Nr. 18

Die Gleichheit

fasserin der Broschüre den Schlüssel für die geringere Bewer tung und Entlohnung der weiblichen Arbeitskraft gefunden zu haben. Die rein mechanische Tätigkeit der ungelernten Arbeiterin erscheint ihr als das Hindernis für eine höhere soziale Wertung der Frauenarbeit. Wohl befürwortet Fräulein Lischnewska zu diesem Zwecke auch die Umgestaltung des Volksschul- sowie des Fortbildungs- und Fachschulunterrichts. Die Hauptsache bleibt ihr aber doch die Einführung einer mehrjährigen Lehrzeit für die Arbeiterinnen.

Weil die Berufszählung einen Rückgang der Zahl der weib lichen gelernten Arbeitskräfte nachweist, die ohnehin im Ver hältnis zur Gesamtarbeiterzahl schon so gering ist, wähnt sie, daß sich die Erwerbsverhältnisse der Arbeiterinnen immer mehr verschlechtern. Diese drohende Gefahr soll durch die Schaffung von Gelegenheiten beschworen werden, die es den Arbeiterinnen ermöglichen, sich als gelernte Arbeitskräfte auszubilden.

Nun fragt es sich aber, ob die moderne Produktion von der Tendenz beherrscht wird, mehr gelernte" weibliche Arbeits­fräfte zu verwenden, als ihr gegenwärtig zur Verfügung stehen. Dies muß verneint werden.

Im Jahre 1895 betrug der Prozentsatz der gelernten Ar­beiter 40,5 Prozent der Gesamtbeschäftigten, und derjenige der gelernten Arbeiterinnen 6,1 Prozent der weiblichen Arbeits­fräfte überhaupt; 1907 stellte er sich aber nur noch auf 38 Prozent bei den Männern und 5,8 Prozent bei den Frauen. Also nicht nur die Zahl der ungelernten Arbeiterinnen hat sich feit 1895 vergrößert, sondern auch die der ungelernten Arbeiter. Die Abnahme auch der gelernten Arbeiter muß um so mehr zu denken geben, weil in der Statistik als gelernte" Arbeiter Be­rufstätige aufgeführt und mitgezählt sind, die nicht als ge fernte" im allgemeinen Sinne angesprochen werden fönnen. Es handelt sich dabei um Arbeiter, die keine Gesellenprüfung ab gelegt, auch feine mehrjährige Lehre durchgemacht haben. In den Berufsgruppen Schuhmacherei, Metallverarbeitung, Holz verarbeitung usw. liegen in den modernen Großbetrieben eine Reihe von Teilarbeiten an den Maschinen ungelernten Arbeitern ob, die im handwerksmäßigen Kleinbetrieb durch gelernte Ar­beiter verrichtet werden. Die Statistik zählt aber diese Arbeiter der Großbetriebe ebenfalls zu den gelernten" Arbeitskräften. Und trozdem ein Zurückgehen ihrer Zahl.

12 Pfarrer Naumann ließ denn auch auf der Gründungsver­sammlung des Verbandes durch seine Vertreterin ausdrücklich erklären, er habe seine Mitwirkung in der Organisation davon abhängig gemacht, daß diese auch für die fachgewerbliche Aus bildung der Frau eintrete, und daß dies im Verbandstitel zum Ausdruck kommen müsse- ursprünglich war das Eintreten des Verbandes für die fachgewerbliche Ausbildung der Frau also nicht beabsichtigt. Pfarrer Naumann begründete sein Verlangen damit, daß die moderne Industrie nicht nur gelernte Arbeiter, sondern auch Hände" in großer Zahl zur Verrichtung rein mechanischer Tätigkeiten brauche. Die Zahl solcher Hände" wird sicher nicht geringer werden, sich vielmehr noch steigern, dafür sorgt die technische Entwicklung, die den Produktions­prozeß immer mehr vereinfacht, im Bunde mit dem unftillbaren fapitalistischen Profitbegehren, das nach billigsten Arbeitskräften lechzt. Die Zahl der bloßen Hände" wird sich auch dadurch nicht verringern lassen, daß dem Handwerk in größerer Zahl weibliche Lehrlinge zur Verfügung gestellt werden, die dort in mehrjähriger Lehre, aber jedenfalls nicht besser für ihren zu­fünftigen Beruf vorbereitet werden, als dies heute noch und trotz der vorgeschriebenen Gesellenprüfungen bei den männ lichen Lehrlingen der Fall ist.

