügungsreisenden besonders als Geburtsland des bedürfnislosen Francesco d'Assisi   bekannt ist, in Nocera Umbra  , spielt sich in aller Stille seit mehr als einem Monat ein Kampf ab, der viele typische Züge aufweist, wie wir sie furz stizziert haben. Das Örtchen ist der Sitz einer Minerals wasserindustrie, die dank ihrer Reklame den Fremden und Groß­städtern wohl bekannt ist. Die Vorzüge des reichlich sprudelu den natürlichen Mineralwassers werden durch eine chemische Beimischung die Geschäftsgeheimnis" ist noch gesteigert, Das Unternehmen Bisleri beschäftigt so gut wie die ganze nicht besitzende Bevölkerung der Gegend. Man braucht die Leute nur anzuschauen, ihre weffen Gesichter, die matten Blicke, die gebückten, ausgemergelten Gestalten, um zu wissen, wessen Sllaven fie find". In dem entlegenen Drte, wo es feine anderen Unternehmungen gibt, wird wird die Mineralwasser­industrie als ein Segen empfunden. Die ganze Bevölkerung fühlt sich von demjenigen abhängig, der als Ausbeuter dieser Industrie Verdienst und Brot schafft wie die bürgerliche Ökonomie erklärt. Trotz der außergewöhnlich hohen Reklame­ausgaben heimst dieser Herr jahraus jahrein gegen 130000 Mark Reingewinn ein. Seinen" Arbeitern zahlt er etwa 1,80 Mart pro Tag und den Frauen nicht mehr als 1 Mt. Um diesen Lohn zu verdienen, müssen die Lohnstlaven nicht nur zehn Stunden schwer schaffen, sondern auch noch zwei Stunden Hin und Rückweg zwischen Heim und Arbeitsstatt zurücklegen. Was fümmert das alles die Welt, und was fümmern Elend und Mühen der Proletarierin den Kapitalisten, der seinen Entbehrungslohn" einstreicht?

"

Eines Tages fällt es dem Inhaber der weltberühmten" Firma Bisleri ein, zwei bei ihm schaffenden Frauen brutal eine Änderung in der Arbeitsweise anzubefehlen. Nach einigen Stunden kehrt er an den gleichen Platz im Betrieb zurück und entläßt ohne weiteres zwei Arbeiterinnen wegen ihres Unge­horsams", die Arbeitsweise nicht, wie vorher verfügt, geändert zu haben. Der Herr nimmt sich nicht die Mühe, sich zu ver gewissern, ob die von ihm entlassenen Frauen auch wirklich die Arbeiterinnen sind, denen er seinen Befehl erteilt hat. Er bemerkt nicht, daß die skrupellos aufs Pflaster Geworfenen sich gar nicht eines Ungehorsams schuldig gemacht haben können, weil sie seinen Befehl überhaupt nicht gehört haben. Juzwischen ist nämlich Wechsel in der Arbeiterschicht eingetreten. Sämt liche Arbeiter und Arbeiterinnen fordern die Wiedereinstellung der zu Unrecht Entlassenen. Der Inhaber der Firma wie auch der Betriebsdirektor müssen zugeben, daß ein Irrtum, eine grobe Personenverwechslung vorliegt. Der Kapitalist besteht aber auf seinem Herreurecht, jede beliebige Arbeitskraft zu entlassen, ohne irgend einen Grund dafür angeben zu müssen. Und da die Arbeiterschaft diesen Herrenstandpuntt nicht anerkennen will und die Wiedereinstellung aller verlangt, so wird eine Aussperrung über sie verhängt.

Ohne irgendwelche materielle Unterstützung, trotz der wach senden Not und des nackten Hungers verharren die Proletarier von Nocera. Umbra bei ihrem Widerstand. Die Opferfreudig­keit und die Energie der Frauen, die im Kampfe vorausgehen,

Nr. 18

durch Wort und Beispiel die Männer anfeuern, sind bewun dernswert. Es gehört Heldenmut der Ausgebeuteten dazu, fich in der vorliegenden Situation gegen die Übermacht des einen Kapitalisten aufzulehnen, dessen Geldsack die Gegend beherrscht. Wie stolz und unbeugsam gerade die Frauen in dem schweren Kampfe aushalten, dafür ein Beispiel. Die eine der beiden Arbeiterinnen, die die Kapitalistenlaune arbeits- und brotlos gemacht hatte, obgleich die Frau schwanger war, kam in diesen Tagen nieder. Der Firmeninhaber, der schon früher versucht hatte, die entlaffenen Arbeiterinnen irgendwie durch Geld zu begütigen", ließ der jungen Mutter durch den Bischof 50 Lire senden. Die Genofsinnen tönnen sich leicht denken, was 50 Live für eine Frau bedeuten, die trotz der weit fortgeschrittenen Schwangerschaft noch zur Arbeit geht und im Augenblick der Niederkunft seit Wochen ohne Verdienst ist. Vielleicht die Mög lichkeit, das neugeborene Kind besser zu pflegen oder aber einen Teil der durch die Aussperrung verursachten Schulden zu be zahlen; die Aussicht, seit langer Zeit wieder einmal ohne nagende Sorgen zu schlafen.... Die junge Proletarierin befann sich trotz allem feinen Augenblick, fie wies das Geld zurück und rict dem geistlichen Abgefandten des Kapitalisten, nur ja schnell das Haus zu verlassen, denn: mein Mann und meine Brüder sind Sozialdemokraten und lassen sich solche Anerbieten nicht ge fallen." Das neugeborene Kind ist nicht getauft worden und soll Ferrer heißen. Als die Unterzeichnete über den Fall in der italienischen Parteipresse berichtete, erklärte der Kapitalmaguat von Nocera Umbra  , die Arbeiterinnen hätten doch keine in­tellektuelle" Arbeit zu verrichten und besäßen teine technische Vorbildung. Wie könnten sie daher ein Recht auf mehr Lohn haben! Die Geldsendung sei ein Att der Wohltätigkeit" der Firma gewesen. Herr Bisleri behauptete außerdem, die Ar beiterin habe lediglich das Geld zurückgewiesen, weil sie fürch tete, andernfalls verprügelt zu werden. Die beleidigte Prole tarierin protestierte in einem Telegramm an den Avanti" ener gisch gegen diese Behauptung und erklärte, sie habe ihre Würde und die Würde der Arbeiterschaft schüßen wollen. Als das fozialdemokratische Zentralorgan Herrn Bisleris weitere Ein­sendung nicht veröffentlichte und Partei für die Ausgesperrten ergriff, sandte der Kapitalgewaltige eine grobe Depesche und entzog dem Avanti" das ständige Reklameinferat, für das er ca. 1000 Lire jährlich zahlte. Ein Kommentar dieses Verhaltens ist überflüssig. In diesem Falle reden wieder einmal die Tat sachen davon, wo edler Stolz und schofle Niedertracht zu fin­den sind. Angelika Balabanoff.

Bürgerliche Reformversuche.

Bon Gertrud Hanna  .

Für den Verband für handwerksmäßige und fach­gewerbliche Ausbildung der Frau" macht seine Leiterin, Fräulein Lischnewska, in einer Broschüre erneut Propaganda. Sie ist betitelt: Die handwerksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau, ein Mahnwort au die deutsche Frauen­bewegung aller Stände". Schon einmal haben wir uns au dieser Stelle, in dem Bericht über die Gründungsversammlung des Verbandes( Gleichheit" Nr. 3 vom 8. November 1909), mit der Illusion auseinandergesetzt, von der diese Organisation lebt. Wir führten aus, daß eine handwerksmäßige Ausbildung, das heißt eine mehrjährige Lehre in einem handwerksmäßigen Be­trieb, nicht imstande ist, dem Lehrling eine durchgreifende fach­technische Berufsbildung für den modernen Produktionsprozeß zu verschaffen. Auf die Absolvierung einer solchen Lehrzeit scheint es aber gerade den Leitern des Verbandes für hand­werksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau vor allen Dingen anzukommen.

In dem Umstand, daß die erwerbstätigen Frauen und Mäd chen in der Regel ungelernte Arbeit verrichten, glaubt die Ver­

Dieser Artikel wurde geschrieben, ehe die letzte Generalversammlung des Verbandes stattgefunden hat. Raummangel verhinderte sein früheres Erscheinen.