Auch auf die Gestaltung der Lohnverhältnisse der Arbeite­rinnen werden absolvierte Lehrzeit und Gesellenprüfung keinen Einfluß ausüben. Der in der Broschüre angeführte Fall von der gelernten" Zurichterin, die in einem großen Atelier 3000 Mart Jahresgehait bezieht, während die ungelernte Arbeiterin für Zuricht und Hilfsarbeit in der Schneiderstube wöchentlich 12 Wit. erhält, wird auch dann Einzelfall bleiben, wenn die Arbeiterinnen allgemein ebenfalls eine mehrjährige Lehrzeit durch­machen müssen. Dasselbe ist zu sagen von dem als Beispiel

277

angezogenen gelernten Koch", der die Küche eines Hotels in Baden- Baden   leitet und jährlich 5000 bis 10000 Mt. verdient, während unsere Köchin", selbst wenn sie etwas fann, nur 300 Mark Lohn bekommt. Nicht der Nachweis einer Lehrzeit sichert den Arbeitern und Arbeiterinnen höheren Verdienst, sondern ein­mal das Verhältnis von Angebot und Nachfrage der Arbeits fräfte, und ferner die Machtstellung, in der die organisierten Berufstätigen dem Unternehmertum ihres Erwerbsgebiets gegen. überstehen. Wäre es anders, so könnte es nicht vorkommen, daß gelernte Arbeiter sich mit Wochenverdiensten von unter 20 Mt. begnügen müssen, während ungelernte Arbeiter und selbst Arbeiterinnen unter Umständen höhere Berdienste erzielen. So gut dotierte Stellungen wie die, von denen die Broschüre berichtet, werden in der kapitalistischen   Ordnung nach wie vor Einzelfälle bleiben, weil hoch bezahlte, besonders qualifizierte Direttricen und Küchenchefs nur in sehr beschränkter Zahl Ver wendung finden.

Der moderne Produktionsprozeß hat die Tendenz, eine immer weitergehende Teilung der Arbeit herbeizuführen und die ein zelnen notwendigen Verrichtungen immer mechanischer zu ge­stalten. Daß gerade Arbeiterinnen vorwiegend solche schema­tische, mechanische Arbeiten verrichten, rührt nach unserer Mei­nung davon her, daß die Tätigkeit der Frau in der gesellschaft lichen industriellen Produktion nicht so alt ist wie die der Männer, und daß sie zunächst in Berufen und Erwerbszweigen einsetzte, die entweder neu, also durch die moderne Technik geschaffen oder doch von ihr umgestaltet waren. Die kapitalistische Profit­sucht sorgte dafür, daß die technische Möglichkeit zur Verwen dung von Frauen in der Industrie einmal gegeben, eine Ver drängung der männlichen Arbeiter durch weibliche als Folge eintrat. Die Umwandlung des Arbeitsprozesses durch die tech­nischen Fortschritte, dank deren gelernte und muskelstarke Arbeit entbehrlich gemacht wurde, führte aber in der geltenden Wirt schaftsordnung allein schon zu einer Verschlechterung der bis dahin für die Arbeiter üblichen Arbeitsbedingungen. Die stei gende Verwendung billiger und verbilligender weiblicher Ar beitskräfte verschärfte noch die Tendenz zum Sinken der Löhne usw. Jedoch die Verhältnisse entwickelten sich nicht, ohne daß eine Gegentendenz auftrat. Die Verschlechterung der Arbeits­bedingungen gab den Anstoß zum Zusammenschluß der Ar beiter. Der Gedanke, daß gegen die Verschlechterung bestehender Verhältnisse durch gemeinsames Vorgehen Front gemacht wer den kann, setzt sich stets leichter durch als die Überzeugung, durch Zusammenschluß bessere Arbeitsbedingungen zu erringen. So wird es erklärlich, daß die großen neuzeitlichen Bestrebungen des Proletariats, daß die Gründungen von Arbeiterorganisa tionen von der Schicht der gelernten Arbeiter ausgegangen sind. Bestimmend dafür war auch noch, daß zur Zeit des Entstehens der Arbeiterorganisationen die große Masse der Arbeiter eben noch durch gelernte Arbeitskräfte gebildet wurde. Erst die Um­wälzung des Produktionsprozesses hat ja die Verwendung großer Massen ungelernter Arbeiter ermöglicht. Nun ist es gewiß richtig, daß rein mechanische Arbeit zur geistigen Degeneration führt, dagegen kann auch die mehrjährige Lehre nicht helfen, weil der Proletarier später sehr oft die erlernte Tätigkeit gar nicht aus­üben kann. Davon abgesehen, daß die technisch- wirtschaftliche Entwicklung ständig neue Produktionsmethoden schafft, erzeugt die kapitalistische Ordnung für den Arbeiter Lagen, Verdrängung durch billigere Arbeitskräfte, Krisen mit ihren Folgen usw., die ihn zwingen, zu mechanischer, ungelernter Erwerbstätigkeit über­zugehen. Hält man das alles fest, so zeigt sich, daß die Bro­schüre zu Unrecht behauptet, der Grund für die oben hervor gehobene Erscheinung liege darin, daß die mehrjährige Lehre den Menschen auch geistig höher hebe.

.

Daß heute noch die Arbeiter vielfach eine mehrjährige Lehre durchmachen müssen, geschieht nicht deshalb, weil der Produk­tionsprozeß in dieser Weise herangebildete Kräfte braucht. Es ist vielmehr die Folge davon, daß die bestehenden Zwangs innungen Gebilde, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen für das soziale Wirtschaftsleben keinerlei praktischen Wert mehr haben ihren Einfluß nach dieser Richtung geltend machen.